„Mit Gwalt muß der Mensch Melancholisch da werdn“
Raimund und Nestroy im kulturellen Gedächtnis
Jürgen Hein:
Raimund und Nestroy im kulturellen Gedächtnis
Das „kulturelle Gedächtnis“ nährt sich unter anderem von Gedenktagen und Gedenkjahren, und es erinnert an solche. Im Falle Raimunds und Nestroys ist 2005 kein Gedenkjahr – wie für Adalbert Stifter –, aber vielleicht doch, wenn mit den Feierlichkeiten zu 60 Jahre Kriegsende und „50 Jahre Staatsvertrag“ österreichische Identität, Kultur, Tradition und Geschichte vielerorts thematisiert werden, so auch in Schwechat bei den 31. Internationalen Nestroy-Gesprächen. Zudem können wir auf das Gedenkjahr 2006 vorausblicken: Raimunds 170. Todestag, Nestroys 205. Geburtstag und Mozarts 250. Geburtstag.
Der Ägyptologe Jan Assmann hat im Vorwort seiner Studie Das kulturelle Gedächtnis (4. Aufl., 2002) davon gesprochen, „dass wir eine Epochenschwelle überschreiten, in der mindestens drei Faktoren die Konjunktur des Gedächtnisthemas begründen“: die kulturelle Revolution durch die elektronischen Medien („künstliches Gedächtnis“), die Haltung einer „Nach-Kultur“ (George Steiner) gegenüber unserer eigenen kulturellen Tradition, die als etwas „Zu-Ende-Gekommenes“, als „Alt-Europa“ (Niklas Luhmann) begriffen wird, „allenfalls als Gegenstand der Erinnerung und kommentierender Aufarbeitung weiterlebt“, und drittens die Epochenschwelle der „kollektiven Erinnerung: wenn die lebendige Erinnerung vom Untergang bedroht und die Formen kultureller Erinnerung zum Problem werden“. Alles spreche dafür, daß sich um den Begriff der Erinnerung ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften aufbaut.
Jan Assmann unterscheidet vier Bereiche der „Außendimension“ des Gedächtnisses: 1. Das mimetische Gedächtnis, 2. Das Gedächtnis der Dinge, 3. das kommunikative Gedächtnis, und 4. das kulturelle Gedächtnis: die Überlieferung des Sinns. Letzteres bilde einen Raum, in den die übrigen Bereich – das Handeln, die Dingwelt, Sprache und Kommunikation – bruchlos übergehen. Das kulturelle Gedächtnis speise Tradition und Kommunikation, aber es gehe nicht darin auf.
Was bedeuten diese Überlegungen für das Theater als lebendiges „Archiv“, als Ort des inszenierten Gedächtnisses, der Wissensbewahrung und der Erinnerung? Wie kann das Performative bewahrt werden, gibt es ein theatrales Gedächtnis? Wie können Traditionsstrom und Traditionsbruch, Kanonisierung und Auslegungs- bzw. Inszenierungskultur begriffen werden?
Wie haben die „negativen Formen eines Vergessens durch Auslagerung und eines Verdrängens durch Manipulation, Zensur, Vernichtung, Umschreibung und Ersetzung“ (Assmann) die Rezeption Raimunds und Nestroys beeinflusst und beeinflussen sie weiter?
Über welches kulturelle Gedächtnis verfügten Raimund und Nestroy und welches strukturierten und ‚bedienten’ sie? Welche Formen von „Erinnern“ – auch an die Tradition – haben sie gewählt?
Neben und zusammen mit Repertoire und Spielpan der Bühnen sind Literatur- und Theatergeschichte auch eine Art Gedächtnisspeicher, „Magazine der Erinnerung“ – frei nach Weinberl in Einen Jux will er sich machen –, wobei es u.a. auch nicht uninteressant ist, die ‚norddeutsche’ mit der ‚innerösterreichischen’ Sicht auf Kanon und Autoren zu vergleichen.
Und noch zwei Lesefrüchte unter vielen anderen:
Klabund (Alfred Henschke) schreibt im 9. Kap. seiner Literaturgeschichte (1925): „[…] Von Österreich, dem deutschen Sprachgebiet an der Donau, haben wir seit der Zeit der Minnesänger wenig mehr gehört. Jetzt beginnt’s auch in und um Wien lebendig zu werden. Sie präferieren die bunte Gaudi der Romantik. Geister und Zwerge mitten zwischen den Menschen, das ist noch was, das laß, ich mir gefallen. Gehen Sie mir mit dem Wallenstein! Mit sowas haben wir Pech. Ein Geistertheater im Prater, das ist billiger, kostet kein Blut und unterhält und belehrt zugleich. Ferdinand Raimund (1790–1865[!]) schrieb den Wienern solch scharmantes Geistertheater: „Alpenkönig und Menschenfeind“. Und des klugen Sprachkünstlers Nestroy (1802–1862) Volksstücke! Das ist Österreichertum, herzlich und ironisch, von der besten Seite.“ […] (S. 745)
Ulrike Längle lässt in ihrem Roman Tynner (1996) einen Professor bei den Nestroy-Gesprächen in Schwechat auftreten: „[…] Jetzt aber wanderte Tynner wieder durch die nächtliche Wohnung. Auf dem Klo hatte er ein Buch über einen Professor aus dem achtzehnten Jahrhundert liegengelassen, in das er nun interessiert hineinblickte. Dieser Professor ging manchmal freiwillig ganze acht Tage nicht aus dem Haus, fühlte sich aber dabei sehr wohl. Wenn er es unter Zwang hätte tun müssen, wäre er bei einem Hausarrest von dieser Länge krank geworden. Diese Überlegung gefiel Tynner, schließlich zwang auch ihn niemand, so zu leben, wie er lebte.
In der nächsten Woche fuhr er auf eine Tagung über einen komischen Theaterdichter. Die Tagung gefiel ihm gut, es waren nur sehr viele Mücken anwesend, die während der Freilichtaufführung eines der Stücke dieses komischen Dichters das Publikum fast auffraßen. Es ging schon wieder um Liebes- und Heiratsverwirrungen, anscheinend ein unerschöpfliches Thema. Anschließend ging Tynner mit anderen Teilnehmern der Tagung in ein Chinarestaurant. Neben ihm saß eine langhaarige Brünette, ihm gegenüber eine unscheinbare Blondine jüngeren Alters. Die langhaarige Brünette hatte es endlich geschafft, einen Lehrstuhl an einer ostdeutschen Universität zu ergattern, nachdem sie sich jahrelang als freischaffende Germanistin durchs Leben gebracht hatte. Sie pflegte jedoch ein ausgefallenes Hobby: Als Tynner mit ihr ins Gespräch kam und ihr von seinem Pferd erzählte, erklärte sie plötzlich, wobei sie ihm tief in die Augen sah: ,Sie müssen nämlich wissen: ich bin Fatologin.‘ Tynner hatte den Eindruck, als ob sie ihm erklären wolle, sie lese aus dem Kaffeesatz oder lege Karten, aber dies war nicht der Fall. Die Dame interessierte sich für Schicksalsvorstellungen der Menschen in der Literatur von der Antike bis zur Gegenwart. ,Und, haben Sie schon etwas herausbekommen, über das Schicksal?‘ fragte Tynner. […]“
Martin Stern (Basel, CH):
Die Raimund- und Nestroy-Rezeption Hofmannsthals, mit einem Seitenblick auf Josef Nadler, Heinz Kindermann und Herbert Cysarz
In einem ersten Teil werden die Zeugnisse von Hofmannsthals Auseinandersetzung mit Person und Werk der beiden Theaterdichter, wie sie der Forschung bereits vorlagen, ergänzt. Der Schwerpunkt liegt auf Raimund. Nestroy wird von Hofmannsthal als scharfer Dialektiker studiert und gelobt, Raimund wird bearbeitet, vielfach gerühmt, ja verklärt. Diese Verklärung kulminiert in einer 1920 gedruckten Einleitung zu Raimunds Lebensdokumenten. Sie erweist sich als rückwärtsgewandte Utopie: Hofmannsthal, der nach dem Untergang der k.u.k. Monarchie unter Verlustängsten leidet, projiziert in die Gestalt, die Figuren und die Handlungsverläufe des Raimundschen Theaters sozusagen alles, was er in seiner Gegenwart vermisst: Form, Wahrhaftigkeit, Willen zur Harmonie, schichtübergreifende Gemeinschaft, „Ganzheit“. Den Leitbegriffen dieses Wunschkonglomerats wird im zweiten Teil nachgegangen. Den Leitbegriff des „Ganzen“ fand Hofmannsthal bei Goethe vorgegeben; er diente ihm vermutlich auch zur Abwehr eigener Bedrohungen: des Ichzerfalls und der solipsistischen Isolation. Der zweite, auf Raimund bezogene Hauptbegriff war für ihn dessen „Volkstümlichkeit“. Wie wichtig er als Maxime für Hofmannsthals eigene Produktivität war, zeigt sein Streben nach einem Ausbruch aus den bürgerlichen Theatern und nach Publikumserweiterungen, z.B. mit Jedermann und dem Großen Salzburger Welttheater. Im dritten Teil wird die Frage nach der Zugehörigkeit dieser Tendenzen und Begriffe zu einem spezifischen Epochendiskurs gestellt. Es ist der Diskurs einer biologistischen, vitalistischen Lebensphilosophie. Dabei fällt der Blick auf Josef Nadlers in vier Bänden von 1912–1928 erschienene Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, die Hofmannsthal enthusiastisch begrüsste und weiterempfahl. Sie war in deutlicher Weise Modell für seine Rezeption Raimunds, den er als Kind Wiens und eines noch intakten österreichischen Volksganzen verklärte. Sie verlieh aber auch ihm selbst ein neues Zugehörigkeitsgefühl – nämlich zur Tradition des bayerisch-österreichischen Barock –, das für ihn den Verlust der zerbrochenen gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen teilweise kompensierte und seinem Gesamtwerk einen (fiktiven) geistigen Ort anwies. Diese Notlösung verdankte er Nadler. Zwar erkannte er klar die deterministische Einseitigkeit des Nadlerschen Ansatzes, wie nachgelassene Notizen und Briefe zeigen. Er blieb Nadlers Theorie aber trotzdem treu, weil er sich durch sie erkannt und geborgen fühlte. Wie seine Rede Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation von 1927 schon mit dem Titel und ihrem ersten Satz andeutet, versuchte Hofmannsthal, diese Theorie quasi zu spiritualisieren – wie die Zukunft zeigte, vergeblich. Die Raimund-Deutungen von Herbert Cysarz und Heinz Kindermann liefern in den 40er Jahren Beispiele, wie Nadlers Volkstumsbegriff zu pseudometaphysischen, nationalistischen und „völkischen“ Irrwegen führte, für die aber Hofmannsthal nicht verantwortlich ist.
Urs Helmensdorfer (Zuoz, CH):
Der „Ausüber“ als Schöpfer
Wir lesen Tragödien, Komödien, Possen. Wir kümmern uns um die Handschriften, widmen ihnen Jahre unseres Lebens für einen nach unserm Dafürhalten besten Text. So Fritz Brukner, Eduard Castle und Franz Hadamowsky für Raimund; August Sauer und Reinhold Backmann für Grillparzer; Fritz Brukner, Otto Rommel, Adolf Hoffmann und das gute Dutzend Herausgeber der neuen (bald vollendeten) historisch-kritischen Ausgabe für Nestroy. In Angriff genommen ist jüngst auch eine neue Raimund-Edition.
Erfassen wir mit diesen Ausgaben Grillparzers, Nestroys, Raimunds Stücke ganz? Natürlich nicht. Wir bereinigen damit im Grunde lediglich Skizzen, deren Bestimmung es ist, von einer andern Hand ausgeführt zu werden. Die entsagungsvolle editorische Arbeit ist nicht wenig. Wertvoll für das ,kulturelle Gedächtnis‘ ist auch der umfängliche kommentierende Apparat. Indes, nur der eingefleischte Literat glaubt, in den Buchstaben eines Stücks schon das ganze zu haben. Thema des Referats ist die Frage: Was leisten eigentlich die Schwesterkünste im Kunstwerk Aufführung?
Der Beitrag versteht sich als Plädoyer für ein Autorrecht des ausübenden Künstlers.
W. Edgar Yates (Exeter, GB):
„… So arbeitete Carl!“ Nestroy im Jahr 1832
1831
23. August: „Der beliebte Komiker Hr. Nestroy wird noch im Laufe dieser Woche in Wien eintreffen. Er wird einen Cyclus von Gastrollen im k. k. priv. Theater an der Wien geben. Scholz und Carl – Nestroy, Hopp und Mad. Kneisel! Man sieht, für die Freunde lustiger Darstellungen sorgt das Theater an der Wien vollkommen.“ (Theaterzeitung)
25. August: Nestroy unterschreibt seinen ersten Vertrag mit Carl Carl, dem Direktor des Theaters an der Wien: Zur Monatsgage von 100 fl. C.M. als Schauspieler kommen zumindest eine „halbe Einnahme“ pro Jahr und das Spielhonorar hinzu (siehe Rommel, SW XV, 56).
30. August: Debüt im Theater an der Wien (u.a. in der Rolle des Sansquartier).
1. September – 8. Oktober: Erstes Gastspiel Raimunds in Hamburg
3. Oktober: Geburt von Nestroys und Marie Weilers Sohn Carl.
13. November – 10. Jänner 1832: Zweites Gastspiel Raimunds am Kgl. Hoftheater in München.
2. Dezember: Carl reicht das Manuskript von Nagerl und Handschuh der Zensur zur Bewilligung ein. (Der Zensor erteilt schon am 15. Dezember 1831 die Aufführungsbewilligung.)
1832
5. Jänner: Premiere des „historisch-pantomimischen Ballets“ Adelheid von Frankreich von Louis Henry (K. K. Hof-Theater nächst dem Kärntnerthore).
7. Februar: Nestroys erste Novität an der Wien, Der gefühlvolle Kerckermeister oder Adelheid, die verfolgte Wittib als Benefizvorstellung für Thekla Kneisel (Adelheid); Nestroy in der Rolle des Dalckopatscho, Sohn des Kerkermeisters Seelengutino (Carl). Eugen Eiserle berichtet: „Erwähnenswerth ist, daß am Tage der Vorstellung die General-Probe um 8 Uhr Früh begann, und um 3/4 6 Uhr Abends, als schon die Leute an der Kassa standen, der 3. Akt noch nicht probirt war. Kapellmeister Müller mußte sich mit dem Orchester in den Probesaal begeben, und konnte nur flüchtig den letzten Akt durchnehmen. Um 10 Uhr war die Vorstellung, vom günstig[s]ten Erfolge begleitet, zu Ende, nachdem weder Direktor Carl, noch Kapellmeister, noch Schauspieler und Musiker seit 14 Stunden das Theater verlassen hatten. So arbeitete Carl!“ (Der Zwischen-Akt, 2. Juni 1862)
9. Februar: „Das Stück betreffend ist es ist es in mehreren Szenen nicht allzu zart gehalten. Hr. Nestroi, der Verfassser, liebt das Grotesk-Komische, wovon auch seine komischen Rollen Zeugniß geben […]“ (Theaterzeitung, Nr. 29, S. 116).
29. Februar: Ignaz Kohlmann, Carl von Österreich, Theater an der Wien: Ein Lied „gesungen von hrn scholz […] text von hn nestroy“ erscheint als Nr. 237 von Diabellis Neuester Sammlung komischer Theater-Gesänge. Anzeige in der Wiener Zeitung: 17. März.
13. März: F. X. Told, Der Naturmensch, Theater an der Wien: Eine „ariette, gesungen von Mad: kneisel […] Text von Hrn Nestroy“ erscheint als Nr. 243 der Neuesten Sammlung komischer Theater-Gesänge. Anzeige in der Wiener Zeitung: 24. Mai.
23. März: Premiere der „Neuen Parodie eines schon oft parodirten Stoffes“ Nagerl und Handschuh oder Die Schicksale der Familie Maxenpfutsch: Thekla Kneisel in der Aschenbrödel-Rolle (Rosa), Wenzel Scholz als Maxenpfutsch (Nestroys erste große Rolle für Scholz), Nestroy als Rampsamperl; es folgen bis zum 8. April fünfzehn weitere Vorstellungen en suite.
30. März: „Der Inspektionskommissär des Theaters a. d. Wien wird beauftragt strenge darauf zu achten, daß keiner der Schauspieler sich schmutzige Zoten und Zweideutigkeiten erlaube, sowie daß Direktor Carl persönlich für die genaue Handhabung dieses Verbotes nach den bestehenden Vorschriften verantwortlich zu machen sei.“ (Karl Glossy, Zur Geschichte der Theater Wiens, III (1831–1840), Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 30 (1930), S. 1–152; Zitat S. 72)
4. April – 12. Juni: Raimund: Gastspiel in Berlin (Königsstädtisches Theater).
27. April: Premiere des Zauberspiels Die Verbannung aus dem Zauberreiche (Neubearbeitung des im Dezember 1828 in Graz uraufgeführten Stückes Dreyßig Jahre aus dem Leben eines Lumpen).
2. Mai: Ferdinand Raimund lehnt in einem Brief an den Schauspieler Karl Ludolph dessen Bitte ab, Die gefesselte Phantasie als Benefiz im Theater an der Wien mit Nestroy als Nachtigall spielen zu dürfen:
„[…] Dann – habe ich allen Respekt vor HE Nestroi, wenn er auch gar keinen vor mir hat, aber wenn meine Stücke, so lange sie noch ungedruckt sind, an der Wien aufgeführt werden, so wünsche ich daß die Hauptrolle in meinem Geiste gegeben wird […].“
8. Mai: 2. Vertrag mit Carl Carl, gültig bis August 1835 (verschollen).
23. Mai: Premiere des Quodlibets Humoristische Eilwagen-Reise durch die Theaterwelt mit dem Vorspiel Der Theaterdiener, die Benefizvorstelung, und das Quodlibet; Zuschreibung an Nestroy zweifelhaft (vgl. Stücke 2, 459–462).
22. Juni: Uraufführung der Parodie Zampa der Tagdieb oder: Die Braut von Gyps; Nestroy in der Rolle des Paphnuzi de Salamucci, „Sohn eines sicilianischen Salami Fabrikanten“.
30. Juni: Der Sammler berichtet über Nestroys Spiel in Angelys Das Fest der Handwerker: „Das Schickliche und Decente findet überall seinen Platz, warum sollte es seit einiger Zeit auf dem Theater an der Wien ihn nicht mehr finden? Hat der Geschmack daselbst solche Richtung genommen, so ist es nur um desto mehr zu beklagen, und es ist nur zu fragen, wer ihm hier eine solche Richtung gegeben hat!“ (Nr. 78, S. 312)
9. Juli: Brief an Adolf Bäuerle: Nestroy reagiert auf eine Kritik in Bäuerles Theaterzeitung über eine Aufführung von Carl Meisls parodierender Posse Die schwarze Frau, bei der Marie Weiler mitgewirkt hatte, und bittet um eine Besprechung der bevorstehenden 24. Vorstellung von Nagerl und Handschuh: „[…] Hierauf könnte eine Erwähnung der Hauptrollen seyn, und dann darauf übergegangen werden, daß Dlle Weiler ihre schwierige Arie im 2ten Acte mit voller Reinheit und Sicherheit vortrug, und so wie immer in ihren Gesangsnummern vom Publicum mit lautem Beyfall belohnt wurde.“
14. Juli: In der Theaterzeitung (Nr. 140, S. 560) erscheint die von Nestroy gewünschte Kritik: „Dem. Weiler (Bella) […] trug im zweyten Akte ihre schwierige Arie mit voller Reinheit und Sicherheit vor, und wurde, wie immer in ihren Gesangsnummern, vom Publikum mit lautem Beyfalle belohnt.“
15. Juli: Brief an den Münchner Hofschauspieler Ferdinand Lang, einen Neffen von Margaretha Carl: „Indem ich Ihnen meinen verbindlichen Danck dafür abstatte, daß Sie so gütig waren meine Parodie „Nagerl und Handschuh“ der Direction des königlichen Hoftheaters in München anzuempfehlen, übersende ich Ihnen beyliegend Buch und Partitur hievon, zur gefälligen Überreichung. Meine Forderung in Rücksicht des Honorars ist für beydes zusammen 10 Louis d’or.“
28. Juli: Tod des langjährigen Hoftheatersekretärs Joseph Schreyvogel „an der Cholera oder an der Pensionirung“ (Bauernfeld, Tagebuch, 29.7.1832).
Sommer 1832: Entstehung von Treue und Flatterhaftigkeit, der zweiaktigen Vorstufe zu Der confuse Zauberer.
23. August: Auch die dreißigjährige Thekla Kneisel fällt den Folgen der Cholera zum Opfer: „(K. K. priv. Theater an der Wien.) Der Tod der verdienstvollen Mad. Thekla Kneisel […] welche nach überstandener Brechruhr ein Nervenfieber wegraffte, hat diesem Theater eine schwere Wunde beygebracht.“ (Der Sammler, 1. September 1832 [Nr. 105, S. 420]).
5. September – 22. Oktober: Raimund: zweites Gastspiel in Hamburg.
25. September: Benedikt von Püchler, Der Kirchtag in der Brigittenau im Jahre 1832 (Nestroy als Fiaker): Eine Liedeinlage, „fiaker-lied. gesungen von hrn nestroy […] text von j. nestroy“ erscheint im Druck als Nr. 253 der Neuesten Sammlung komischer Theater-Gesänge. Anzeige in der Wiener Zeitung: 1. August.
26. September 1832: Uraufführung des „Original Zauberspiels“ Der confuse Zauberer oder: Treue und Flatterhaftigkeit; Nestroy in der Rolle des Magiers Schmafu, Scholz als Confusius Stockisch.
Spätestens ab Oktober (vgl. Stücke 4, 456): Niederschrift der Zauberposse Genius, Schuster und Marqueur oder Die Pyramieden der Verzauberung. Das Titelblatt der Handschrift trägt den Jahresvermerk „1832“; das Stück gelangt zu Nestroys Lebzeiten nicht zur Aufführung.
20. Oktober: Uraufführung der „Original-Zauber Posse“ Die Zauberreise in die Ritterzeit, oder Die Übermüthigen, mit Nestroy in der Rolle des Simplicius Sapprawalt.
14. November: Der Vertrag vom 8. Mai wird auf weitere drei Jahre, d.i. bis 22. August 1838 „erneuert und verlängert“: Dem „Schauspieler und Sänger” Nestroy wird eine jährliche „GehaltsVermehrung“ zugesichert, Carl wird „das Recht eingeräumt, in einem jeden ContractJahre vom 23ten August 1832 bis 22ten August 1838 dem Hn. Nestroi einen Reiseurlaub von ein oder auch zwey Monaten anzuweisen“.
1833
[Jänner]: Niederschrift der „Faschings-Posse“ Der Feenball oder Tischler, Schneider, Schlosser, die z.T. auf Genius, Schuster und Marqueur zurückgeht und ebenfalls nicht zur Aufführung kommt, dafür aber als Vorstufe zu Nestroys nächstem Stück Der böse Geist Lumpacivagabundus dient (vgl. Stücke 5, 337–340).
1. Jänner – 14. April: Raimund: erstes Gastspiel im Theater in der Josefstadt.
11. April: Den Anschlagzettel für Lumpacivagundus lesend, sagt Raimund Eduard von Bauernfeld zufolge „So einen gemeinen Titel hätt’ ich nicht niederschreiben können!“ (Bauernfeld, Aus Alt- und Neu-Wien [1873], Kap. 3)
Sigurd Paul Scheichl (Innsbruck, A):
Schmafu und Schmamock, Sprachkomik als Mittel der Figurendarstellung in Der confuse Zauberer
Wie in anderen Stücken vor dem Lumpacivagabundus auch, legt Nestroy im Confusen Zauberer von 1832 so gut wie keinen Wert auf eine nachvollziehbare Psychologie der Figuren oder eine Motivation ihrer Handlungen. Selbst ihr Auftauchen und Verschwinden ist, wie im Fall der Melancholie und des Eigensinns, kaum motiviert. Im Fall des aus dem unvollständig erhaltenen Treue und Flatterhaftigkeit übernommenen Confusius Stockfisch hat Nestroy sogar eine im ersten Stück noch nachvollziehbare Motivation gestrichen.
Trotzdem ist der Confuse Zauberer zwar ein vermutlich schwer zu spielendes, jedoch eines der lustigsten Nestroy-Stücke – und das deshalb, weil der Autor hier mit einer selbst bei ihm seltenen Konsequenz radikalste Sprachkomik einsetzt (z. B. „dieser Teppich erinnert mich an den Ton ihrer Stimme“, II, 2).
Diesen Verzicht auf psychologische und von der Fabel bestimmte Motivation einer-, die Effekte der Sprachkomik andererseits möchte ich an einigen Beispielen, darunter Eigensinn und Benoit Comifo, vorstellen.
Fred Walla (Newcastle, AUS):
Zur Entstehung des „Confusen Zauberers“
Immer wieder wurde behauptet, Nestroy habe seine Stücke geschrieben, um dankbare Rollen für sich selber zu schaffen. Zumindest für die Grazer Zeit kann dies nicht das primäre Motiv gewesen sein. Es gab genug Rollen, die er sich erarbeiten musste oder hätte erarbeiten können. Schon die Tatsache, dass Nestroy um 1830/31 an einem Stoff aus der korsischen Geschichte (Prinz Friedrich) arbeitete, zeigt die Haltlosigkeit dieser Meinung auf. Schenkt man den Angaben Glossys Glauben, dann hat er noch 1836 versucht, das Stück zur Aufführung zu bringen.
Eher schon könnte man sagen, dass Nestroy an einer Karriere als Theaterdichter interessiert war, als solcher stellte er sich 1828 den Wienern mit zwei Stücken vor. Die erhaltene Fassung des Zauberspiels Der Tod am Hochzeitstag wurde eigens für Wien geschrieben. Nestroy wollte als Schauspieler und als Theaterdichter Anstellung finden. Das Stück ist im Stile, wenn auch nicht im Geiste Raimunds konzipiert.
Mehrere der frühen Stücke haben auch Bezüge zu Nestroys Biographie. Der Zettelträger Papp und 30 Jahre aus dem Leben eines Lumpen beschäftigen sich mit den Schattenseiten des Theatermilieus. Der Tod am Hochzeitstag aber greift die Problematik einer scheiternden Ehe auf. Darin ist unschwer Nestroys eigene Situation zu erkennen. Das Werk war wenig erfolgreich. Nestroy hat es später stufenweise zum Confusen Zauberer umgearbeitet, dabei die Kinderszenen aber weggelassen, verstärkt wurde hingegen die Triebhaftigkeit der Figuren.
Johann Hüttner (Wien, A):
Provinztheater der Habsburger Monarchie während der „Wanderjahre“ von Raimund und Nestroy
Struktur, Direktionsverhältnisse und eventuelle Verflechtungen dieser teilweise kaum dokumentierten Bühnen sollen aufgezeigt und in einen größeren Zusammenhang gestellt werden. Eine Rolle spielen auch Spielplan und Standing dieser Bühnen (Spezialisierung, Mehrsparten etc.).
Das Verhältnis zwischen Theatern in der Großstadt und in der Provinz soll grob dargestellt werden. In welcher Weise konnten letztere für die künstlerische Entwicklung junger Schauspieler förderlich sein bzw. als „Probebühnen“ dienen.
Zwar ist die Problematik bei Raimund und Nestroy zum Teil unterschiedlich, dennoch kann allgemein gefragt werden: Wie wird die künstlerische Entwicklung des jungen Raimund und des jungen Nestroy durch die Engagements in den Provinzbühnen geformt.
Einordnung in Rollenfächer und zunehmende Spezialisierung innerhalb derselben ist typisch für damalige Schauspieler. Wieweit kann aus der Perspektive der späteren Karrieren Raimunds und Nestroys, was Rollen und Spielstil betrifft, auf die frühen Zuordnungen rückprojiziert werden.
Weiters soll die Sogwirkung Wiens und hier des Theaters in der Josefstadt als Zwischenstation für die eigentlichen Zieltheater aufgezeigt werden.
Als Gegenposition soll kurz auf jene Theater eingegangen werden, welche später als Gastspielbühnen der arrivierten Schauspieler Raimund und Nestroy dienen sollten.
Raimund und Nestroy werden bald zu einem „Begriff“. Wie stellt sich das in der Presse dar bzw. wann und in welcher Weise nimmt die Presse davon Kenntnis?
Zum Problem der Quellen- und Forschungslage. Insbesondere im Zusammenhang mit dem frühen Raimund gibt es nur sehr magere Informationen, Anekdoten etc.
In welcher Weise bleiben die Künstler stärker durch Anekdoten im kulturellen Gedächtnis als durch ihr tatsächliches Wirken. Wie prägen vor allem die Provinztheater ein Bild, das auch auf die „reifen“ Künstlerpersönlichkeiten übertragen wird.
Horst Jarka (Missoula, USA):
Raimund und Nestroy für Papier- und Puppentheater
Ich beginne mit allgemeinen Bemerkungen zum Wesen und zur Geschichte des Papiertheaters als einer volkstümlichen Theaterform, die sich zur Zeit Raimunds und Nestroys großer Beliebtheit erfreute. „Neben reiner Unterhaltung als Zimmer- oder Tischtheater war der Bildungsaspekt des Papiertheaters nicht zu unterschätzen, da es nicht nur eine Einführung in das zeitgenössische Theater lieferte, sondern auch auf eine spätere Auseinandersetzung mit dem Inhalt der Stücke vorbereitete.“ (Herbert Zwieauer)
Von Raimunds Stücken sind Papiertheaterfassungen nur vom Alpenkönig und vom Verschwender erhalten. Von Nestroy traute man dem jungen Publikum nur Lumpazivagabundus zu – in einer entsprechenden „Bearbeitung.“
Für Erwachsene gab’s keinen Nestroy auf dem Papiertheater bis 2002, als das Wiener experimentelle Theater ohne Grenzen Talisman, Häuptling Abendwind und den Zerrissenen auf dem Papiertheater präsentierte.
Nachdem ich die Problematik aller dieser Fassungen andeute, sollen einige Bilder den ersten Teil des Referats abschließen.
Im Gegensatz zum zeitgebundenen Papiertheater ist das Puppentheater Jahrhunderte alt. Es fordert die Phantasie des Zuschauers in eigener Weise heraus und hat eigene Gesetze entwickelt. „Die Puppe wird lebendig, obwohl sie ein lebloses Objekt ist. Das Vergnügen des Zuschauers wächst beim Bewußtsein des Wechsels von Täuschung und Wirklichkeit.“ (Carl Schröder)
Puppenspiele für Erwachsene gab es bis Ende des 19. Jhdts., sind aber in Österreich im Gegensatz zum Papiertheater kaum nachzuweisen, da sie nicht gedruckt wurden. Aufführungen von Raimund und Nestroy konnte ich nicht finden, nur ein schwaches Echo in einem Berliner politischen Puppenspiel im Nachmärz.
Raimund auf der Puppenbühne wurde in der Nazizeit gespielt, in der das Puppentheater gefördert wurde. Der zum Reichtum verführte Bauer, der reumütig zur Scholle zurückkehrt, paßte ins politische Programm. In der DDR spielten die berühmten Hohnsteiner Puppenspieler den Bauer als Millionär, später auch in der Schweiz. Der Barometermacher auf der Zauberinsel folgte, wobei der beliebte Hohnsteiner Kasper den Quecksilber spielte.
Eine Szene eines Video des DDR-Bauern als Millionär ist vorgesehen und eine aus dem Häuptling Abendwind des Puppentheaters in Pilsen.
Abschließend will ich kurz über meine Experimente berichten, den Alpenkönig und den Zerrissenen mit amerikanischen Deutschstudenten mit Handpuppen aufzuführen.
Elke Brüns (Berlin, D):
Die beiden Nachtwandler oder Das Notwendige und das Überflüssige: Libidoökonomie und Mangelwirtschaft des ökonomischen Menschen
Der Beitrag will die Forderung Schmidt-Denglers aufgreifen, „den kulturhistorischen Stellenwert dieser Possen“ zu erschließen; dabei sei „über die Versuche“ hinauszugehen, „den Alltag des Vormärz und die Zeit unmittelbar nach 1848 wiedererkennen zu wollen“ (Schmidt-Dengler, 2001). In dem Stück Die beiden Nachtwandler oder das Notwendige und das Überflüssige von 1836 scheint es zunächst nur einmal mehr um die für Nestroys Werk so prominenten Themen ‚Heiraten‘ und ‚Geld‘ zu gehen. Doch handelt es sich hier nicht um den in Nestroys Stücken häufig durch die Göttin Fortuna bewirkten märchenhaften Wechsel von Armut zu Reichtum und die damit verbundenen emotionalen Verwicklungen, sondern um die im Handlungsgeschehen vollzogene Einübung in die seit dem 18. Jahrhundert etablierte bürgerliche Ökonomie.
Um den kulturhistorischen Stellenwert dieses Stückes zu erschließen, knüpft der Beitrag an ein Forschungsparadigma an, das sich aktuell unter dem Stichwort ‚Poetologien des Wissens‘ innerhalb der literaturwissenschaftlichen Forschung als Arbeitsgebiet zur Ökonomie und als textkonstitutiver Wissensformation etabliert (vgl. Vogl 1999). Im Fokus dieser Studien steht der homo oeconomicus (vgl. Blaschke 2004, Vogl 2004, Wegmann 2002, Pross 1997). Wie die richtungweisende Studie von Vogl Kalkül und Leidenschaft (2004) zeigen konnte, geht mit der Entstehung und Entwicklung des nationalökonomischen Denkens auch die Entstehung einer Libidoökonomie einher, deren Konstituenten der (ewig neu erzeugte) Mangel und das (immer erneut aufgeschobene) Begehren sind.
Nestroys Stück Die Nachtwandler stellt die Zeitdiagnose bereits im Titel: So galt es im neuen nationalökonomischen Diskurs, das Notwendige zu produzieren und zu konsumieren, dem Überflüssigen wurde — nicht zuletzt ein Relikt feudaler Wirtschaftsstrukturen — hingegen im Zeichen wirtschaftsrationaler Funktionalität der Kampf angesagt. Dem entsprach eine neue Regulierung und Steuerung der Affekte. Der Beitrag will zeigen, daß und wie die neue Ökonomie als Poetologie des Wissens die Handlung des Stückes prägt: Im Zentrum steht die Einübung des neuen wirtschaftsrationalen Handelns, das sich schlußendlich als Konflikt am Körper der Protagonisten abspielt.
Marc Lacheny (Paris, F):
Das „Dreigestirn” Grillparzer, Raimund, Nestroy
Einleitung: Bezieht man sich zuerst nur auf die Erscheinungszahl der Namen G., N. und R. in der „Fackel“, so ergibt sich daraus eine quantitative Hierarchie (N.›R.›G.). Nun fragt sich natürlich, ob dieser quantitativen Vorrangstellung Ns auf Kosten der beiden anderen Leitfiguren der österreichischen Literatur im 19. Jahrhundert eine qualitative Vorrangstellung entspricht. Mit anderen Worten: Welches kulturelle Gedächtnis des 19. Jahrhunderts in Österreich vermittelt uns Kraus mit seiner kritischen Rezeption von G., R. und N.? Das Referat setzt sich zum Ziel, (mit steter Berücksichtigung der Frage nach der literarisch-ästhetischen Wertung der 3 Autoren) Kraus’ eigenen Kampf gegen die Literaturgeschichtsschreibung seiner Zeit, der dieser ästhetischen Wertung zugrunde liegt, zu erhellen.
1. Raimund und Nestroy im Vergleich:
1.1. R. und N. als Leitfiguren des Altwiener Volkstheaters: Kraus nennt sie zuerst zusammen als die Hauptvertreter des österreichischen Theaters (mit Anzengruber).
1.2. Österreichtum und Deutschtum: Raimund und Nestroy: Bald kommt aber Kraus zu einer wesentlichen Unterscheidung zwischen beiden Autoren, indem er R. den „größten österreichischen Dichter“ nennt, N. hingegen den „geistvollsten deutschen Schriftsteller neben Lichtenberg“. Dabei erhebt Kraus die zentrale Frage nach der literarischen Bedeutung und dem literarischen Status der beiden = die Frage nach dem literarischen Wert von R. und N.
1.3.Kraus’ zweideutiges Raimund-Bild: Einerseits rückt K. R. in die Nähe Ns und liest seine Werke vor (auf der Bühne seines „Theaters der Dichtung“), andererseits aber bleibt er ziemlich still über R.: R. widmet er etwa – im Gegensatz zu N. („Nestroy und die Nachwelt“, „Nestroy und das Burgtheater“…) – keinen großen Essay; seinen spürbaren Respekt vor R. erklärt und rechtfertigt er nie wirklich, und seine Aussagen über ihn bleiben deswegen entweder allgemein oder sehr bruchstückhaft und ungenau. Außerdem liest K. R. bei weitem nicht so oft wie N. vor, der in seiner Rezeption Rs der absolute Maßstab bleibt, nach dem K. Rs literarische Bedeutung reduziert.
2. Grillparzer, Nestroy und die Klassiker-Frage:
1.1. Kraus’ (allgemeines) Urteil über G.: K’ allgemeinstes Urteil über G. beruht auf dem für K. zentralen Kriterium der Sprache. An Hand der Beispiele von „Medea“ und „Der Traum ein Leben“ kritisiert er gründlich die Qualität der Verse. Es handelt sich hier um eine sehr polemische Aussage über G., die an den Rest von K’ G.-Rezeption anknüpft.
1.2. Grillparzer, Nestroy und Raimund im Vergleich: K. arbeitet hier mit krassen Oppositionspaaren: Raimund vs Grillparzer = Echtheit vs ostentative Bildung; Nestroy vs Grillparzer = Überlegenheit Nestroys in jedem Bereich seiner literarischen Produktion. Hier ergreift K. eindeutig Partei für R. und (am radikalsten) für N., die als positive Gegenbeispiele G. gegenübergestellt werden.
1.3. Grillparzer, Nestroy und Anzengruber im Vergleich: An anderer Stelle wird Gs fehlende Schöpfungskraft als Dichter angegriffen, und bei dieser Gelegenheit assoziiert K. G. mit Anzengruber, um sie dem positiven Gegenbeispiel Nestroy besser gegenüberzustellen. (Man sieht, wie Nestroy der Maßstab der kritischen Rezeption sowohl Rs als auch Gs bleibt)
1.4. Der Gipfel der Opposition G.-N.: Die Klassiker-Frage: Es stellt sich hier die Frage nach dem Grund für K’ so feindselige Einstellung zu G. Wieder einmal benutzt K. seine satirische Gegenüberstellung G.–R., um die Frage der Klassikersuche zu beantworten: Gs Etablierung als „Klassiker“ durch die Literaturgeschichte sei aus dem „Bedürfnis Österreichs nach einem Klassiker“ entstanden, der in die Nähe Schillers und Goethes gerückt werden könnte. Aus diesem rein literaturgeschichtlichen Problem macht K. eine sowohl ästhetische als auch zutiefst politische Frage (Literarischer Anschluss der österreichischen Literatur an die deutsche Literatur).
3. Der Kern des Problems: Ursachen und Folgen solcher Wertungen:
3.1. Die Kraussche Nestroy-Rezeption und die Kanon-Frage: Aus dem eben Gesagten geht hervor, daß die polemische Herabsetzung Gs engstens verknüpft ist, ja einhergeht mit Ns literarischer Erhöhung zu einem Klassiker. In seiner Rezeption des Nestroyschen Werks insistiert K. ganz besonders auf dem Satiriker N.: Nicht unwichtig ist, daß K. in seiner Definition der Satire („Nestroy und die Nachwelt“) N. im Namen der deutschen Klassik (Schillers) rehabilitiert! Diese Erhöhung Ns zu einem deutschen Meister der Sprache und der Satire, zu einem universellen Autor (K. weigert sich z.B. in „Nestroy und das Burgtheater“ vehement, in N. einen lokal begrenzten Autor zu sehen) richtet sich ganz bewusst gegen eine Literaturgeschichte, die ihn der „Gemeinheit“ bezichtigt, ihn hochmütig als einen wienerischen Possenschreiber bezeichnet oder ihm Grillparzer vorzieht. Ferner geht es K. mit N. darum, die Satire als literarische Gattung in ihren Rechten zu rehabilitieren. Daß Nestroy jetzt nicht selten als „Klassiker“ bezeichnet wird, ist weitgehend auf K’ N.-Rezeption zurückzuführen.
3.2. Kraus’ Stellungnahmen zu G., N. und R. und ihre Verhältnisse: Die positive literarische Erhöhung Ns zu einem Klassiker der Weltliteratur und die negative Herabsetzung Gs sind m.E. ein direkter Ausdruck von K’ hartnäckigem Kampf gegen die Literaturgeschichte und die „hochnäsige Literaturkritik“ (das Wort ist von Kraus) seiner Zeit. Mit anderen Worten: über seine Kritik an G. hinweg greift K. die Literaturkritik prinzipiell, d.h. in ihrer ästhetischen Urteilskraft, an. K. schlägt mit seiner Rezeption von G., N. und R. einen neuen literarischen Kanon vor, der einen auffordert, die traditionellen Kategorien der Literaturgeschichtsschreibung bezüglich der literarischen Wertung neu zu überdenken: Mit N. werden Posse und Satire als literarische Gattungen rehabilitiert. Der von K. angebotene neue literarische Kanon widersetzt sich grundlegend sowohl dem GOTTSCHEDSCHEN Klassizismus und dessen Folgen (Die Literaturgeschichte im Gefolge von Gottsched konnte Nestroy tatsächlich nur als „gemeinen“, niederen Autor disqualifizieren) wie auch den Hauptvertretern der deutschen Literatur seiner Zeit (Gutzkow, Hebbel, Vischer…).
Schluss: K. vermittelt uns also eine Art von antikonventionellem, polemischem Anti-Kanon (oder: umgekehrtem Kanon): Als (deutscher) Satiriker ersten Ranges gehöre Nestroy ins Pantheon der deutschen Literatur, ja der Weltliteratur. Anders ausgedrückt: Aus dem „anti-kanonischen Nestroy“ (G. Stieg) macht Kraus einen großen Klassiker. Dabei führt er einen zentralen (historischen und) literarischen Paradigmenwechsel ein: Nestroy erscheint im Krausschen Kanon als ein deutscher Klassiker, Grillparzer wird von K. aus dieser Liste ausgeschlossen, während Raimund (als „österreichischer Dichter“) gleichsam aus der Debatte bleibt.
Arnold Klaffenböck (Strobl, A):
Ferdinand Raimund und das „Alt-Wiener-Antlitz“
„Dies wahre Wien des Lächelns und der Grazie ist längst nicht mehr, und nur noch die Idee der götterseligen Stadt schwebt über ihrem Grabe, verewigte Erinnerung, legendenhaft, von der nur mehr der Dichter träumt, verlorene Heimat, die im Schutt von heute liegt begraben.“ (Joseph August Lux, „Zwölf Wiener Elegien“, 1921)
Die Popularisierung der „Sehnsuchtslandschaft“ Alt-Wien als die Stadt des Biedermeier wurde (besonders stark vor und nach dem 1. Weltkrieg) im Bereich der Unterhaltungsliteratur betrieben. Es entstanden nachweisbar bis in die späten 1960er Jahre Romane und Novellen, die in erster Linie die unglückliche-tragische Beziehung zwischen Antonie Wagner und Ferdinand Raimund thematisieren. Anknüpfend an die so genannte „Raimund-Legende“ in der Nachfolge von Adolf Bäuerles Roman „Ferdinand Raimund“ (1855), schildern sie das Leben, Lieben und Leiden der beiden. Die Verfasser schreiben den Protagonisten Eigenschaften zu, die paradigmatisch für das vormärzliche Wien seien.
Neben Schubert und Grillparzer wird besonders gerne Raimund zur Symbolgestalt seiner Epoche stilisiert. Das Biedermeier, das die Autorinnen und Autoren als kulturelle Blütezeit, als ästhetisches und lebensanschauliches Ideal empfinden, beschränkt sich in der Trivialliteratur oft auf eine stimmungsvolle Kulisse, die aus Versatzstücken zusammengesetzt ist und darin genügt, Zeitkolorit zu vermitteln.
Die Annäherung an Raimund der überwiegend weiblichen Autoren erfolgt meist in einer Mischung aus Biographie und Fiktion. Bei der Darstellung der Konflikte Raimunds mit der Gesellschaft, den Frauen und den künstlerischen Idealen werden schließlich das Scheitern und die Motive zum Freitod ersichtlich. Gleichzeitig begeben sich die SchriftstellerInnen auf die Suche nach Identität und geistiger Heimat, die sie in „Alt-Wien“ zu finden hoffen.
Die Erzählwerke sind ungeachtet der Klischees und Stereotypen nicht zuletzt doch auch Gedächtnisplätze für Raimund, Nestroy und Wien. Anhand einiger Beispiele werden zentrale Aspekte und fixe Bilder vorgestellt, die sich – um es mit den Worten Leo Grünsteins zu formulieren – in einem literarischen „Alt-Wiener Antlitz“ verdichten, welches angeblich „die differenzierten Merkmale des Wienertums“ „in einem unverkennbaren, seltenen Extrakt“ repräsentiert. Dabei lässt sich zeigen, wie Raimund instrumentalisiert wurde, damit er als Projektionsfigur für Alt-Wien funktionierten konnte.
Klaus Kastberger (Wien, A):
200 Jahre Bosheit: Nestroy und Horváth – Ein forcierter Vergleich
Das Referat besteht aus zwei Teilen. Der erste beschäftigt sich mit der Frage, welchen Einfluß Nestroy auf das Werk Horváths konkret gehabt hat, der zweite untersucht anhand von einigen ausgewählten Passagen jenen spezifischen Tonfall sanftmütiger Bosheit, den es bei Nestroy wie Horváth gleichermaßen gibt:
„Man müßte ein Nestroy sein, um alldas definieren zu können, was einem undefiniert im Weg steht“ – dieser berühmte Satz entstammt einem Brief Horváths an Franz Theodor Csokor vom 23.3.1938. Ein Originaltyposkript des Schreibens hat sich nicht erhalten, und angesichts der insgesamt höchst unsicheren Quellenlage von Csokors Band Zeuge einer Zeit. Briefe einer Freundschaft müßte man vielleicht gar die Frage wagen, ob die Wendung im eigentlich nicht von Csokor selbst stammt. Eine ähnliche Formulierung taucht in einem von Csokor ebenfalls aus der Erinnerung rekonstruierten Schreiben schon einmal auf, nämlich in einem Brief vom 12.8.1933. Horváth hat sich knapp nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland ganz offenkundig mit Nestroy beschäftigt, unter anderem gab es den (dann auch tatsächlich in Angriff genommenen) Plan, das Stück Einen Jux will er sich machen für die nationalsozialistische Filmindustrie zu bearbeiten.
Ein Parallele in der Art und Weise, in der bei Nestroy und Horváth die Figuren sprechen, besteht vor allem dann, wenn die wirklichen bösen Kerls sanftmütig werden. Diese Melancholie der Mächtigen soll anhand einiger Beispiele (aus Nestroys Eulenspiegel und Horváths Kasimir und Karoline) vorgeführt und – wenn möglich – gegeneinander akzentuiert werden.
Bernhard Doppler (Berlin u. Paderbon, D):
Peter Handke als Rappelkopf. Zitate des Wiener Volkstheaters in den Dramen
Auf dem „Platz“, dem Schauplatz von Peter Handkes Die Stunde da wir nichts voneinander wussten huscht als „ein Spuk“ auch Papageno im Federkleid; Das Spiel vom Fragen hat Handke zunächst Raimund („für Ferdinand Raimund, Anton Tschechow, John Ford und all die anderen“) gewidmet und vor allem in der Uraufführungsinszenierung von Untertagblues am Berliner Ensemble 2004, bei dem Claus Peymann den Schimpftiraden-Monolog des U-Bahn fahrenden „Wilden Mannes“ als Besserungsstück und Feenmärchen inszenierte, sind die Bezüge zum Wiener Volkstheater, in dessen Tradition sich Handke stellen will, auffällig geworden. Solchen Zitaten wird neben Untertagblues vor allem in den in den 90-er Jahren am Burgtheater uraufgeführten Werken nachgegangen werden.
Rudi Schweikert (Mannheim, D):
Raimund und Nestroy bei Arno Schmidt
Die Texte des deutschen Schriftstellers Arno Schmidt (1914–1979) zeichnen sich durch einen ‚Dauerregen der Anspielungen’ aus, darunter insbesondere der Anspielungen auf Literarisches von fast jeder Art, ein ‚Dauerregen’, der im Verlauf der Werkentwicklung mehr und mehr an Intensität gewonnen hat und in der Literatur zumindest des zwanzigsten Jahrhunderts einzigartig dasteht.
Wie in diesem ‚Konzert der abertausend Stimmen’ Ferdinand Raimund und Johann Nestroy mitklingen, versucht der Vortrag zu vermitteln, einschließlich der Genese von Schmidts Aneignungsweise der Texte beider Autoren, soweit dies derzeit rekonstruierbar ist.
Franz Schüppen (Herne, D):
Das kulturelle Gedächtnis der Germanistik: Friedrich Sengles Sicht auf Raimund und Nestroy
Erweiterung des Nebeneinander der Stilebenen, die jeweils in sich unterschiedliche Niveaus haben können. In diesem Zusammenhang Nestroy als „Klassiker des niederen Stils“. Nebeneinander des Unterschiedlichen – Personen, Epochen, Formen, Philosophien usw. – als Vielfalt gedeutet. (Nestroy–Raimund; aber auch von „Tendenzen“, Nestroy als Voltairianer):
Verallgemeinerter Pluralismus gegen von Vorurteilen oder Absichten bestimmte Deutungen als Sachbezogenheit. Wahrheit als Methode und Kriterium, ggf. Wahrhaftigkeit oder Echtheit etc. mit vager Begrifflichkeit.
Methode: Beschreibung von Literatur als jeweils umfassend betrachteter Ganzheit von je vielerlei Einzelnem biographisch, sozial- und mentalitätengeschichtlich, in Sprach- und Formengeschichte eingebettet, zwecks Verwendbarkeit einer anschließend erheblich besser durchschauten Literatur wurde von Friedrich Sengle praktiziert bei grundsätzlicher Zurückweisung von äußeren historisierenden, ästhetisierenden und politisierenden ideologischen und so nur schematisierenden Deutungen. Es handelt sich um einen erzählend lesbar getönten realistischen Anthropologismus im Blick auf allgemeine Daseinsverbesserung. Dass Sengle noch der existentialistischen Epoche des Abendlandes angehörte, macht unmittelbare Einpassung in den herrschenden Strukturalismus auch bei ernsthaftem Bemühen und Blick auf produktive Leistungen heute nicht leicht, zumal antistrukturalistische Ansätze in seinem Antischematismus liegen, der Länge immer noch einfach auch gegen die angesichts von Überfüllegefühlen dringende Quantitätsabstinenz nicht setzt.