Nestroy-Gespräche 2007: Bericht

„… ’s kommt Alls auf a Gwohnheit nur an“
Raimund und Nestroy: Kanon, Kontext, Inszenierung

 

 

 

Die 33. Internationalen Nestroy-Gespräche auf Schloß Altkettenhof (Justiz-Bildungszentrum) widmeten sich dem Thema „Raimund und Nestroy: Kanon, Kontext, Inszenierung“.

W. Edgar Yates (Exeter, GB) skizzierte die unterschiedliche Bewertung in der Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte von Glück, Mißbrauch und Rückkehr oder Das Geheimnis des grauen Hauses (1838), das er als Schlüsselstück in Nestroys Entwicklung auf dem Weg zur klassischen Posse bezeichnete. [1] Zu Lebzeiten Nestroys gehörte es zu den meistgespielten Possen, das aber keine Aufnahme in den Nestroy-Kanon gefunden hat; ihm selbst wurde in der Rolle des Blasius Rohr – eine seiner Lieblingsrollen – ein Denkmal gesetzt. [2] Die Posse mit ihren spätromantischen und frührealistischen Zügen artikuliert u.a. Nestroys Misstrauen in den technischen Fortschritt, hier insbesondere die Einführung der Gasbeleuchtung mit ihren Gefahren. Yates stellte heraus, dass Nestroys Spiel entscheidend für den Erfolg war; nach seinem Tod fand das Stück wenig Interesse.

Peter Gruber (Wien, A) bot in der Schwechater Inszenierung von Das Geheimnis des grauen Hauses  (35. Nestroy-Spiele 2006) einen kaum veränderten oder aktualisierten Text, u.a. auch keine Zusatzstrophen zu den Couplets, die im übrigen ohne musikalische Begleitung geboten wurden. Die Kritik an biedermeierlichen Vorstellungen, Materialismus- und Fortschrittskritik, Stadt-Land-Opposition sowie die gesellschaftlichen Konstellationen der Posse kamen auch im 21. Jahrhundert an, wie die Aufführung eindrucksvoll belegte. Stellenweise war eine thematische und emotionale Nähe zu Ferdinand Raimund spürbar, dessen Verschwender (1834) und tragischer Tod (1836) zumindest dem zeitgenössischen Publikum noch im Gedächtnis war.

Martin Stern (Basel, CH) erläuterte in seinem Vortrag „Sowohl als auch. Über Nestroys Affinität zur Tragikomik“, warum die tragikomische Mischung die Publikumsgunst fand und welche gattungspoetologischen Überlegungen seit der Poetik der Aufklärung angestrengt wurden. [3] In einem knappen Dutzend der Nestroyschen Possen und deren räsonierenden Figuren fand er „leise Tragikomödien“ als „Subtext“; thematisch wird dies vor allem in der Infragestellung des Ehe-Begriffs (Dialektik von Glück und Unglück; Ehe als tragikomisches Verhängnis) akzentuiert. Auch Nestroys ‚ernste’ Rollen und der ‚ernste Nestroy’ wären für die weitere Diskussion in Betracht zu ziehen. [4]

Matthias Mansky (Wien, A) charakterisierte auf der Grundlage neuerer Forschungen Raimunds spezifische Durchdringung von Ernst und Komik in der Darstellung realer Lebensängste, die das biedermeierliche Klischee durchbricht. Ob Raimund mit den Erwartungen des Publikums spielte und ob seine Kontrastdramaturgie als „Schockdramaturgie“ im Sinne moderner Dramen interpretiert und der Autor als Vertreter einer „Vor-Avantgarde“ bezeichnet werden kann, blieb in der Diskussion offen. [5]

Auch Herbert Herzmann (Dublin, IRL) diskutierte in seinem Vortrag über „Nestroy als kritischer Realist“ den Aspekt Ernst und Komik, Nestroys Spiel mit Konventionen unter der Perspektive des „Körper als Text“-Diskurses und sah mit Erika Fischer-Lichte in seiner Komik die Rückkehr des Hanswurst, des „grotesken Leibs des Karnevals auf die Bühne", allerdings erfülle dieser „keine Entlastungsfunktion mehr, sondern eine Erkenntnisfunktion". [6] Die Provokation des Körperlichen, von der jungdeutschen Kritik (Karl Gutzkow, Friedrich Theodor Vischer u.a.) besonders negativ bewertet, könne als politischer Akt gesehen werden. Insbesondere bei den Ironiesignalen an das Publikum flössen die Gegensätze ineinander (Ich und Welt, Schein und Sein, Traum und Wirklichkeit, Lüge und Wahrheit, Natürlichkeit und Künstlichkeit).

Herwig Gottwald (Salzburg, A) zeigte, wie sich Adalbert Stifter (1805-1868) theoretisch (z.B. „Über Beziehung des Theaters zum Volke“, 1867) als auch literarisch (z.B. Nachsommer, Waldsteig, Nachkommenschaften) mit den Aufgaben und den Wirkungspotentialen des Theaters beschäftigte und dramatische Motive und theatrale Präsentation in erzählende Texte transformierte. [7] Er stellte biographische Züge und Stifters Arbeiten als Theaterkritiker heraus, der – wie viele seiner Zeitgenossen – den Niedergang der Bühnenkunst beklagte.

Till Gerrit Waidelich (Wien, A) wartete mit einigen interessanten Einblicken in die Briefe Konradin Kreutzers (1780-1849) auf, Wien und das Theater betreffend, darunter vor allem die Enteckung einer Kunstliedvariante des „Hobelliedes“ aus Raimunds Verschwender.

Weibliche Theaterdichter des Volkstheaters und produktive Partnerschaften sind immer noch ein Desiderat der Forschung. – Gunhild Oberzaucher-Schüller (Salzburg, A) erinnerte an Therese Krones (1801-1830), die vor allem durch Adolf Bäuerles Roman verklärte „Theaterkönigin Alt-Wiens“. [8] Ihr „romantisch-komisches“ Zauberspiel Sylphide, das Seefräulein (1828) mit Ferdinand Raimund in der Rolle des Wolferl war ein großer Erfolg. [9] Ihre Leistung bestand vor allem in der Brechung des naiven Rollenfachs und Ausbildung der weiblichen komischen Rolle, wobei sie auch das Körperliche betonte, was Teile der Kritik als schamlos empfanden. Bäuerle und Raimund förderten in ihren Stücken den neuen Rollentypus.

Carola Hilmes (Frankfurt a. M., D) lenkte den Blick auf Margaretha Carl (1788-1861), die auch als Autorin im Schatten ihres Mannes („Carls Sekretär“) stand, des berühmt-berüchtigten Theaterdirektors Carl Carl. [10] Sie hat mindestens zwölf Stücke geschrieben, zumeist Bearbeitungen aus dem Französischen, von denen sich sechs im Österreichischen Theatermuseum (Wien) erhalten haben. Am Beispiel von Das Abenteuer in Venedig oder Der Deutsche in Moskau (1838) wurden Bearbeitungstendenzen deutlich.

Das Verhältnis von szenischen Bildern, Raumgestaltung und Bühne bei Raimund und Nestroy und die ihnen zugrundeliegende Praxis ist noch wenig erforscht. [11] – Marion Linhardt (Bayreuth, D) untersuchte die szenographische Praxis des Wiener Vorstadttheaters im Vergleich mit den Theaterzentren in Paris und London, wo sich in kreativer Auseinandersetzung mit den Konzessionsvorgaben neue Genres entwickelten. [12] In Wien waren die Verhältnisse durch den gemischten Spielplan der Vorstadttheater anders, so kam es zum Beispiel weniger zur Ausbildung von nichtsprachlichen theatralen Darbietungen (Pantomime, ‚Bewegte Bilder‘ u.a.). Man hielt zunächst an der traditionellen Bühnenpraxis mit typisierten Raum- und Zimmerdekorationen fest, verschloß sich aber nicht den Anregungen aus Paris und vor allem London, die Bühnenbilder ‚wirklicher’ zu machen. Hierbei spielen auch die Panoramen – wie in Franz Xaver Tolds Erfolgsstück Der Zauberschleier (1842) – und neue Maschinen- und Lichttechniken eine Rolle. In diesem Kontext wäre eine Neubewertung der (innovativen?) Rolle Theaterdirektor Carls, dem Franz von Akáts seine Kunst der Scenik widmete, sinnvoll. [13]

Wie Raimunds und Nestroys lokale Anspielungen in modernen Inszenierungen umgesetzt werden, erläuterte Johann Hüttner (Wien, A) an prägnanten Beispielen. Er ging vor allem den Fragen nach, welche Funktionen Anspielungen auf das Lokale haben, ob es sich um für die Posse typische verfremdende parodistische Techniken handelt, ob sie als Symptome für ein im Umbruch befindliches Theaterselbstverständnis gedeutet werden können. Er stellte unter anderem fest, dass die ‚Anbiederung’ an das Publikum durch lokale Anspielungen bei Raimund stärker ausgeprägt sei als bei Nestroy. Für welches Publikum in heutigen Inszenierungen neue Anspielungen getextet werden, die den Nestroytext  ersetzen und verändern, wurde kontrovers diskutiert.

Die Nestroy-Rezeption auf den stehenden Bühnen im außerösterreichischen deutschen Sprachraum, insbesondere in Berlin, und damit verbunden die Bildung eines Nestroy-Kanons, ist nach wie vor ein Desiderat der Forschung, ebenso Spezialuntersuchungen zum Repertoire einzelner Stadttheater. Für München liegt eine solche Studie vor. [14] Gertrude Gerwig (Wien, A) stellte einen Ausschnitt ihrer Untersuchung über Nestroy in Berlin vor: „Glücklose Nestroy-Aufführungen“, darunter vor allem Der Treulose (1836), Unverhofft (1845), während Glück, Mißbrauch und Rückkehr eine geteilte Aufnahme fand.

Jürgen Hein (Münster/W., D) gab einen Bericht „Nestroy im Spielplan deutscher Stadttheater im 19. Jahrhundert“, dem eine Untersuchung von knapp fünfzig lokalen Theatergeschichten zugrunde lag. An quantitative und qualitative Bemerkungen schlossen sich erste Überlegungen zum Nestroy-Kanon im deutschsprachigen Theater außerhalb Österreich an. Schon Karl Friedrich Flögel hatte festgestellt: „Leider haben gerade die verwerflichsten Nestroy’schen Stücke auch auf den norddeutschen Theatern die größte Anziehungskraft ausgeübt, weit mehr als Schiller und Goethe“. [15]

Ulrike Längle (Bregenz, A) las eigene Texte (u.a. Tynner [2004], Tolle Weiber [2006/07; UA 2007]) mit Nestroy- und Volkstheaterbezug: Tolle Weiber ist eine volksstückhafte Dramatisierung des sogenannten „Krumbacher Weiberaufstandes“ von 1807, die Autorin selbst spricht von „Tragikomödie“ der letztlich vergeblichen, aber unblutig endenden Aufstandes. [16]

Walter Obermaier (Wien, A) führte „Auf den Spuren von Franz Grillparzer und seinen literarischen Zeitgenossen“ durch die Innere Stadt (u.a. Wohnhäuser Beethovens, Grillparzers, Eichendorffs, Hebbels, Schottengymnasium, Nestroys Geburtshaus, Grillparzers Arbeitszimmer im Hofkammerarchiv).

Die Vorträge von Beatrix Müller-Kampel (Graz, A) „Kasperl – seine Entkanonisierung und Rekanonisierung im Puppentheater des 19. Jahrhunderts“ und von Elke Brüns (Greifswald, D) „Landschaften und Liebesräume, zu Raimunds Der Alpenkönig und der Menschenfeind“ fielen leider aus.

 

 

1 Vgl. HKA Stücke 14, hg. von W. E. Yates, Wien, München  1982; W. Edgar Yates, Nestroys Weg zur klassischen Posse, Nestroyana 7 (1987) S. 93-109.
2 Vgl. Karl Zimmel, ‚Zur Geschichte des Nestroy-Denkmals‘, Nestroyana 5 (1983/84), S. 21-26.
3 Vgl. auch Martin Stern, ‚Lustiges Trauerspiel – tragische Komödie, Strukturen des Widersinnigen bei Hafner, Nestroy und Dürrenmatt‘, in: Sprachspiel und Lachkultur, Beiträge zur Literatur- und Sprachgeschichte, Rolf Bräuer zum 60. Geburtstag, hg. von A. Bader u.a., Stuttgart 1994, S. 359-376; Helmut Arntzen, ‚Bemerkungen zur immanenten Poetologie der „Ernsten Komödie“ im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Nestroy, G. Hauptmann, Sternheim, Horváth’, in: Theorie der Komödie – Poetik der Komödie, hg. von Ralf Simon, Bielefeld 2001, S. 157-171.
4 Vgl. SW, Bd. 15, S. 528; Johann Hüttner, ‚Der ernste Nestroy’, in: W. E. Yates und John R. P. McKenzie (Hg.), Viennese Popular Theatre: A Symposium, Das Wiener Volkstheater. Ein Symposion, Exeter 1985, S. 67-80.
5 Vgl. Jutta Landa, Bürgerliches Schocktheater. Entwicklungen im österreichischen Drama der sechziger und siebziger Jahre, Frankfurt a. M. 1988.
6 Erika Fischer-Lichte, Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tübingen und Basel 1993, S. 189.
7 Vgl. Kommentare in: Adalbert Stifter, Werke und Briefe, Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald, Bd. 8,1, Stuttgart, Berlin, Köln 1997, S. 269-272, 298-304, 333-340.
8 Otto Horn (d.i. Adolf Bäuerle), Therese Krones, Roman aus Wien’s jüngster Vergangenheit, Wien 1854.
9 Vgl. Therese Krones, Sylphide, das Seefräulein, hg. von  M. M. Rabenlechner, Wien 1947; Therese Krones, Zum 150. Todestag, Katalog Sonderausstellung Historisches Museum, Wien 1980; Emil Pirchan, Therese Krones, die Theaterkönigin Alt‑Wiens,  Wien, Leipzig 1942; Edith Futter, Die bedeutendsten Schauspielerinnen des Leopoldstädter Theaters in der Zeit von 1800 bis 1830, Diss. (masch.) Wien 1965 [Druck 1970]., S. 150-276.
10 „Kann man also Honoriger seyn als ich es bin??“ Briefe des Theaterdirektors Carl Carl und seiner Frau Margaretha Carl an Charlotte Birch-Pfeiffer, hg. von Birgit Pargner und W. Edgar Yates, Wien 2004.
11 Vgl. allgemein: Joachim Hintze, Das Raumproblem im modernen deutschen Drama und Theater, Marburg 1969; Texte zur Theorie des Theaters, hg. und kommentiert von Klaus Lazarowicz und Christopher Balme, Stuttgart 1991, bes. S. 405-454.
12 Vgl. auch Marion Linhardt, Residenzstadt und Metropole, Zu einer kulturellen Topographie des Wiener Unterhaltungstheaters (1858-1918), Tübingen 2006.
13 Franz von Akáts,  genannt Grüner, Kunst der Scenik in ästhetischer und ökonomischer Hinsicht […]. Als Handbuch für Intendanten. Privat-Direktoren […]. Wien 1841; vgl. Johann Hüttner, Theater als Geschäft, Vorarbeiten zu einer Sozialgeschichte des kommerziellen Theaters im 19. Jahrhundert aus theaterwissenschaftlicher Sicht, Mit Betonung Wiens und Berücksichtigung Londons und der USA, Habil.schr. (masch.) Wien 1982; Hansjörg Schenker, Theaterdirektor Carl und die Staberl-Figur, Eine Studie zum Wiener Volkstheater vor und neben Nestroy, Diss. Zürich 1986.
14 Birgit Pargner und W. Edgar Yates, Nestroy in München, München, Wien 2001.
15 Flögels Geschichte des Groteskkomischen, neu bearb. und erweitert von Friedrich W. Ebeling, Leipzig 1862, S. 203.
16 Nach der Premiere am 12. Juli 2007 erlebte das Stück weitere ausverkaufte Vorstellungen; vgl. http://www.krumbach.at/weiberaufstand/index.html.