von Matthias Schleifer
Meine Damen und Herren,
das Folgende verdankt sich der letztjährigen Veranstaltung an diesem Ort, die der Frage nach der Bedeutung von Bildern und des Visuellen allgemein für die hier interessierende Theatertradition gewidmet war. In nicht nur einem Vortrag wurde auf den Brauch hingewiesen, die Handlung eines Stücks dadurch anzuhalten oder einen optischen Schlusspunkt dadurch zu setzen, dass sich Personen malerisch gruppieren – wie im Photoatelier -, dass Tableaux präsentiert werden, in unterschiedlicher Üppigkeit. Mir fielen dazu spontan Regieanweisungen ein wie „Es bilden sich Gruppen“ oder „Grüßer, sich über den Nörgler beugend, mit starrem Blick, wodurch er das Aussehen des Todesengels gewinnt“ oder „Zwei Kommerzialräte, mit ihren Stöcken auf ein vorüberfahrendes Automobil zielend“ oder „Eine teilnehmende Gruppe umgibt den alten Korngold“ – also Regieanweisungen aus Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, im Folgenden sage ich, um Zeit zu sparen, LT, in deren letzter Szene vor dem zentralen Kolossalgemälde „Die große Zeit“ Visionen vorüberziehen, teilweise stumm, stummfilmartig, die Theatertechnik herausfordernd, z. B. „Tausende von Kreuzen in einem Schneefeld“. Irgendwie also eine Gemeinsamkeit zwischen den Stücken u. a. auch Nestroys und der Weltkriegstragödie von Kraus – und es schien mir spontan der Untersuchung wert, wie weit sie reicht und ob es neben ihr andere gibt, sodass mit aller Zurückhaltung die LT ein Volksstück genannt werden können, wenn man die Stücke von Nestroy, Raimund und ihren Kollegen unterschiedlichen Rangs und unterschiedlicher Bekanntheit so nennen will. Das sich bald abzeichnende, ernüchternde Fazit vorweg: auch bei aller Zurückhaltung ein ziemlich klares Nein. Wenn Kraus ein verhinderter Volksdramatiker ist, so wie Helmut Heißenbüttel Arno Schmidt einen verhinderten Volksschriftsteller genannt hat, so eher noch im Vierakter „Die Unüberwindlichen“ von 1927. Wenn da höhere Mächte dafür sorgen, dass zwei subalterne Beamte während der gemütvollen Weihnachtsfeier der Wiener Polizei die Wahrheit über den 15.Juli 1927 ausplaudern: so mag das an ein Zauberspiel erinnern; zu diesem Werk kurz noch später. Was die LT betrifft, wäre eventuell ein Unterschied zwischen der von Eckart Früh 1992 edierten Bühnenfassung und Buch- und Akt-Ausgabe zu berücksichtigen, allerdings kein entscheidender. In jedem Fall scheint es mir diskutabel, sie unter die großen Werke der ersten Jahrhunderthälfte zu rechnen, die, wie Hugh Kenner vom „Ulysses“ sagt, „effektiv eine ad-hoc-Gattung für sich schaffen“ – ein singuläres Werk.
Immerhin, als verbindendes Element zwischen Nestroy und Kraus gibt es etwa noch die paar Couplets: das des schnadahüpfelnden Ganghofer, I 23, das Lied des Alldeutschen, des Kommerzienrats Wahnschaffe, III 40, die fast unmittelbar aufeinanderfolgenden Gesänge von Hirsch und Roda Roda in II 15 – kleinstmögliche Andeutung eines Quodlibets-, schließlich das große, „lebenslängliche“ Couplet des Kaisers in IV 31. Es gibt selbstverständlich Mittel der Komik und der Satire, die Kraus mit Nestroy verbinden, etwa den Einsatz erheiternder Dialekte wie des Ostpreußischen – „Fräilen. Was mäinen Sie?“ in III 13; des Preußischen, wie es der Wachtmeister Wagenknecht gebraucht, der sich dem Feldwebel Sédlatschek nicht verständlich machen kann, den er Sedlátschek nennt. „Machen Se man uff, sonst schlagen mer Ihnen die Bude ein“, sagt ein preußischer Musketier vor einem deutschen Buchladen in Hermannstadt, wobei der Dialekt hier, verglichen mit dem Papierdeutsch der aus dem Börsenblatt für den deutschen Buchhandel zitierten Antwort des Buchhändlers fast etwas positiv Authentisches hat, wie manchmal in der Tradition. Es gibt hier wie da Groteskes, ich verzichte auf Beispiele. Es gibt da wie hier sprechende Namen – Fallota; Beinsteller; Doktor-Ing. Abendrot und solche, die ein Milieu mitgenerieren wie Frieda Gutzke oder Fräulein Löwenstamm. Dass Menschen Kernstock oder Ernst Posse heißen, wird dankbar aufgegriffen. Es gibt zwischen Kraus und der Tradition Zusammenhänge thematischer oder motivischer Art. Militarismus als Charakterzug gibt es z. B. in „Judith und Holofernes“ oder beim Zwillingsbruder des Färbers; das Apokalyptische im Kometenlied und im „Weltuntergangstag“. Wenn man will, man muss nicht, kann man die Einbettung des Geschehens in einen kosmischen Rahmen, den Blick höherer Wesen aufs Menschentreiben in der „Letzten Nacht“ als zauberspielartig etikettieren. Gefühllosigkeit und Brutalität in keineswegs idyllisch gezeichneten Familien werden im „Alpenkönig“ ebenso gezeigt wie in Szene II 21 der LT: „Was ham S‘ denn Mitleid mit dem Bankert? … neulich hab i ihn hergnommen und ihn so mit dem Bajonett trischackt, daß i glaubt hab, er bleibt mr unter die Händ“ – dabei Dialekt als Kunstmittel, wie es Kraus bei Nestroy konstatiert hat. Einzelne Szenen verweisen auf einzelne Werke, z. B. „Die schlimmen Buben in der Schule“: I 9 und V 23 , Buben in schlimmer Schule. Das alles macht die Tragödie nicht zum Raimund- oder Nestroystück – das man mit einer gewissen Unbefangenheit vom Verfasser des Essays „Nestroy und die Nachwelt“ (und eines kürzeren Vorläufertexts von 1901, zu Herzl contra Nestroy) erwarten möchte, wenn man sich nicht damit zufrieden gäbe, dass er Stücke Nestroys bearbeitet hat und dass er, wenn man den innovativen Ausführungen von Eiji Kouno in den Nestroyana 2017/1-2 folgen will, mit der geschriebenen Schauspielkunst des Essays eine Art von Drama verfasst hat. Die LT: kein Volksstück, aber aus dem Fundus des Volkstheaters sind doch einige Versatzstücke herausgegriffen, ich ergänze noch die Möglichkeit, die Bühne nicht nur in Stockwerke zu teilen, sondern auch Vatikan und Redaktion mit jeweils einem Benedikt darin nebeneinanderzustellen. Allerdings stellt sich nach der Auflistung dieser Elemente die Frage, ob sie denn jeweils auch die gleiche Funktion erfüllen – oder ob, in der Sprache der Biologie, etwas wie Homologie vorliegt – ich zitiere als Mensch des 21.Jahrhunderts Wikipedia: „Homologe Merkmale gehen auf Merkmale des gemeinsamen Vorfahren zurück, sie sind also gleichwertig bezüglich ihrer stammesgeschichtlichen Herkunft. Die ursprünglichen Merkmale können sich danach in verschiedene Richtungen entwickelt haben und in unterschiedlichen Funktionen gebraucht werden.“ Das dürfte auf unseren Fall zutreffen – und so gilt das Augenmerk schnell dem Trennenden. Was die optischen Elemente betrifft, so zeigt Kraus zum einen posierende Einzelne, wie Conrad von Hötzendorf, der fotografiert werden soll und möchte – es fällt auf, dass im Kontrast dazu die Dialoge von Nörgler und Optimist fast völlig frei von Regieanweisungen sind (einmal drückt der Nörgler dem Optimisten die Hand). Zum anderen gibt es Großgruppen von Anonymen, die den Massencharakter hervorheben und zum Teil zum Irrealen tendieren. IV 1: „Ein Knäuel von Böcken steht da, je zwei Stirn an Stirn, einander anstarrend, wie durch ein Geheimnis miteinander verbunden“. Das ist nicht in erster Linie, wenn diese militärische Metapher passieren darf, ein Ruhepunkt im Geschehen, der die Rezeption erleichtern soll, oder etwas finales Schönes; als Veranschaulichung einer Botschaft oder Aussage fällt es immerhin nicht ganz aus der Tradition. Kraus lässt die „Bilder“ großenteils aus Bewegung hervorgehen, z. B. in V 39: „Passanten umringen einen Operettentenor“, Umringen als Vorgang und / oder Zustand, ähnlich in einer der Erscheinungen: „Zur Begrüßung des Kronprinzen wird von Flammen ein W gebildet“, Zustands- oder Vorgangspassiv. Insofern treten diese Tableaux nicht eigentlich aus der Handlung heraus, ebenso wie die, z.T. überlangen, Couplets in ihr verwurzelt sind, nicht auf Refrains mit sentenzenhaften Lebensweisheiten hinauslaufen, nicht, wie üblich, andere Lebensbereiche evozieren (was sie schon deshalb kaum könnten, weil es neben dem Krieg keine anderen Lebensbereiche gibt). Meines beschränkten Wissens hat Kraus von diesen Couplets vor allem das Lied des Alldeutschen vorgetragen, aber nicht mit aktualisierenden Zusatzstrophen versehen, wie er es bei Couplets Nestroys und Liedern Offenbachs getan hat. Ein Wort zum erwähnten Couplet des Julius Ferdinand Hirsch: es ist ein regelkonformes Auftrittscouplet, gefolgt vom nicht so regelkonformen, aber die Figur erschöpfend charakterisierenden Auftrittsmonolog „Sie Major, wenn Sie den General sehn, sagen Sie ihm, dass ich ihn dann interviewen wer und den ganzen Stab! Heut wird sich kaner drucken!“ – er geht ab. Das Lied „Heisa! lustig ohne Sorgen“ variiert Valentins Lied aus dem „Verschwender“ – zu dessen Melodie es auch nach der Regieanweisung gesungen werden soll. Zwei Charaktere aus zwei Welten werden so miteinander konfrontiert: der aufrechte, treue Valentin und der Kriegsberichterstatter Hirsch, Gut versus Böse, das noch deutlich etwas anderes ist als das moralisch Verwerfliche, die menschliche Unvollkommenheit des Verschwenders Flottwell.
Kraus parodiert das Couplet Raimunds – ich bemühe mich nicht um eine exakte Definition von Parodie als einer Spezialform von Kontrafaktur; anzufügen bzw. nachzutragen ist hier das Parodistische oder Parodische als ein weiteres generelles Element, das sich in der Tradition wie in den LT findet. Sind diese doch unter anderem auch eine Parodie auf den Faust II, formal in der Verbindung offener Form mit dem Fünf-Akte-Schema an der Oberfläche, jeweils auch mit einem Rahmen – bei Kraus Vorspiel und „Letzte Nacht“. Inhaltlich gesehen, ist der tragische Held bei Kraus die faustische Menschheit, die allerdings auf den Hund gekommen ist. Auch bei Nestroy dürfte jeder Ansatz zu faustischem Übermenschentum der Kritik und der Lächerlichkeit preisgegeben werden, bei Raimund ist es möglicherweise manchmal anders, ich will und muss dem und dem Verhältnis von Kraus und Spengler zueinander hier nicht nachgehen. Zu Kraus und Raimund noch dies: Die Konstellation von Optimist und Nörgler lässt sich mit der von Menschenfeind und Alpenkönig vergleichen, nicht nur, weil sich alles mit allem vergleichen lässt; in gewisser und bezeichnender Weise wird sie auf den Kopf gestellt. Vielleicht so: Dem Optimisten wird durch die verdeutlichende Vergrößerung seines Weltbilds sein Irrtum vor Augen geführt, er wird zumindest stellenweise zum pensionierten Optimisten, schon im 1.Akt sagt er einmal: „Ich denke, Sie haben recht“. Im Übrigen kann man den Nörgler gewiss auch in der Nachfolge von Nestroys räsonnierenden Querköpfen sehen.
Die Rolle, die Nestroy und Raimund – ggf.: und co. – für die LT spielen, ist insbesondere eine, sagen wir: ideelle; sie stehen in besonderer Weise für Kultur und damit für die Werte, nicht nur die im engeren Sinn kulturellen Werte, die der Große Krieg zerstört bzw. ohne deren voraufgehende innere Zerstörung schon zu Nestroys und Raimunds Zeiten er nicht möglich gewesen wäre. Insbesondere steht ihre Tradition dauerhaft im Hintergrund als nicht eigens zu beschwörendes Gegenbild zum zeitgenössischen Operettenwesen, dem Erben bzw. der Degenerationsform des Vorstadttheaters, das inklusive des Kults um populäre Darsteller Teil des giftigen geistigen Klimas ist, in dem die Keime des Kriegs gedeihen. Auf der Gegenseite steht zudem zeitgenössisches Vorstadttheater (II 24), desgleichen volkstümelnde Komödie, wie sie der Nestroyherausgeber Ganghofer dem deutschen Kaiser vorspielt (I 28).
Wesentlich an Nestroy ist für Kraus besonders, dass er, so in „Nestroy und die Nachwelt“, sein „Dynamit in Watte verpackt habe“, bevor er seine Welt sprengte. Die Formulierung wäre genauer zu betrachten, als es hier möglich ist: bemerkenswert etwa, dass Nestroy seine Welt gesprengt habe – in welchem Sinn hätte er das getan? anzunehmen jedenfalls, dass Kraus hier seine eigene Absicht formuliert und dass sein Erfolg an dem Nestroys zu messen wäre. Bemerkenswert auch, dass, meines bescheidenen chemischen Wissens, Dynamit und Watte einander nicht beeinflussen, ob das für eine verpackte Botschaft und ihre Verpackung ebenso gilt, wäre wohl nicht so eindeutig zu entscheiden. Im Übrigen verpackt jegliche engagierte Kunst, etwa auch die Anzengrubers, ihr Dynamit in Watte, Unterschiede bestehen in der Dichte der Watteschicht, ihrer Undurchsichtigkeit, in der Stärke, der Menge des Dynamits usw. Unmittelbar als Waffe dient ein Buch, wenn man mit ihm zuschlägt; unmittelbar aktiv werden kann der Autor außerhalb der Textwelt, was Kraus und Nestroy eher selten getan haben, Kraus etwa mit dem Ausruf „Hinaus aus Wien mit dem Schuft!“ und der affichierten Aufforderung an den Polizeipräsidenten Schober, abzutreten, nebst der öffentlichen Verteilung des Schoberlieds. Auch die LT sind in Watte verpacktes Dynamit (von deutlich aggressiverer Wirkung als in Nestroys Satire: siehe etwa II 4), während des Kriegs verpackt über die Grenze zur Schweiz gebracht, und so berechtigt es sein wird, Kraus als Satiriker zu verstehen, so wie er Nestroy vorrangig als Satiriker verstanden hat, und damit die Watte als quantité négligeable zu werten, so gibt es sie eben doch, auch bei Kraus, also das Bemühen, das Publikum nicht nur durch den Akt des Lesens aus der Alltagswelt herauszuholen, abzulenken (freilich in seinem Fall, um es sofort wieder zurückzuverweisen); es gibt das, kurz und missverständlich gesagt: Unterhaltsame¸ z. B. die Wiederholung von Situationen und Redewendungen – „Grüß dich Nowotny, grüß dich Pokorny, grüß dich Powolny.“ Missverständnisse, Irrtümer, Aneinandervorbeireden aus diversen Gründen erweisen sich auch bei Kraus als probate Mittel, Lachen zu generieren; auch sein Publikum freut sich, wenn es einmal mehr weiß als die Figuren auf der Bühne – z. B. wenn Hans Müller über den „Wagenknecht“ herzieht (I 25), ohne zu ahnen, dass sein Gegenüber so heißt (von der Erheiterung der Krausforscher zu schweigen). Die „interimistischen Volontäre der provisorischen Exekutivkommission des Zentralkomitees der Liga zum- Generalboykott für Fremdwörter“ (I 8) sind einfach lustig – freilich eben nicht nur lustig.
Ich komme noch einmal auf den Gedanken zurück, die Reminiszenzen an Nestroy und Raimund dienten dazu, in den Letzten Tagen der Menschheit die Menschheit noch ein letztes Mal zu vergegenwärtigen, Leistungen, die einen Weg hätten weisen können, der nicht gegangen wurde. In ähnlicher Weise werden nun freilich auch viele andere Traditionen zitiert, notdürftig beschreibbar sind die LT ja nicht nur als „singuläres Volksstück“, sondern mit nicht wenigen anderen Formulierungen. Immerhin schreibt Kraus im Vorwort nicht „Nestroyfiguren spielen die Tragödie der Menschheit“ – obwohl einiges aus „Nestroy und die Nachwelt“ mutatis mutandis auf die LT übertragbar sein mag, nicht nur „Die Phrase dreht sich zur Wahrheit um“ – das tut sie z.B. in der Fehlformulierung „die Sache, für die wir ausgezogen wurden“(I 1). Aber Kraus, später der Verfasser der „magischen Operette“ „Literatur“ schreibt im Vorwort ja von „Operettenfiguren“ – über den Operettencharakter der LT bitte ich Sie, in Peter Hawigs Buch „Dokumentarstück – Operette- Welttheater. ´Die letzten Tage der Menschheit´ von Karl Kraus in der literarischen Tradition“, Essen 1984, nachzulesen, das auch zu vielem anderen, was ich hier berühre, instruktiv ist. Ich erwähne nur, dass Hawig zwischen dem schlafenden Fatum in Nestroys „Weltuntergangstag“ und der, wie er schreibt, passiven Rolle Gottes bei Kraus einen Zusammenhang herstellt. In „Literatur“ sieht übrigens Edward Timms den Einfluss des Ensembles der „Budapester“ um Herbert Eisenbach wirksam, einer besonderen Form von „Volkstheater“. Zurück zu den LT: sind sie überhaupt ein Drama? oder nicht vielmehr eine locker gereihte Folge dialogisierter Glossen? – z. B. steht die eine Szene, in der eine wartende Menge vor einem Bahnschalter gezeigt wird, schon um 1910 als Glosse in der „Fackel“. Die LT sind auf jeden Fall auch ein Geschichtsdrama; ein Stück Dokumentartheater nicht nur avant la lettre, sondern auch: wie „Dantons Tod“ – dass Kraus Büchner gelesen hat, ist einer Liste von Autoren zu entnehmen, die die Kanzlei Oskar Samek Anfang 1928 dem Neuen Wiener Journal schickte, zwecks Berichtigung der Behauptung, der Herausgeber der „Fackel“ lese ausschließlich Zeitungen; diese Liste, der eine andere vorausging, reicht von Abraham a Santa Clara und Aristophanes bis zu Oscar Wilde. In der „Fackel“ wird Büchner ein einziges Mal zitiert, Mai 1918, aus „Dantons Tod“. Nicht nur über das Geschichtsdrama kommen Goethe und Shakespeare als ständig im Unter- oder Hintergrund präsente Bezugsautoren ins Spiel – beispielsweise lässt die Regieanweisung der ersten Szene „Ein Sommerfeiertagsabend“, in einem Stück, das zunächst den Untertitel „Ein Angsttraum“ haben sollte, an den „Sommernachtstraum“ als ein Stück Gegenwelt denken. Von Einflüssen oder bewussten Anlehnungen oder Anspielungen größeren Gewichts zu sprechen, wäre prekär; sagen wir lieber, Autoren ließen grüßen, schickten intertextuelle Grüße. Gerhart Hauptmann und der Naturalismus – über seine Kriegsdichtung wird im Stück gesprochen, im Sinn des Epigramms von 1917: „Doch Hannele träumt, so träumte mir, von der sechsten Kriegsanleihe“; „Die Weber“ und „Hannele“, seine von Kraus besonders geschätzten Dramen sind im Übrigen in einem nicht zu engen Sinn Volksstücke; und haben nicht die LT wie die “Weber“ ein Kollektiv zum Helden? Über den Naturalismus heißt es in „Nestroy und die Nachwelt“, er habe die Dinge beim rechten Namen genannt, „aber vollzählig, daß ihm auch nicht eines fehle“, lange und gründlich, wenn auch darin das rechte Maß verfehlend. Länge und Streben nach Totalität prägen auch die LT, die also auch ein „naturalistisches Stück sui generis, singulärer Art“ sind. „Naturalistisch“ sind in den LT jedenfalls die, längeren oder kürzeren, schildernden Nebentexte, etwa die Beschreibung der symbolträchtigen Villa Wahnschaffe, oder die Angabe, die Menge warte schon zwei Stunden auf den verspäteten Zug – obschon das auch eine, eine indirekte, Anweisung an Schauspieler ist, ggf. Ermüdung oder Aggressivität zu spielen. Dergleichen scheint mir bei Nestroy keine Entsprechung zu haben.
Unter den Autoren, die grüßen lassen – ich strebe hier keine Vollzähligkeit an -, ist auch Aristophanes, mit dem ständigen Bezug auf Personen seiner Gegenwart; wie bei Aristophanes erschwert dies den Nachgeborenen das Verständnis, mehr noch als in den LT in den „Unüberwindlichen“, wie sehr man Kraus und Heinrich Fischer in ihrer Verachtung des Vergänglich–Stofflichen theoretisch beipflichtet.
Länger von eingesetzten Mitteln zu sprechen, die Kraus von der Wiener Tradition trennen, erübrigt sich, nicht nur deshalb, eigentlich. Hingewiesen sei wenigstens darauf, dass Szenen, da ihr Zusammenhang auf „postdramatische“ Weise nicht durch eine „durchgehende Handlung“ geschaffen wird, in einer Reihe von Fällen über Assoziationen verknüpft werden – also Ana-,nicht Homologie, der gleiche Zweck wird auf andere Art erreicht. Z. B. wird in I 22 Potsdam erwähnt, in I 23 erscheint Wilhelm II., an dessen Handgreiflichkeiten in IV 37 die Brutalität eines Untertanen in IV 38 anschließt; in III 29 ist Schwedisch so unverständlich wie die Paragraphensprache in der Szene davor. Anderseits ist eine gewisse Flexibilität des Aufbaus wiederum verbindend – bzw. die grundsätzliche, von vornherein mitgedachte Möglichkeit, den Dramentext für eine konkrete Aufführung „theaterpraktisch“ zu verändern, ohne dem Willen des Autors notwendigerweise zuwiderzuhandeln, wie es die jeweilige Szenenauswahl in den Lesungen von Kraus und in der Bühnenfassung belegt.
Ein singuläres Stück, ob Volksstück oder nicht, sind die LT in der Art, die erwähnten Traditionslinien zusammenzuführen, aus ihnen Teile eines Ganzen zu machen. Sie alle zusammen ergeben den, so Hawig, disparaten Charakter des Dramas LT, das ein Konglomerat bunter Scherben sei. Die Tradition des Volkstheaters ist einer der Charakterzüge, unter denen mir keiner wichtiger als die anderen zu sein scheint.
Meine Damen und Herren, ich meine und hoffe, bei aller Lückenhaftigkeit nicht nur im Selbstverständlichen, bisher einigermaßen zusammenhängende und nachvollziehbare Darlegungen geboten zu haben; hinsichtlich des folgenden, kürzeren, zweiten Teils bin ich mir da nicht so sicher; er ist unter nicht durchweg günstigen äußeren Bedingungen entstanden – hätte noch Zeit zum Reifen vertragen.
Plakativ vorweg: 2018, 50 Jahre nach 1968, scheint mir zu Karl Kraus besonders die Frage interessant, wie weit er als Kulturphilosoph, vermittelt durch Adorno, das (wie sehr auch immer hochstilisierte) Epochenjahr indirekt mitgeprägt hat. Dass er das, was daraus geworden ist, unsere Gegenwart widerwärtig fände, dürfte einigermaßen wahrscheinlich sein. Im Politischen – denkt man an die 1969 eingeleitete neue westdeutsche Ostpolitik und die 1968er Botschaft vom menschlichen Sozialismus aus Prag – verdanken wir es zumindest teilweise auch diesem Jahr 68, dass 1990 „Wir sind das Volk“ gerufen werden konnte – und dass es noch immer gerufen wird, wobei freilich immer weniger klar ist, was dieses Bekenntnis eigentlich bedeuten soll. Ein Fall von Homologie. Gutes Volk – böses Volk? Vielleicht kann das Nachdenken über den Terminus „Volkstheater“ und speziell über seine mögliche Bedeutung für Karl Kraus auch dazu beitragen, in der nicht unwichtigen aktuellen Diskussion über eine echte, nicht nur scheinbare, Herrschaft des Volkes, um nicht Volksdemokratie zu sagen, einen Schritt voranzukommen.
Ich entferne mich, zumindest scheinbar, von meinem Thema und gehe noch einen Umweg über ein Zitat von Jörg Drews, aus seinem Beitrag zu einem Sammelband zum Thema Sprache im Nationalsozialismus. Karl Kraus, schreibt Drews, sei grandios gescheitert – einmal, was wir wohl als oberflächlich zurückweisen, weil ihm zu Hitler nichts eingefallen sei, zum anderen aber, und das ist diskutabel, weil ihn der Mainstream der Rezeption in den 50er Jahren verharmlost, vereinseitigt, entschärft habe. Es ließe sich anfügen, dass ihn das mit dem Projekt 1968 verbinde, das ebenfalls grandios gescheitert sei. Was von 1968 erfolgreich war, ist meines Erachtens ein Teil, und zwar der unwesentlichere, durchaus fragwürdige. Der Ruf nach sexueller Freizügigkeit wurde begierig von den Spießern aufgegriffen, als Rechtfertigung für alles, was sie immer schon tun wollten, aber zu feige waren, offen zu tun. Soweit der Muff seinen Vertretern selbst im Weg war, lästig und unbequem, durfte er beseitigt werden und sonderlich, wenn sich daraus noch Profit schlagen ließ, durfte die Jugend stillschweigend Recht bekommen; komplexe Überlegungen über eine radikal andere, gerechtere Gesellschafts- und Weltordnung und den politischen Weg dahin wurden als fundamentalistisch verteufelt und auf den Müll der Geschichte gekippt. Ähnliches evtl. in der Krausrezeption: Wenn das Cabaret der 50er Jahre Satire auf den Spuren von Kraus gebracht hat, ohne sich allzu sehr auf ihn und seine sprachkritische Basis zu beziehen, so in wechselnder Radikalität des „Bis hierher und nicht weiter“, Bronner, Merz/Qualtinger, Kreisler um 1968: einmal Satire zur Freude Gleichgesinnter, dann wird das Publikum mitangegriffen oder zur revolutionären Tat aufgefordert. Auch im Folgenden tun sich Gegensätze auf. Lässt man sich dazu hinreißen, in Seifenopern wie „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ Bastarde oder zeitgemäße Formen von Volkstheater zu sehen: da erinnere ich mich an eine der ersten etwa 600 Folgen, wo einmal der Satz fiel „Heute mach‘ ich mir kein Abendbrot, heute mach‘ ich mir Gedanken“; der stammt von Wolfgang Neuss, dem 68 aktiven Kabarettisten (und Krausrezipienten)– ich vermute, der Drehbuchschreiber war ein frustrierter Altachtundsechziger, froh über einen Job beim Fernsehen, der mit winzigen Aktionen klammheimlich das Massenbewusstsein verändern wollte. (Ein ähnlicher Typ hat aus Arno Schmidts Geschichte „Die Wasserlilie“ eine Episode von „K 11 – Kommissare ermitteln“, SAT.1, gemacht, „Tod einer Sexpuppe“: Arno Schmidt wird für Totschlag zu fünf Jahren verurteilt). Ich weiß nicht genau, worauf ich mit all dem hinauswill – vielleicht darauf, dass von Kraus und Adorno her verschiedene Entwicklungen von Volkskultur und also auch Volkstheater denkbar sind, Crossoverprojekte, deren Verwirklichung aber rasch, aus verschiedenen Gründen, von einer geraden Linie abweicht und eventuell sogar in die Gegenrichtung führen kann. Piscator wollte in seinem „Volkstheater“ die LT aufführen, Kraus hat abgelehnt; es war freilich auch kein Wiener Volkstheater, nur eines ohne das Element Raimund-Nestroy. Ich deute nur an, wie das nachweislich auf Breitenwirkung angelegte Stück „Die Unüberwindlichen“, mit dem Schoberlied, zwischen den Mahlsteinen der Politik in den späten 20ern auch in Berlin um seine Chance und lediglich zu einer Lesung in der Volksbühne kam; Schicksal von Volkstheater. Von Theater generell, man denkt an die Darstellung von Paris 68 in Jean-Louis Barraults „Erinnerungen für morgen“. Kunst und Literatur auf dem Fliegenpapier der Politik – ich finde die Frage interessant, ohne sie auch nur ansatzweise beantworten zu können, was 1968 mit 1848 verbindet, unter besonderer Berücksichtigung des Theaters, das sich ans Volk wendet. Geht man diesen Gedankengang rüstig weiter, steht man freilich irgendwann vor einem Abgrund, in den man die Frage hinabflüstert, ob eine Demokratie, die in Schober, GZSZ und Trump kulminiert, nicht im Kulturellen wie im Politischen eine wohldosierte Beimischung von etwas wie aufgeklärtem Absolutismus bräuchte, sodass alles für das Volk, nicht alles durch das Volk getan würde. Wie gesagt: ein Abgrund – es schwindelt einen, wenn man hinabblickt, wie ein anderer vom real existierenden Volk Enttäuschter geschrieben hat.
Als besonders dicker und gewichtiger Brocken in dem Problemgemenge am Grunde des Abgrunds, also als fundamental, erweist sich somit ein weiteres Mal der Begriff „Volk“. Uns interessiert das Volk hier weniger als Subjekt oder Objekt von Geschichte und Politik, sondern als Theaterpublikum für Stücke, die in seiner Welt spielen und von Personen handeln, die ihm angehören. Will man Karl Kraus unterstellen, auch er habe für „das Volk“ geschrieben: was hieße das konkret? es heißt wohl, das ist von vornherein zu erwarten, etwas anderes als im Fall Nestroys oder Raimunds – oder in Bizau. Lassen wir uns leiten von den bekannten Worten aus dem Vorwort zu den LT, das Stück sei für ein Marstheater geschrieben, Theatergänger dieser Welt vermöchten ihm nicht standzuhalten. (Bei aller Sprachgenauigkeit, „Erde“ und „Welt“ hat Kraus anscheinend nicht auseinandergehalten.) Ein Marspublikum – das wären, logischerweise, die Sieger, die an ihren Sieg erinnert werden und an die Verpflichtung, aus ihm etwas nachhaltig Gutes hervorgehen zu lassen; das sind die, die gegen ihren Willen am Krieg teilgenommen haben, evtl. als Ausführende, als Werkzeug, nicht als verantwortliche Täter, jedenfalls als Opfer. Die Täter, auch wenn sie zu Opfern geworden sind, vermögen dem Stück nicht standzuhalten, nicht vorrangig wegen seiner Länge, sondern weil es sie mit ihrer Schuld konfrontiert – nicht nur mit menschlichen Schwächen und Unzulänglichkeiten wie Typen- und Volkskomödie, sondern mit Schuld. Also ein Bruch mit der Tradition? denn vergleichbare Schuld gibt es bei Nestroy und Raimund nicht – oder eine Fortführung der lebendigen Tradition in eine völlig veränderte Zeit, in eine fast gänzlich veränderte Welt, in der eben an die Stelle individueller Unmoral metaphysische Schuld getreten ist? Man mag es so oder so beschreiben, es scheint mir letztlich unerheblich. Bei etwas längerem Nachdenken könnte sich freilich die Frage ergeben, ob tatsächlich– unbeschadet dessen, dass gar nicht so wenige moralisch integre Figuren auftreten, meist aus dem „Volk“ – irgendjemand von „Mitschuld“ gänzlich frei ist und sein kann; auch der Autor nimmt ja eine solche auf sich. Und dann vermögen tatsächlich Theatergänger dieser Welt dem Stück grundsätzlich nicht standzuhalten und es ist unaufführbar. Anderseits hat Kraus sehr konkret ein Arbeiterpublikum für fähig gehalten, dem Stück in seinen Vorlesungen standzuhalten, er hat zudem eine Aufführung vor Arbeitern erwogen. Also Volkstheater gleich Arbeitertheater, bzw. Volk gleich Arbeiterschaft? Bekanntlich, angesichts der späteren Kontroversen zwischen Kraus und den Sozialdemokraten, nicht im Sinn einer politischen Partei; eher wohl eine flexible Position zu einem konkreten Zeitpunkt. Von der Welt Raimunds und Nestroys ist dieser Zeitpunkt, ist diese Gleichsetzung, wenn ich recht sehe, weit entfernt.
Meine Damen und Herren, am Ende versuche ich erst gar nicht, die Brösel, die ich vor allem zuletzt aus der Tüte rieseln ließ, zu einem Kompaktplätzchen zu pressen. Ich springe statt dessen zu einer weit abgelegenen Frage, die sich immerhin auch auf etwas Volkstümliches bezieht, ein populärwissenschaftliches Werk, erschienen 2018, „Stadt ohne Seele: Wien 1938“ von Manfred Flügge. Ich hätte gerne gewusst, ob ich der Einzige bin, der nach der Lektüre zumindest leicht enttäuscht ist. Es macht mich einfach gegen ein Buch im Ganzen misstrauisch, gegen jede der vielen Informationen, die es enthält, wenn ich, auf S.356, lesen muss, Bruno Walter habe zum 25.Todestag Gustav Mahlers dessen 8.Symphonie dirigiert, in Klammern erklärend hinzugesetzt „Das Lied von der Erde“. Umso dringender meine Frage in eine Runde von Experten hinein, ob bei Hitlers einzigem Besuch im Burgtheater am 11.Juni 1939 wirklich Nestroys „Jux“ gespielt wurde. Wenn es stimmt: was steckt hinter dieser Programmgestaltung? Hitlers Wunsch? Oder, schwer vorstellbar, schlichter Zufall? Oder subversive Raffinesse? ich weiß es nicht. Sollte die Information korrekt sein: dann allerdings hätten die illustren Gäste an jenem Abend außer ihrem Führer in besonderer Deutlichkeit Glanz und Elend der Wiener Theatertradition nebeneinander in einer Loge sehen können. Das wär’s gewesen; danke.