Nur Ruhe!
50 Jahre – ein halbes Jahrhundert! – sind im allgemeinen immer noch der größte Teil eines Menschenlebens, und es sind Jahrzehnte, in denen sich unendlich vieles grundlegend verändert. Dass man dennoch ein halbes Jahrhundert kontinuierlich Theaterarbeit im Dienste eines Dramatikers leisten kann, schiene unmöglich, wenn das nicht in Schwechat vorgelebt worden wäre. Zum 50. Mal finden heuer die Nestroy-Spiele statt, und von Tag 1 bis nun, seinem freiwilligen Rückzug, hat Peter Gruber das Unternehmen bestimmt, vom künstlerischen Konzept bis ins kleinste Detail der Regiearbeit. Im Buch der Rekorde, das diese Leitung verzeichnen muss, wird sich wenig Ähnliches finden.
Gruber und, seit Jahrzehnten, seine unverzichtbare Mitarbeiterin in der Organisation, Christl Bauer, konnten natürlich aus dem Vollen schöpfen, zumindest was die Vorlagen betraf: Wenn Johann Nestroy auch – viel gespielt nicht nur in Österreich – meist nur mit einem halben Dutzend seiner Stücke in den Spielplänen erscheint, so hat er doch über 70 geschrieben, bessere und schwächere, geniale und routinierte, stets von seinem Theaterverstand und seinem geniale, kritischen Geist gespeist.
Wenn man nun für das Finale der Ära Peter Gruber „Nur Ruhe!“ gewählt hat, findet man dafür wohl zwei Gründe. Erstens kann man dabei dem Genius Loci huldigen, nämlich dem Spielort, der Rothmühle in Rannersdorf , einem Gebäude mit wechselhaftem Schicksal, Barockschloßanlage, aber einst auch Mühle, auch einmal im Besitz der Gattin des berühmten Franz Anton Mesmer (Mozart war 1773 hier zu Gast), und, wie man erfährt, von 1920 bis 1935 eine Lederfabrik am Rand der Großstadt. Und der Herr von Schafgeist, der „Nur Ruhe!“ haben will, aber natürlich nicht findet, ist auch als Lederfabrikant reich geworden…
Ja, und „Nur Ruhe!“ mag sich auch darauf beziehen, dass Peter Gruber sich dergleichen nach einem mehr als arbeitsreichen Leben für seine Zukunft ersehnt – aber wird ihm das recht sein? „Gar ka Spur“, heißt es in einem Couplet des Stücks, das Gruber, wie immer, mit aktuellen Strophen bestückt und damit auch ein kleines bisschen auf sich selbst Bezug genommen hat, während die „zeitgenössischen Betrachtungen“ (die Nestroy auch immer angestellt hat) aus gegebenen Gründen heuer besonders düster ausfallen.
Im übrigen rangiert „Nur Ruhe!“, 1843 uraufgeführt, eines der wenigen Nestroy-Stücke, von dem man die Vorlage nicht kennt, im Mittelfeld seines Werks. Glänzend sind darin, wie immer bei ihm, die Charaktere gezeichnet, wobei man nicht eine einzige wirklich positive Figur finden wird (!), aber die galligen Erkenntnisse, die sich daran knüpfen, geben in der Handlung nicht viel mehr her als ein paar Intrigen, wobei – ein Grundthema bei Nestroy – alle (Frauen wie Männer) am liebsten reich heiraten wollen.
Peter Gruber hat Nestroys Stücke immer (und völlig legitim) auch optisch in unsere Zeit geholt und schärfend heraus gearbeitet, was uns an seinen Figuren und Konstellationen interessieren muss, wobei seine Bearbeitungen sprachlich und inhaltlich stets im Bereich des von Nestroy Vorgegebenem bleiben. Wenn er hier a priori eine Ausbeutergesellschaft darstellt, so merkt man das nicht zuletzt daran, wie die Arbeiter in der Lederfabrik allmorgendlich zum Mindestlohn rekrutiert werden. Und wenn sich die reichen Herrschaften (auch in der Bühnenkonstruktion in „wir da oben, ihr da unten“ geteilt) da tummeln, so sind die Arbeiter doch permanent da, auch wenn sie nur Lederstücke hin- und hertragen…
Der Herr Schafgeist, der Kapitalist, der ohne eigene Arbeit reich geworden ist (ein Werkführer zerfranst sich für ihn), will nun sein Leben, das ihn offenbar nie gefordert hat, durch wie ihm scheint wohl verdienten Ruhestand krönen – soll sein Neffe, der eine reiche Alte heiraten will, deren Geld der Firma gut tun wird, sich plagen. Dass dieser junge Mann gar nicht daran denkt, jemals für die Firma zu arbeiten (offenbar weiß er gar nicht, wie das geht), stellt sich so schnell heraus wie die natürliche Lustspielsituation, dass dem Mann, der Ruhe will, alle nur denkbaren unerwünschten Turbulenzen ins Haus stehen…
Schafgeist war nicht die Nestroy-Rolle, sondern die seines von der Optik her „gemütlichen“ Partners Wenzel Scholz. Nestroy hat sich selbst mit dem Rochus Dickfell eine seiner brillant unsympathischen Figuren auf den Leib geschrieben, wo das Wiener Wesen des Intrigieren und Schleimen, des Lügen und Betrügen fröhliche, geradezu genüssliche Urstände feiert. Eine Ziehtochter von Dickfell, die genau so ein Früchtchen ist wie der Ziehpapa, soll an denjenigen Mann verkippelt werden, der die reichste Partie zu sein verspricht. Die bei Schafgeist wie Hornissen einfallende, arrogante, unverschämte Familie, die treffenderweise „Hornissl“ heißt, liefert dann das immer so sinnlose Handlungselement von der vertauschten Tochter, und was sich am Ende an Eheschließungen ergibt, ist keinesfalls beglückend.
So ein Stück ist nur von den Figuren her zu packen, und Peter Gruber hat das in der Ausstattung von Andrea Költringer (hölzernes Bühnengerüst, freche Kostüme) einmal auf den nötigen idealen Nestroy-Stil getrimmt – klare Sprache, präzise Pointen, fugenlos-geschmeidiger Ablauf. Und natürlich Darsteller von dem nötigen Format (wenn man bedenkt, dass dieses Unternehmen einst als „Laientheater“ begann! Aber in einem halben Jahrhundert kann man es schon zu Theater in Perfektion bringen …).
Alles dreht sich um Rochus Dickfell, und dass diese Rolle in diesem Schwechater Sommer von Christian Graf verkörpert wird, ist besonders wichtig. Erstens hat Graf hier einmal angefangen und dann eine bemerkenswerte Karriere an der Volksoper gemacht, wo er neben Robert Meyer zum zweitbeliebtesten Komiker aufstieg, mit jener Präzision und Pointensicherheit, die er bei Gruber gelernt hat. Und zweitens hat er das Unternehmen Nestroy-Spiel Schwechat von Peter Gruber übernommen und wird es ab nächstem Sommer fortführen (Eröffnungspremiere, wie man zugeflüstert bekam: „Eisenbahnheiraten“, eine starke Typenkomödie). Hier beweist Graf nun, nach langen Musical-Jahren an der Volksoper, welch glänzender Nestroy-Spieler er ist, wobei er jede Versuchung, die Rolle zu „schmieren“ (das kann man, prominente Kollegen haben es erfolgreich getan), verschmäht. Das ist der ganz normale miese Mann von der Straße, wie man ihn kennt, ohne dass er sich besonders „aufpudelt“, wie man in Wien sagt. Gewiß, es ginge auch dämonischer, aber es muss nicht sein. Auf solche Vordergründigkeit ist die Inszenierung nicht angelegt.
Es fällt auf, dass Gruber die Frauenfiguren so hart und schrill anpackt, wie Nestroy sie gemeint hat (von wegen: Er hat keine guten Frauenrollen geschrieben!) – sie alle genieren sich nicht, mit ihren Tricks und Drehs die Männerwelt auszuhebeln. Die Ziehtochter von Dickfell, die kein Theater scheut, um auf sich aufmerksam zu machen (Michelle Haydn), die Hornissl-Tochter, die spürbar macht, dass der scheinbare Gehorsam schlechtweg ein Trick ist (Rosa Wimmer), eine reiche Alte, die sich in bemerkenswerter, souveräner Gelassenheit nicht das Butter vom Brot nehmen lässt (Bella Rössler), eine kreischende, Aufmerksamkeit heischende Ehefrau (Ines Cihal) – sie alle exakt zwischen Klischee und dessen Durchleuchtung angesiedelt.
Mit Herrn von Schafgeist, den Rainer Doppler halb und halb gelegentlich sympathisch werden lässt, kann man Mitleid bekommen, wenn man sieht, was da so über ihn hereinbricht: Herr Hornissl, von Michael Scheidl fraglos als Nadelstreifen-Krimineller gespielt, dessen Neffe (köstllich: Florian Haslinger) die ganze Unverschämtheit des „spoiled brat“ auspackt. Aber auch um seinen eigenen Neffen (schön differenziert: Eric Lingens) muss man Schafgeist nicht beneiden, denn für ihn bedeutet die Fabrik, die man ihm übergibt, nicht Arbeit und Verantwortung, sondern einzig und allein das Machtspiel, sich über andere zu erheben. Etwa über den übereifrigen Werkführer (glänzend steif: Marc Illich), der zwischen Pflichtbewusstsein und Angeberei schwankt.
Unter der Masse der Darsteller seien noch ein „Syndicus“ (würdig in einer Nebenrolle: Franz Steiner), ein Altgesell (eine runde Figur: Robert Herret) und ein übereifriger Schreiber mit dem sprechenden Namen Klecks (immer köstlich: Erwin Leder) hervorgehoben. Die Musik spielt diesmal eine geringere Rolle, fügt sich aber mit Othmar Binder (geduckt am Keyboard) stimmungsvoll ins Geschehen.
Es war ein inhaltlich vielleicht schwacher, aber im übrigen ein goldrichtiger Nestroy. Wie man es von Schwechat gewöhnt ist. Man wird in der Rothmühle am 6. August die Ära Peter Gruber mit einem Fest würdig feiern und beenden. (Renate Wagner)
- Quelle: Online Merker