Nestroy-Gespräche 2013: Referate (Exposés)

Irdische, himmlische und poetische Gerechtigkeit bei Nestroy und Raimund

 

 

 

Jürgen Hein: Einführung

Mit dem zentralen Thema der heurigen Nestroy-Gespräche betreten wir nicht nur ein weites und komplexes Forschungsfeld, sondern greifen auch eine aktuelle soziale Problematik auf.

Die Komödie thematisiert auf ihre spezifische Weise „soziale Gerechtigkeit“ und ist Instrument ausgleichender Gerechtigkeit. Insbesondere geht es um Literatur und Recht, Kriminalität und Literatur, um Rechtsfälle in der Literatur und Literatur als Rechtsfall, um Ethik und Ästhetik in der Literatur und auf dem Theater, um die „Gerichtsbarkeit der Bühne“ (Schiller) und die Komödie als „Tribunal“, schließlich auch um Theatergesetze, Urheberrecht, Zensur und Theaterpolizei, um nur einige Brennpunkte zu nennen. In diesem Kontext sind u.a. die Polizei- und Zensurakten von Interesse, darunter auch die „Geheimberichte“ an den Kaiser. [1]

Claude Conter hat vier Forschungsfelder skizziert, die die Referate und Diskussionen der heurigen Internationalen Nestroy-Gespräche anregen können: [2]

  1. [Law in Literature] Motiv- und themengeschichtliche Arbeiten über das in der Literatur dargestellte Recht.
  2. [Law and Literature as Language] Recht und Literatur als Medien mit vergleichbarer Funktion kultureller Kommunikation und sozialer Selbstverständigung (z.B. Gerichtsreden, Verhör, Verteidigung).
  3. [Law als Literary Movement] Parallelisierung rechtlicher Entwicklungen mit literarhistorischen, -ästhetischen oder geistes- und ideengeschichtlichen Entwicklungen.
  4. [Law and Literature as Ethical Discourse] Es geht um moralethische Wirkungen von Literatur, anknüpfend z.B. an das Literaturverständnis einer Epoche, das Schreiben von „Dichterjuristen“, Geschichte und Theorie der poetischen Gerechtigkeit, des gerechten Lebens usw. – mit Hinweis auf Jacob Grimms Formulierung in „Von der Poesie im Recht“ (1815), dass „recht und poesie miteinander aus einem bette aufgestanden waren“.

Für den „Vormärz“ hebt Conter vor allem folgende Aspekte hervor:

  • Bedeutung des Rechts und des Rechtssystems für das Schreiben, die Veröffentlichung und die Distribution;
  • Recht als Motiv und Thema; Rechtsvorstellungen (Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit im rechtspolitischen Kontext);
  • Literatur als justiziables Medium, als eine der Gerichtsbarkeit unterworfene Sache, nicht nur den Komplex „Zensur“ betreffend, sondern auch andere Steuerungsinstrumente im Verrechtlichungsprozess (Urheberrecht, rechtliche Gutachten usw.).

Nestroy war kein „Dichterjurist“, aber doch durch seinen Vater und sein eigenes juridisches Studium geprägt. Als Schauspieler, Autor und Theaterdirektor wurde er „straffällig“ und hatte – als „Täter“ und als Opfer“ – mit Polizei und Justiz, Recht und Gesetz zu tun. In vielen seiner Possen geht es um Gerechtigkeit, Strafe und Bewährung.

Delikte, Verbrechen, Rechtsbruch sind in der Posse „systembedingt“ und gattungskonform. Eine Auflistung der Vergehen nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch oder dem Strafrecht wäre wenig aufschlussreich, wichtiger ist das Motiv als dramatisches Movens mit gesellschaftlichen Implikationen. Zumeist gibt es eine „Possengerechtigkeit“: ein Happy End mit der Wiederherstellung der „gestörten“ bürgerlichen Ordnung sowie Bestrafung, Begnadigung, Vergebung oder Amnestie für reuige Bösewichte oder unrechtmäßige Abenteuer, nicht selten mit einer Hochzeit als „verdiente“ Strafe.

‚Negative‘ Volksfiguren, Intriganten und Störenfriede wie Nebel (Liebesgeschichten und Heiratssachen), Johann (Zu ebener Erde und erster Stock), Rochus (Nur Ruhe!); Puffmann (Der Unbedeutende), vielleicht auch Vincenz (Die beiden Herrn Söhne) werden in ihrer Unverbesserlichkeit vorgeführt, ihre „Resozialisierung“ erscheint fraglich.

‚Positive’ Volksfiguren wie Kasimir (Heimliches Geld, heimliche) oder Peter Span (Der Unbedeutende) erscheinen als „Rächer“ (so auch der Entwurftitel von Heimliches Geld, heimliche Liebe). In solchen Possen erleben wir die geglückte Verbindung von privaten und öffentlichen „Rechtsfällen“.

Besonders in den Stücken vor und nach der Revolution von 1848 hat Nestroy die – auch philosophische – Problematik von Recht und Rechtsprechung aufgegriffen. Bezeichnend ist der Kommentar Kerns in Der alte Mann mit der jungen Frau (1849; HKA Stücke 27/I, S. 24):

ANTON. Auf Zehn Jahr soll ich in Kerker, – Herr von Kern, ich glaub nicht daß ich zu viel sag‘, wenn ich sag‘ mir is zu viel gescheh’n.
KERN. Das is auch wieder wie man’s nimmt; verdammen Sie deßtwegen Ihre Richter nicht. Nach Revolutionen kann’s kein ganz richtiges Straf-Ausmaß geben. Dem Gesetz zufolge, verdienen so viele Hunderttausende den Tod – na­türlich, das geht nicht; also wird halt Einer auf lebensläng­lich erschossen, der Andere auf Fünfzehn Jahr eing’sperrt, der auf Sechs Wochen, noch ein Anderer kriegt a Medaille – und im Grund haben s‘ Alle das Nehmliche gethan.

Im weiteren Sinn spiegeln Raimunds Märchenwelt und Nestroys Possenwelt auf ihre spezifische Weise auch Recht und Gewalt (Macht, Kampf, Aggression, Zerstörung, Zwang; sexuelle, familiale, körperliche, psychische, ökonomische, politische Gewalt) und fordern das Publikum auf, zwischen poetischer und realer Gerechtigkeit zu differenzieren.

In Ferdinand Raimunds Der Verschwender wird Flottwell für sein „Vergehen“ dadurch bestraft, dass ihm Glück ihm im Diesseits versagt bleibt und er auf die himmlische Gerechtigkeit verwiesen ist, seine Besserung und Bewährung wird freilich durch das Geschenk materieller Sicherheit unterstützt.

Interessant ist, wie Nestroy seine Vorlagen im Blick auf die Rechtsthematik auswertet. Roger Bauer hat in diesem Kontext vor allem auf den Einfluss des französischen „Mélodrame policiér“ mit der Figur des „redresseur de torts“ („Rächer und Retter, Vorkämpfer für Gerechtigkeit und Humanität“) hingewiesen. [4]

Im Kontext der Aufführung der so gut wie nie gespielten Posse Die beiden Herrn Söhne geht es um einen weiteren Schwerpunkt der Gespräche: um ‚richtige‘ Erziehung einerseits und „Bildungsverweigerung“ andererseits als gesellschaftliche Prozesse, die in der Literatur spätestens seit dem „Bildungsroman“ und seiner Negation, Auflösung oder Dekonstruktion gespiegelt werden.

Zu den 22. Internationalen Nestroygesprächen 1996 sandte Dr. Nikolaus Michalek, österreichischer Bundesminister für Justiz (1990-2000) eine Grußadresse, die nachfolgend mit freundlicher Genehmigung des Autors wiedergegeben wird.

1 Vgl. Karl Glossy (Hg.): Literarische Geheimberichte aus dem Vormärz, Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 21 (1912), S. I–CXL, 1–145 und Johann Hüttner: Einen Jux darf man sich machen, „Geselliges Leben“ im Lichte einer amtlichen Chronik, in: Meyer, Claudia (Hg.): Bis zum Lorbeer versteig ich mich nicht, in: Fetschrift für Jürgen Hein, Münster 2007, S. 13-26.
2 Claude Conter (Hg.): Literatur und Recht im Vormärz, Jahrbuch Forum Vormärz Forschung 15 (2009), Einleitung, S. 11-22, hier S. 11f.
3 Vgl. auch den Abschnitt „Polizei – Justiz – Räuber – Gesetz“ in HKA Stücke 28/II, hg. von Walter Obermaier, S. 122-126 und allgemein zur politischen Dimension Wolfgang Häusler: Vom Standrecht zum Rechtsstaat, Politik und Justiz in Österreich (1848-1867)‘, in: Justiz und Zeitgeschichte, hg. von Erika Weinzierl u. a., Wien 1995, S. 11-36.
4 Roger Bauer: Nestroy und Frankreich, Neue Zürcher Zeitung, Nr. 285, 4./5. Dezember 1976, S. 67.

 

 

Dr. Nikolaus Michalek, Bundesminister für Justiz (1990–2000)
Grußwort 1996

Wenn der Bundesminister für Justiz unverhofft vom Nestroy-Komitee Schwechat eingeladen wird, für die 22. Internationalen Nestroy-Gespräche und die 24. Nestroy-Spiele auf Schloss Rothmühle [1996] den Ehrenschutz zu übernehmen und eine Grußadresse an die Teilnehmer zu richten, so stellt sich wohl mit Recht die Frage nach seiner Zuständigkeit für diese doch in den Kulturbereich ressortierende Angelegenheit.

Ein Blick auf Nestroys Leben und Werk zeigt freilich schnell eine ganze Reihe von Bezugspunkten zur Justiz. Nestroys Vater war Hof- und Gerichtsadvokat in Wien, er selbst hat zwei Jahre lang Rechtswissenschaften studiert. Mag er dieses Studium auch nur ungern betrieben haben, Einfluss auf sein Werk hat es unzweifelhaft gehabt. Seine Komödien sind geradezu gespickt mit Erscheinungen des Rechtslebens. Unter den Personen seiner wichtigsten Stücke finden sich an Justizpersonal – neben gefühlvollen und anderen Kerkermeistern – ein Oberrichter (Höllenangst), ein Justitiarius (Der Zerrissene), ein anderer Gerichtsbeamter (Zu ebener Erde und erster Stock) und immer wieder Notare (Der Talisman, Eine Wohnung ist zu vermieten, Kampl, Das Haus der Tempe-ramente, dort sogar vier Stück!). Der Justizminister, der in seinen früheren Ver-hältnissen selbst das Notarenamt ausübte, nimmt befriedigt zur Kenntnis, dass Nestroy seinen Notaren schöne und vollkommen zutreffende Namen wie Recht (Eine Wohnung ist zu vermieten) oder Falk (im Der Talisman, er ist hier wohl genauso scharfsichtig wie sein Berufskollege in der Fledermaus) gege-ben hat, dass der Notarius seine Amtsgeschäfte ordentlich betreibt und dass sogar der Tagschreiber bei noch einem Notar (Zu ebener Erde und erster Stock) sein Glück macht. Und erst die Fülle an rechtserheblichen Eigenschaften, mit denen Nestroy viele seiner Figuren ausstattet und charakterisiert. Alle Jus-tizmaterien sind da vertreten: Das Familienrecht (mit Mündeln und Vormün-dern), das Erbrecht (mit Brautleuten und Scheidungswilligen, Universalerben und Vererbern, aber auch Enterbern), das Schuldrecht (mit Schuldnern und Gläubigern), das Bestandrecht (mit Pächtern, Mietern und Vermietern). Auch das Sachenrecht kommt nicht zu kurz mit den Hausbesitzern oder wenn etwa im Stück Die Schlimmen Buben in der Schule anhand eines an der Grenze stehenden Birnbaumes das Überhangsrecht an den Früchten nach § 422 ABGB behandelt wird. Schließlich selbstverständlich auch das Straf-recht auch mit echten oder vermeintlichen Dieben, Räubern und Mördern und natürlich auch der Strafvollzug mit seinen Kerkermeistern und Gehilfen. Die Justiz ist in diesen Komödien immer gegenwärtig, sei es, dass sie zu Hilfe gerufen wird wie die Justiz von Hietzing (Eine Wohnung ist zu vermieten) oder dass sie empfohlen wird: „Unternehmen Sie gerichtliche Schritte, junger Mann ! Und zwar stehenden Fußes !“ (Der Schützling). Manchen verursacht das Wort „Justiz“ auch nur so ein halswehartiges Gruseln (Der Zerrissene). Aber nicht nur in der Rechtsordnung, auch in der Unrechtsordnung geht es bei Nestroy sehr rechtlich zu: Die zur Ermordung der verfolgten Wittib Adelheid Gedungenen sind keine gewöhnlichen, sondern selbstverständlich „geprüfte“ Mörder.

Bei soviel Justizbezug kann der Bundesminister für Justiz seine Zuständigkeit nicht verneinen und er nimmt mit Freude die Gelegenheit wahr, die Teilnehmer an diesen Nestroy-Gesprächen zu begrüßen und ihrer Arbeit viel Erfolg zu wünschen.

„Nun wäre alles abgetan, die Unterschrift nur fehlt noch dran. Es ist in Ordnung jeder Punkt, drum rasch die Feder eingetunkt.“

 

 

 

 

Norbert Bachleitner
Verbotene französische Theaterstücke rund um Nestroy

Die österreichische Zensur verbot allein im Zeitraum zwischen 1830 und 1848 170 französische Theaterstücke in der Originalsprache oder in Übersetzung. Auf der Grundlage der Datenbank in Österreich verbotener Schriften 1750-1848 wird ein Überblick über die Modalitäten der Verbotstätigkeit wie auch über die verbotenen französischen Stücke geboten. Letztere umfassten mehrheitlich historische Dramen (davon ein Teil von bekannten Autoren wie Casimir Delavigne, Alexandre Dumas oder Victor Hugo verfasst) und Vaudevilles (von Eugène Scribe und vielen anderen). Die Gründe für die Verbote von gedruckten Theaterstücken werden an zwei eher unbekannten politisch und moralisch verfänglichen Stücken von Honoré de Balzac (Vautrin) und George Sand (Les Mississippiens; beide 1840) erläutert.

 

 

 

 

Kerstin Hausbei
Nestroy zum Schweigen gebracht? Reflexionen zum Mimodram Les trois perruques von Marcel Marceau

Als Marcel Marceau mit seiner Compagnie du Mime 1953 am Théâtre des Champs-Elysées unter dem Titel Les Trois perruques eine Bearbeitung des Talisman zur Uraufführung brachte, war das für Publikum und Theaterkritik eine Begegnung mit einem bis dahin in Frankreich unbekannten Autor und Stück. Zwar war schon 1842 ein von Mélesville und Carmouche vorgenommener Rücktransfer von Zu ebener Erde und im ersten Stock auf einer Pariser Bühne zu sehen gewesen. Diesem waren dann aber einzig die deutschsprachigen Nestroy-Inszenierungen (u.a. auch des Talisman) am Theater von Metz vor dem Ersten Weltkrieg gefolgt. Zweifelsohne liefert die Sprachbarriere für die bis heute erstaunlich spärliche Nestroy-Rezeption in Frankreich eine Erklärung. Diese hatte Marcel Marceau, der selbst fließend deutsch sprach, umgangen, da er, auf sprachliche Einlagen in Form von Sprechtext, Projektionen oder Off-Stimme völlig verzichtend, ein gattungsstrenges Mimodram vorlegte, also ein „gemimtes Drama ohne Worte“, dessen „Handlung durch Gebärden ‚erzählt‘ wird und mehrere Figuren enthält“ (Agnieszka Kühnl-Kinel). Ebenfalls gattungsgemäß ergänzte Marceau das stumme Spiel durch eine von Edgar Bischoff eigens komponierte Musik mit narrativen Funktionen, sowie durch das von Jacques Noël raumsemantisch angelegte Bühnenbild und die ebenfalls von diesem gezeichneten historisierenden Kostüme. Dokumentiert (und partiell rekonstruierbar) sind Bearbeitung und Inszenierung durch zwei Fotografen, Etienne Bertrand Weill und Roger Pic, sowie durch eine von Roger Lauran 1956 publizierte, in der Tradition der Mimographen des 19. Jahrhunderts stehende Transkription der Bühnenhandlung, die als frühestes Textzeugnis des Talisman in französischer Sprache gelten kann. Anhand dieser Quellen lässt sich nachweisen, dass die teils weitreichenden dramaturgischen Eingriffe in Bühnenpersonal und Handlungsführung in enger Verbindung mit dem Medienwechsel stehen. Das Ausschalten des für Nestroy so wichtigen Mediums Sprache machte ungeachtet der Beibehaltung eines plurimedialen Rahmens und des mimetischen Prinzips vor allem eine tiefgreifende Veränderung der Informationsvergabe notwendig. Grundlage war dabei der von Marceaus Lehrer, Etienne Decroux, vollzogene Bruch mit der Tradition der Übersetzung von Bühnentexten in eine referentielle Gestensprache. Ähnlich den Bearbeitungen für Radio, Puppen- oder Papiertheater, wenn auch radikaler als diese, lässt sich die Arbeit Marceaus dem entsprechend am ehesten als intermediale Transposition (Werner Wolf) interpretieren, die die stark ausgeprägte Eigengesetzlichkeit des Mediums Geste zu beachten hatte. Die Tiefenstruktur des Nestroy-Stücks aufgreifend, die von Wolfgang Neuber als „eine höchst artifizielle Versuchs- oder Beweisanordnung, die zwar eine eigene Dynamik besitzt, jedoch stets in sich selbst neu ansetzt und das Spiel der Verstellung mit neuer Akzentuierung wiederholt“, zutreffend charakterisiert wurde, bleibt das Mimodram seiner Vorlage letztlich nahe. Im Werkkontext von Marceau gehört Les Trois perruques in enger semantischer Bindung an das von Gogol inspirierte Mimodram Der Mantel (1951) zu seinem Großprojekt, die narrative Pantomime (mime narratif) dauerhaft wieder in die Pariser Theaterlandschaft zu integrieren. Weltberühmt durch seine Bip-Pantomimen, ist Marceau mit diesem für ihn wesentlichen Projekt lebenslänglich gescheitert.

 

 

 

 

Johann Hüttner
Gerechtigkeit und Recht in der Theaterrealität zur Raimund- und Nestroyzeit.
Stichworte für eine Diskussionsrunde
Das Ende der poetischen Gerechtigkeit hinter der Bühne

Mag es in den Theaterstücken eine Form von Gerechtigkeit geben, indem das Böse bestraft und das Gute belohnt wird, wobei nicht selten Armut als Zeichen von Tugend und nicht als Folge sozialer Verhältnisse gesehen wird (vor allem in den Melodramen) und indem in der Komödie durch ein als gerecht empfundenes Happy End Strukturen vorgegeben werden, die im eigenen Leben so nicht vorliegen – im realen Theater jenseits der fiktionalen Ebene zeigt sich oft ein anderes Bild. Zustände im Betrieb des Theaters spiegeln, wenn auch gebrochen, die oft als ungerecht empfundene gesellschaftliche Realität der Außenwelt.

Aus den vielen Ansatzpunkten könnte man einige für die Diskussion herausgreifen und zum Beispiel auf „Gerechtigkeit“ einerseits und „Recht“ andererseits überprüfen:

  • Staatspolitische Nützlichkeit des Theaters: Monopol, Privilegierung, Konzessionierung; politische Zuverlässigkeit von Direktor und Personal. Was darf ein Theater (unabhängig von Zensurbewilligungen) spielen: z. B. Oper auf Italienisch, Ballett, Pantomime.
  • Theaterstrukturen: Hoftheater (in Hofregie oder verpachtet), Privattheater in den Vorstädten, reisende Truppen: Wer sind die tatsächlichen Entscheidungsträger? Was ist ein „Direktor“?
  • Zensur des gesprochenen Wortes anders als des gedruckten: Nützlichkeit der Zensur für Direktoren, daher gegen Abschaffung. Besonders interessant 1848 bis 1850.
  • Verhältnis Direktor zu Personal: Herr – Diener oder Arbeitgeber – Arbeitnehmer? Rechte und Pflichten der am Theater Beschäftigten; vgl. private „Theatergesetze“ der Direktoren; das Schauspielergesetz lag noch in ferner Zukunft (1922); Gastspiele, Debütvorstellungen auf Probe.
  • Keine Zahlungen bei temporären Theaterschließungen (Epidemien, Katastrophen etc.) bzw. bei Pleiten.
  • Asymmetrische Kündigungsmöglichkeiten. Kündigungsgründe z.B. für Extemporieren; bei Frauen für Heirat ohne Bewilligung des Direktors; bei Krankheit, Schwangerschaft, Gedächtnisverlust. Erschwerte Kündigungsmöglichkeiten, wenn Schauspieler Theater verlassen wollten.
  • Frauen am Theater: rechtliche Diskriminierung; systemimmanente (und nicht moralisch konnotierte) Notwendigkeit eines „Beschützers“; Frauen auf kleineren Bühnen für Beistellung des Kostüms verantwortlich.
  • Leistungsvereinbarungen nach Stückzahl vor allem mit Autoren und Komponisten. Zusammenarbeit mit Theateragenten. Einführung der Tantieme als Rückschritt?
  • In Wien Benefizvorstellungen für einige zur Gagenaufbesserung üblich: welche Stücke, Termine, Anzahl, Finanzielles, welche Risiken? Einfluss des Publikums.
  • Theater sehr personalintensiv und personalkostenintensiv. Stars einerseits und nicht-solistisches Personal andererseits; Ausbeutung.
  • Neben dem Verhältnis Direktor und Untergebener auch Werte- und damit auch Anerkennungshierarchie: Sparten; Rollenfächer; Schauspieler/Sänger; Maschinisten und Handwerker, Bühnen- und Kostümbildner; Musiker; Choristen, Tänzer.
  • Sicherheit: Brände, Krankheiten durch mangelnde sanitäre Verhältnisse.
  • Publikum als Konsument und „Produzent“: gezielte Spielplanangebote (z.B. Sonntags- und Sommerstücke); Platzkategorien und Gedränge; Motive des Theaterbesuchs; „Zensur“ durch Publikum; Motive für Theaterbesuch außerhalb des Theaterinteresses; was macht einen Theaterfolg aus? Publikumsstrukturen. Beeinflusst Sympathie und Antipathie in der öffentlichen Meinung gegenüber Direktoren die politischen Entscheidungsträger?
  • Sind bzw. wie sind solche Fragen in den Stücken thematisiert? (z.B. das vermittelte Bild von Theater; Theaterberufe in den Namen der dramatis personae).
  • u.v.m.

Henk J. Koning
Irdische, himmlische und poetische Gerechtigkeit bei Nestroy

Kurios᾽s is doch eigentlich ein Himmelskörper, dieser Weltkörper, aber ohne Geld is es durchaus nicht himmlisch auf dieser Welt –

Das sind Worte des Porträt- und Zimmermalers Patzmann aus der Posse Eisenbahnheiraten oder Wien, Neustadt, Brünn. Patzmann räsoniert in einem Monolog über die Macht des Geldes auf alle Facetten des Lebens und endet sein darauffolgendes Lied mit der Schluβfolgerung Laβts mich aus mit der Welt, Es is nix ohne Geld.

Alles dreht sich ums Geld. Ohne Geld bewegt sich wenig und ist man ausgeschlossen von vielen Freuden des Lebens. Man kann da anderer Meinung sein, Aber die Macht des Keingeldes ist furchtbar („Nur Keck!“). Irdische Gerechtigkeit ist durch die ungleiche Verteilung des Geldes als Form des sozialen Miteinanders, bei der es keine gesellschaftlichen Spannungen gibt und der Einzelne in Harmonie mit seinen Mitmenschen ein glückliches Leben führen kann, eine Utopie und leuchtet als Idealzustand in vielen Nestroyschen Stücken allenfalls am Ende blitzartig auf.

Ohne Vorurteile, Intrigen und soziale Miβstände kommen Nestroys Possen nicht aus und wäre der Zündstoff für manchen Witz nicht gegeben. Dabei kann zum Beispiel an das soziale Elend der drei vazierenden Handwerksburschen aus Der böse Geist Lumpazivagabundus oder ebenfalls an ein Trio aus Müller, Kohlenbrenner und Sesseltrager gedacht werden. Hier ist von irdischer Gerechtigkeit kaum eine Spur vorhanden und wird der Zuschauer mit einer Wirklichkeit konfrontiert, die einer unbefangenen Heiterkeit stellenweise nur wenig Raum läβt.

Muβ das Streben nach irdischer Gerechtigkeit mit der Aufforderung verbunden werden, ungerechte Zustände anzuprangern und soll überhaupt versucht werden gerechte Situationen wiederherzustellen? Bewegen die Possen Nestroys sich in diese Richtung? Beschreibt er in seinen Stücken unakzeptable Verhältnisse, um durch deren Aufdeckung gegen unmoralisches Handeln vorzugehen? Nestroy als Befürworter einer irdischen Gerechtigkeit? Alles Fragen, auf die versucht werden soll anhand von einzelnen Stücken eine Antwort zu formulieren.

In einer Gesellschaft ohne Gerechtigkeit ist das Individuum vogelfrei und der Willkür ausgeliefert. Vor allem die sozial Unterprivilegierten sind leicht verwundbar und müssen bestimmte Eigenschaften mitbringen um nicht im Strudel des gesellschaftlichen Treibens unterzugehen. Nur so können Diener und Kammermädchen sich durch ihre Pfiffigkeit und Lebensklugheit behaupten. Sie durchschauen in manchen Fällen gewisse Prozesse und sorgen wie Schnoferl aus Das Mädl aus der Vorstadt, daβ die soziale Gerechtigkeit siegt und die Benachteiligten nicht leer ausgehen, sondern durch ihre Lebenserfahrung sogar noch besser abschneiden.

Streben nach irdischer Gerechtigkeit ist zwar wünschenswert jedoch nicht das Hauptanliegen vieler Nestroyscher Gestalten. Da steht nicht selten Selbstverwirklichung auf Kosten anderer zentral und gilt primär Eigennutz. Nestroy ist da durchaus skeptisch und läβt zum Beispiel den armen Seilergesellen Fabian Strick – ursprünglich eine Nestroy-Rolle – in Die beiden Nachtwandler sagen: Ich glaube von jeden (sic) Menschen das Schlechteste, selbst von mir, und ich hab mich noch selten getäuscht. (I, 16)

Himmlische Gerechtigkeit als Zukunftsideal, das letzten Endes alle irdische Not und Miβstände aufheben wird, fand aus Zensurgründen in den Stücken Nestroys keinen Platz. Es sei denn man betrachtet den Zauberrahmen in seinen frühen Stücken als metaphysische Konstruktion, die dem fast hoffnungslosen irdischen Treiben deus es machina-artig ein Ende macht und vordergründig einen erwünschten Idealzustand kreiert, der den gebesserten Personen ein biederes friedfertiges Leben garantiert.

Die Aphorismen bieten einige zerstreute Hinweise wie Nestroys dachte über das unvermeidbare Ende unseres hiesigen Daseins. Aphorismus 63: Das Leben is kein Glück, denn es is eine lebenslängliche Straf᾽, durch das Bewuβtsein, daβ man sterben muβ, ein Todesurteil, von dem wohl der Tag der Vollstreckung nicht angegeben wird, von dem aber auch kein Pardon zu hoffen is. Aphorismus 69: Wir sind alle Delinquenten, die der Scharfrichter Tod mit dem Rad der Zeit zerschmettert. Was nach dem Tode passiert, bleibt für Nestroy Spekulation. Da wird von Himmelbewohnern gesprochen, die von ihrer hohen Warte aus die Erdenbewohner sehen können und sich wundern wie die Dinge unten vor sich gehen. Von einem Ausgleich aller irdischen Ungerechtigkeiten im transzendenten Bereich ist in den Nestroyschen Aphorismen keine Rede. Hier gibt er keine Antworten; anzunehmen ist, daβ er, der ewig Zweifelnde, sie einfach nicht wuβte.

Und wie geht Nestroy mit der poetischen Gerechtigkeit, das heiβt den in der Dichtung erscheinenden, in der Wirklichkeit vermißten Kausalzusammenhang von Schuld und Strafe um? Wird am Ende der Posse eine heile Welt präsentiert, in der alle dissonanten Töne beseitigt sind und das anfangs getrübte irdische Glück sich in eine frohe Zukunft verwandelt hat? Beispiele sollen zeigen, daβ die Schluβtableaus nur notdürftig Spannungen zu tarnen vermögen, dazu ist ihre Realitätsnähe zu groβ.

Auch hier bleibt Nestroy der Skeptiker, der zwar in seinen Stücken Gerechtigkeit als Gebot der Sittlichkeit anerkennt und durch einzelne Personen gerechte Verhältnisse wiederherstellt, aber auch weiβ, daβ die poetische Gerechtigkeit nie so perfekt ist, daβ alle Probleme gelöst werden können.

Wer gerecht sein will, hat die Pflicht seine Mitmenschen fair zu behandeln. Wenn man Gerechtigkeit als Gebot der Sittlichkeit anerkennt, dann trägt jeder Einzelne einen Teil der Verantwortung dafür, daβ letzten Endes ehrliche Verhältnisse entstehen.

 

 

 

 

Johann Lehner
Index und Konkordanz zu Nestroys Stücken und Briefen

Online-Datenbank

  • mit Text aller Nestroy-Stücke (Haupttexte der HKA), Nestroy-Briefe aus „Sämtliche Briefe“, „Reserve“
  • Texte zerlegt in einzelne Sätze (insgesamt ca. 210.000), jeder Satz mit Wortindex und Konkordanznummer
  • weitere Felder: Jahresangabe, Handschrift ja/nein, Verweis auf PDF-File
  • PDF-Files (jeweils eine Doppelseite der Buchausgabe)
  • Wörterbuch mit allen vorkommenden Wörtern; mehr als 30.000 Einträge, jeder Eintrag mit den einzelnen Wortformen, wie sie im Text vorkommen

Wie ist es gemacht?

  • bei den seit 1992 erschienenen HKA-Bänden konnten die Satzdaten weiterverarbeitet werden; davor erschienene Bände wurden eingescannt und möglichst genau nach dem Vorbild der Buchausgabe neu gesetzt
  • Zerlegung in Einzelsätze, Eintragung der Konkordanzzahl (immer Satzbeginn)
  • Indexerstellung und Erstellung des Wörterbuchs
  • jedes Wort in seiner Grundform mit den konkret vorkommenden Formen
  • nur wenige Wörter ausgeklammert (ich, du, er, sie, es, etc. haben, sein, werden, der, die, das, ein, eine, mein, dein, sein)

Wörterbucherstellung

  • erster Arbeitsgang: Zuordnung automatisch bzw. manuell
  • nicht eindeutige Zuordnungen manuell
  • neue Zuordnungen manuell
  • fremdsprachige Wörter gesondert
  • zweiter Arbeitsgang: manuelle Kennzeichnung von Zusammensetzungen, die der Computer nicht erkannt hat
  • dritter Arbeitsgang: Vereinheitlichungen und Korrekturen des Wörterbuchs, Ergänzung der Jahresangaben, Handschrift ja/nein, Einarbeitung der Corrigenda laut Nachtragsbänden und Nestroyana

Nutzen

  • Gibt es nicht ohnehin genug Nestroy im Internet?
  • Qualitäten: verlässlicher Text, Suchfunktion mit Wörterbuch
  • einfache Suche, genaue Suche, Wörterbuchsuche
  • Nicht Ersatz für Buchausgabe, sondern zusätzliches Werkzeug

Wörterbuch

  • Problemfelder:
  • Übergang Fremdsprache – Fremdwort – Lehnwort
  • Zusammen-/Getrenntschreibung, Bindestrich
  • Pseudofremdsprachen
  • alte/neue Rechtschreibung
  • Neologismen
  • Eigennamen
  • historische und mundartliche Formen
  • Abgleich mit heutigen und historischen Wörterbüchern

Verbesserungspotential

  • neue Rechtschreibung
  • Verbindung mit gescannten Handschriften
  • Verbindung mit Datenbank der ÖAW
  • Kennzeichnung der Eigennamen
  • Farbunterlegung in PDF

Alice Le Trionnaire-Bolterauer
Die Rettung der Welt oder das Sich-Einrichten in ihrer Verlorenheit. Raimunds und Nestroys Komödien-Schlüsse „revisited“

Ausgehend von einem Modell der Ritualforschung, das menschliches Handeln bzw. gesellschaftliche Vorgänge einem Dreischritt einschreibt, nämlich dem von Krise, Chaos und Wiederherstellung der Ordnung, möchte ich versuchen, dieses Schema einigen Stücken von Ferdinand Raimund und Johann Nestroy überzustülpen und zu fragen, welche Konsequenzen sich daraus für die Handlungsabfolge und für den Schluss, das notwendige happy end, ergeben.

Dabei wird sich zeigen, dass sich Raimunds Stücke tatsächlich in Einklang mit einem solchen Modell befinden, d.h., dass sie ihren Ausgang bei einem Vorfall, einem Ereignis nehmen, das als einschneidend empfunden wird – einschneidend deshalb, weil es die gewohnte Ordnung der Dinge und der Verhältnisse auf den Kopf stellt. Dieses „Ereignis“, das die Krise auslöst, kann von außen kommen oder auch der Maßlosigkeit des Protagonisten entspringen. Auf jeden Fall bricht danach das „Chaos“ aus. Die Bezugspunkte menschlichen Verhaltens gehen verloren. Die Figuren verlieren ihre „Heimat“, ihre Identität. Der Bauer Fortunatus Wurzel protzt als Neureicher in der Stadt, die orientalische Königin Alzinde findet sich als „altes Weib“ auf einer öden Alpe wieder. Es bedarf komplizierter Handlungen, oft auch schwerer Prüfungen, bis eine neue Ordnung gefunden oder die alte Ordnung wieder hergestellt werden kann. Das happy end ist dann die Besiegelung dieser neu etablierten Ordnung. Der Satz „Zufrieden muss man sein“ (aus dem Verschwender) kann als signifikante Bestätigung dieser neu gefundenen Ordnung verstanden werden.

Bei Nestroys Stücken glückt der Versuch, diesen Dreischritt auf den Handlungsverlauf und das Schicksal der Figuren zu übertragen, allerdings nicht. Zwar bringt hier oft die Ankunft einer fremden Person einen neuen Aspekt in das soziale, politische, wirtschaftliche oder sentimentale Gefüge eines Orts, einer Gesellschaft, doch eine wesentliche Veränderung ist damit nicht verbunden. Dieser Neuankömmling muss höchstens versuchen, mit der Unordnung, die er vorfindet, zurechtzukommen und nicht „unterzugehen“. Doch die „Unordnung“, das „Chaos“ ist schon vorher da und bleibt auch bis zum Ende des Stücks bestehen. Das happy end, auf das auch Nestroy in seinen Posen und Parodien nicht verzichtet, hat hier eine völlig andere Funktion als bei Raimund. Es illustriert nicht die wieder gefundene Ordnung und die Einordnung des Individuums in diese, sondern markiert höchstens eine kleine „Pause“, ein kleines „Atemholen“. Deswegen wirken Nestroys happy ends auch häufig so künstlich und unerwartet. Sie sind nämlich bloß der Gattung „Komödie“ oder „Posse“ geschuldet und bringen nicht den glückhaften Abschluss einer krisenhaften Entwicklung zum Ausdruck.

 

 

 

 

Marion Linhardt
„… uns die Tugend liebenswürdig und das Laster verhaßt zu machen!“ Theaterästhetische Überlegungen zu Denis Diderots Comédie Le Père de famille und Johann Nestroys Posse mit Gesang Das Mädl aus der Vorstadt

Das Mädl aus der Vorstadt oder Ehrlich währt am längsten wurde in einem theaterhistorischen Kontext uraufgeführt, in dem Johann Nestroys Stücke im Widerstreit von Posse und Volkstück diskutiert wurden. Wie unter anderem die Dokumentation in Stücke 17/II und W. Edgar Yates’ entsprechende Analysen zeigen, bezog sich die Kritik an den Possen der späten 1830er und der frühen 1840er Jahre vor allem auf die Heranziehung französischer Vorlagen und auf den satirischen Grundton. Der geplante Vortrag möchte sich der möglichen Wirkabsicht von Das Mädl aus der Vorstadt von einer vielleicht überraschenden Perspektive aus nähern, nämlich von den theater-/dramenästhetischen Überlegungen Denis Diderots und seiner 1760 in Marseille uraufgeführten Comédie Le Père de famille aus. Dabei sollen jene Figuren im Zentrum der Überlegungen stehen, die sowohl in den Uraufführungsrezensionen zu Das Mädl aus der Vorstadt als auch in der Forschung kaum beachtet wurden, nämlich das Paar Thekla/Gigl, deren Schicksal und Begegnung gleichsam die Grundlage für das vom führenden Personal des Nestroy-Ensembles (Nestroy, Carl Carl, Elise Rohrbeck, Marie Weiler, Louis Grois) getragene Possengeschehen bilden.

 

 

 

 

Julius Lottes
Die Subversivität des Textes. Zwei Possen Adolf Bäuerles vor dem Hintergrund der vormärzlichen Öffentlichkeit

Während die moderne französische Textkritik viele literatur- und kulturtheoretische Angebote gemacht hat, Texte zu lesen und zu verstehen, ist der Theaterraum der Wiener Vorstädte im 18. und 19. Jahrhundert in „materialiter“ der Posse imstande, das zu bieten, was Foucault und Derrida angedacht haben. Die Wesenszüge der Posse stünden den höchst abstrakt gebliebenen Gedanken von Diskursmacht und Gegenlektüre wesentlich besser zu Gesicht, als es literaturtheoretische Konturen je vermocht haben.

Ziel meiner Ausführungen ist es, Adolf Bäuerle (1786-1859), einen der fast vergessenen Wiener Vorstadttheaterdichter, der bestenfalls dem überdurchschnittlich literarisch interessierten Österreicher ein Begriff sein dürfte, im Spannungsfeld zwischen Kunst, Kommerz und Obrigkeitsstaat näher zu beleuchten.

Das österreichische bzw. wienerische Unterhaltungstheater des Vormärz ist als ein dialogisches Wechselspiel denkbar, in dem die Theaterdichter, die Schauspieler und die Zuschauer – als vormärzliche Öffentlichkeit begreifbar – unter den erschwerten Produktions- und Rezeptionsbedingungen des Vormärz durch Illusionsbrüche und Anspielungen subversiv an der Zensur vorbei zu kommunizieren gelernt haben.

Bäuerle, den Johann Nestroy wohl aufgrund einer positiven Rezension seiner Posse Einen Jux will er sich machen als „Vorbield [!]“ und „Gründer“ der Posse betrachtete, war als vormärzlicher Theaterunternehmer gezwungen, sozialkritische und „tages“politische Fragen aufgrund des Metternichschen „Gebot des Schweigens“ (Adam Müller) auf Sozialformen wie die des Theaters versteckt auszulagern. In diesem Theater als Versammlungsraum der österreichischen Öffentlichkeit im Vormärz nahm ein Publikum Platz, das über die Erfahrungskontinuität des Lachens aus einem Jahrhundert Wiener Komödie die eigenen Formen des Politischen im Literarischen zu dekodieren wusste.

Die Arbeit bedient sich der Hypothese, dass die literaturästhetische-soziokulturelle Anspielungskultur durch die restaurativen Staats- und Kulturpolizisten noch einmal zugenommen hat, vielleicht sogar ihren Höhepunkt erreicht hat.

Die beiden Possen, auf die ich näher eingehen möchte, waren nicht nur zwei der zugkräftigsten Erfolge Bäuerles, sondern repräsentieren zudem auch unterschiedliche Kategorien der Anspielungskultur.

Im Falle der Bürger in Wien sind es historisch situative Anspielungen um das Schicksalsjahr 1813, das die teils delirierenden Wortausschweifungen Staberls in einem neuen Licht erscheinen lässt. Die Ambiguität der Posse einerseits als habsburgloyales Stimmungsgemälde der Zeit und andererseits so mancher Illusionsbruch im Bezug auf die vormärzliche Propaganda laden dazu ein, die Figuren der Posse über ihre sozioökonomische wie gesellschaftlich politische Bedeutung zu kontrastieren.

Der Fiaker als Marquis soll als ein typischer Fall der historisch konstellativen Anspielungskultur vorgestellt werden, weil hier eine durch die Französische Revolution geschaffene Figurenkonstellation durchgespielt und ihren Konsequenzen näher beleuchtet wird. Die Szenen um den einfachen Knackerl und seine Versuch, sich den adeligen Habitus anzueignen, wechseln zwischen Affirmation und Sozialkritik und erreichen im Tanz der Fiaker ihren ikonographischen Höhepunkt.

 

 

 

 

Matthias Mansky
„[…] das ist die Nemesis, die dramatische Gerechtigkeit!“ – Anton Langer und seine Posse Die Mehlmesser-Pepi

Die wissenschaftliche Aufarbeitung des Wiener Vorstadttheaters in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts darf weiterhin als Forschungsdesiderat betrachtet werden. Helga Crößmann, die sich bereits 1975 gegen die ‚Verfallsthese‘ des Vorstadttheaters nach Nestroy ausgesprochen hat, verweist in Zusammenhang mit einer sozialen Umschichtung des Publikums auf Spielplankrisen, die gattungstypologisch betrachtet den „Eindruck einer verwirrenden Vielfalt“ hinterließen, was mit einer Suche der einzelnen Vorstadttheater nach ihrer Identität und einem spezifischen Publikum (Johann Hüttner) korrespondiert. Moritz Csáky hat sich in seinem kulturhistorischen Essay Ideologie der Operette und Wiener Moderne mit der gesellschaftlichen und kulturellen Relevanz des Unterhaltungsgenres auseinandergesetzt. Sein Ansatz, dass die Rezeption von Theatertexten bzw. der Operette Schlüsse auf das ‚Cultural Behaviour‘ seiner Leser und Zuschauer zulasse, verweist auf eine Funktion des Unterhaltungstheaters als Repräsentant kultureller und politischer Mentalitäten bzw. als Sprachrohr von Ansichten und Sehnsüchten ganz bestimmter sozialer Schichten. Dieser methodische Ansatz, der im Rahmen einer ‚Rekontextualisierung‘ das populäre Theater als Reflexionsmedium der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse diskutiert, soll für eine Interpretation von Anton Langers erfolgreicher Posse Die Mehlmesser-Pepi (1857) herangezogen werden. Langers umfangreiches journalistisches und dramatisches Werk lässt ihn als regelrechten Massenproduzenten erscheinen. Seine Stücke respondieren auf dramatischer Ebene sowohl auf die politischen Turbulenzen innerhalb der Habsburgermonarchie nach 1848 als auch auf die nun einsetzenden zeitgenössischen Volkstheater- bzw. Volksstückdebatten. In seiner Posse Die Mehlmesser-Pepi nutzt Langer – im Gegensatz etwa zu Nestroy – die dramaturgische Offenheit der Gattung für eine Integration didaktischer und patriotischer Momente, die seiner intendierten Rolle als ‚Volksdichter‘ entsprechen. Dennoch findet das Stück im konventionellen Happy-End wieder zur Komik zurück und kommt so dem Unterhaltungsanspruch seines Publikums nach.

 

 

 

 

Beatrix Müller-Kampel
Raimund und Nestroy im Puppentheater des 19. Jahrhunderts – Die Bestände der TWS Köln und der SKD Dresden/Museum für Sächsische Volkskunst mit Puppentheatersammlung

Die Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln / Schloss Wahn und die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden / Museum für Sächsische Volkskunst mit Puppentheatersammlung enthalten die europaweit und vermutlich sogar weltweit größten und bedeutendsten Bestände zur Geschichte v.a. des europäischen (Wander-)Marionettentheaters. Beide Archive bergen mit mit ihren Sammlungen an Marionetten, Stock- und Handpuppen, Masken und Schattenspielfiguren und mit ihren tausenden Manuskripen und Rollenbüchern aus den Nachlässen namhafter Puppenspielerdynastien aus dem 19. und frühen 20. Jh. sowie aus privaten Sammler-Nachlässen (beispielsweise von Wilhelm Löwenhaupt, dem früheren UNIMA-Vorsitzenden, in Köln, und des Leipziger Lehrers und Puppenspiel-Historiographen Otto Link in Dresden), wahre Schätze. Ästhetisch wie auch historiographisch als „trivial“, „banal“ oder „ordinär“ stigmatisiert, harren diese Zeugen des Puppentheaters und hier v.a. die handschriftlichen Rollenbücher der Entdeckung, Erarbeitung, Erforschung. So weit scheint klar, dass an Komödienautoren des 19. Jahrhunderts nur zwei regelmäßig und offenbar mit nicht wenig Erfolg durch die (Wander-)Puppenspieler adaptiert wurden: Ferdinand Raimund und Johann Nepomuk Nestroy. Der Vortrag bietet einen Überblick über die einschlägigen Funde an der TWS (Köln) und der Puppentheatersammlung der SKD (Dresden).

 

 

 

 

Yvonne Nilges
„Bonmots auf die ewige Gerechtigkeit“: Recht und Witz bei Johann Nestroy

Die Gerechtigkeit – als irdische, himmlische und poetische – nimmt im Œuvre Johann Nestroys, der selbst Jurisprudenz studierte, einen ebenso breiten wie vielschichtigen Raum ein. Der projektierte Vortrag soll Nestroys besonderer Spielart der Rechtsbehandlung nachgehen, indem verschiedene Aspekte des Gerechtigkeits-Begriffs in Nestroys Werken exemplarisch untersucht werden: Von Delikten und Delinquenten (d.h. juristisch klassifizierbaren Rechtsfällen in Nestroys Stücken) über die poetische Kategorie der Nemesis bis hin zur witzigen Kritik, die sich in Nestroys Sprache und in seiner Form (Travestie, Parodie usw.) als ‚metadramatischer‘ Beitrag zur Gerechtigkeit bekundet. Dem Recht bei Nestroy (und was sich all dort Ferneres mit ihm begab) soll sich also, gleichsam in einer Eilwagenreise durch Nestroys Rechtswelt, systematisch angenähert werden. Was bedeuten Recht und Witz bei Nestroy in ihrer für ihn symptomatischen Verknüpfung und ihren verschiedenen Darstellungsarten? Und welche Wirkung vermochten und vermögen sie als „Bonmots auf die ewige Gerechtigkeit“ [Judith und Holofernes] beim zeitgenössischen Wiener Vorstadtpublikum und darüber hinaus bis heute zu entfalten?

 

 

 

 

Sigurd Paul Scheichl
Nestroy bei den Völkischen

Von 1899 bis 1906 erschien in Innsbruck (später in Linz) das dem Simplicissmus nachgebildete ‚Witzblatt‘ Der Scherer, das ziemlich extreme völkische, zumal antiklerikale Positionen vertrat und dem politischen Programm Georg v. Schönerers nahe stand. Literarisch war Der Scherer das Sprachrohr der so genannten Jung-Tiroler, die, atypisch für die Deutschnationalen, eine Öffnung der Tiroler Literatur- und Kulturszene zur Moderne anstrebten.

Obwohl das deutschnational-völkische Umfeld für Satire nicht besonders hellhörig war, hat die Zeitschrift zum 100. Geburtstag des Dramatikers eine Nestroy-Nummer herausgebracht, ein eher seltenes Beispiel für deutschnational-völkische Rezeption des Dramatikers. Das Heft ist auch als eine Stimme der ‚Provinz’ zum damals viel gespielten, aber literarisch noch nicht wirklich ernst genommenen Wiener Autor bemerkenswert.

In Verbindung mit dem Heft entstand eine Postkarte von dem deutschen Grafiker Erich Heermann, auf der sich um das Bild des Dichters die Titel seiner in den Augen der Zeitschrift wichtigsten (26) Stücke gruppieren – ein Hinweis auf den Nestroy-Kanon um 1900, der von unserem doch deutlich abweicht. Im Heft ist, was nicht weiter überraschen kann, besonders von Freiheit in Krähwinkel die Rede, war doch Metternich ein traditionelles Feindbild der österreichischen Deutschnationalen, die die franzisko-josephinischen Regierungen in dieser Tradition sahen. Das eifrige Walten des Zensors gegen den Scherer mag diesem Bezug eine gewisse Berechtigung geben.

Ergänzend werde ich noch ein paar andere kurze Hinweise zur Rezeption Nestroys geben: So wurde 1900 Eulenspiegel in Innsbruck im Rahmen des Kindertheaters aufgeführt.

 

 

 

 

Matthias Schleifer
Im Zeichen des Ypsilons: Zur Nestroyrezeption Paul Feyerabends

Paul Feyerabend (1924–1994; von 1958 bis 1989 Professor in Berkeley, zeitweise auch in Berlin und an der ETH Zürich tätig) war ein großer österreichischer Denker des 20.Jahrhunderts. In Auseinandersetzung mit Wissenschaftstheorie und Ethik des Wiener Kreises, Wittgensteins und Poppers entwickelte er sich zum „Relativisten“, der mit dem Schlagwort „anything goes“ populär wurde. Seine vielfältigen Interessen galten u. a. dem Operngesang, der Astronomie, der Kunstgeschichte; auch auf Literatur kommt Feyerabend immer wieder zu sprechen, besonders ausführlich in einer Passage in „Erkenntnis für freie Menschen“ (Ffm. 1980). Zu den öfters erwähnten Autoren gehört Nestroy – einmal in eine Reihe mit Aristophanes und Damon Runyon, andernorts als Unterhalter den finster ernsthaften systematischen Philosophen entgegen-gestellt. Das Referat will zum einen der Frage nachgehen, worauf Feyerabends Wertschätzung Nestroys beruht – ob er ihn zu Recht als geistigen Vorläufer und Mitstreiter reklamieren könnte; wie „relativistisch“ ist Nestroy? Zudem wird gefragt – überzeugende Antworten werden nicht garantiertbzw. garantiert ausbleiben -: was bedeutet Gerechtigkeit / dikaiosyne im Feyerabendschen Kosmos? spielt sie in Nestroys Stücken eine dementsprechende Rolle? Entwirft Nestroy (um 1848) das Modell einer „freien Gesellschaft“ im Sinn Feyerabends (oder das einer „offenen“ im Sinn Poppers)? Zudem: was verbindet Feyerabend (bzw. sein Nestroybild) mit (dem von) Egon Friedell (1878-1938)? Schließlich: wie sähe eine an Feyerabend orientierte Literaturwissenschaft aus, wie ginge sie mit Nestroy um? im Vergleich z.B. mit der an Popper orientierten von Karl Eibl, der sich mit Nestroy befasst hat.

 

 

 

 

Johann Sonnleitner
„Unbestimmte Ordnung“ und „poetische Gerechtigkeit“ in Nestroys Lumpacivagabundus-Komplex

Ich möchte mich nun den Nestroyschen Possen im Umfeld des Lumpacivagabundus vom Rande her annähern, nämlich über die Rekonstruktion des Ordnungsdiskurses. „Zur unbestimmten Ordnung“ nennt sich in der desillusionierenden Fortsetzung des Lumpacivagabundus seltsamerweise ein eher anrüchiges Wirtshaus, wobei durch die für Gasthäuser in Österreich gängige Präposition ein überraschendes Paradox einschleicht. Nicht verwundert hätte es, wenn es etwa „zur schönen Ordnung“ oder „zur alten oder neuen Ordnung“ oder ähnlich benannt wäre; die „unbestimmte Ordnung“ hingegen läßt aufhorchen, und es wird dem Leser oder Zuschauer rasch deutlich, daß der Autor in dem Oxymoron, in der contradictio in adjecto einen tieferen Sinn versteckt hat.

Im Vormärz ist der Begriff der Ruhe und Ordnung eine immer wieder kehrende Formel, die ausgehend von Rechtstexten zum politischen Schlagwort mutierte. In den Stücken im Umfeld des Lumpacivagabundus scheint Nestroy durch die irritierende Rekurrenz des semantischen Feldes der Ordnung, das nachzuzeichnen sein wird, den obrigkeitsstaatlichen Ordnungsdiskurs aufzugreifen und satirisch zu unterminieren.

Daß Posse und poetische Gerechtigkeit eine schwierige, wenn nicht unmögliche Beziehung zu einander unterhalten, ist auch dem Kaiser Franz in seinem Handschreiben vom Dezember 1834 aufgefallen.

 

 

 

 

Martin Stern
Drei Figurationen poetischer Gerechtigkeit: Beethovens Fidelio, Raimunds Alpenkönig und Nestroys Mädel aus der Vorstadt – als Beitrag zum Prozess der Säkularisation im frühen 19. Jahrhundert

I

Seit 2006 gibt es – vielfach kritisiert und offiziell von den christlichen Kirchen nicht zugelassen – die Bibel in gerechter Sprache. Sie will vor allem bewirken, dass die Rolle von Frauen im Alten und Neuen Testament nicht länger marginalisiert wird.

Wann ist eine Entscheidung, eine Rede, wann sind Gesetze und Urteile gerecht? Dikaiosyne, Gerechtigkeit, so referiert es das Historische Wörterbuch der Philosophie, galt in der antiken Staatslehre als kongruent mit der göttlichen Weltnorm und bei Aristoteles als höchste Tugend. So wirkt Schnoferls Ausruf, Gerechtigkeit sei „das erste“, in Szene IV/19 von Nestroys Mädl aus der Vorstadt fast wie ein Zitat. Aber was ist und leistet Gerechtigkeit in der gesellschaftlichen Praxis? Klar hat das der Römer Ulpian formuliert: „iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum unicuique tribuendi“ (Gerechtigkeit sei der feste und beständige Wille, jedem und jeder das Seinige zu geben“). Was aber wäre dieses Seinige? Christliche Auslegungen betonten im Mittelalter die alleinige Zuständigkeit Gottes und seiner Liebe in Fragen des Rechts und der Gerechtigkeit. Die Scholastik, besonders Thomas von Aquin, bestand auf der Verschränkung von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, was noch bis Leibniz nachwirkte als „caritas sapientis“, als Güte des Weisen.

Gerechtigkeit nach neuerer Ansicht (Stammler) ist eine Denkform des „sozialen Ideals“. Sie blieb bis zu den Frühsozialisten an die jeweilige gesellschaftliche Ordnung gebunden. „Jedem das Seine“ hieß bis tief ins 19. Jahrhundert hinein nie „Jedem das Gleiche“, sondern „Jedem das ihm Gemäße“. Schon diese kurzen Bemerkungen zeigen, dass im philosophischen Diskurs schwer eine Einigung zu erzielen ist. Das jedem/jeder Gemäße ist als Rechtsbegriff untauglich; es unterliegt dem geschichtlichen Wandel.

Anders steht es aber, und einfacher, um den Begriff der poetischen Gerechtigkeit, mit dem wir uns hier in der Folge befassen. Die kürzeste Formel dafür lautet (bei Gero von Wilpert): „der in der Dichtung oft erscheinende, in der Wirklichkeit vermisste Kausalzusammenhang von Schuld und Strafe.“ [1] Etwas differenzierter hält das Lexikon der Filmbegriffe dazu fest, der Terminus und die entsprechende poetische Praxis seien umstritten, bemerkt aber gleichwohl, dass „bis heute der Ausgleich der >vices and virtues< die Schließungsstrategien von Filmen und Dramen regiert.“ [2] Das kann nur meinen, dass entgegen gängiger Erfahrung wer Gutes tut im Film und Drama letztlich belohnt oder doch dafür gewürdigt wird und dass wer Böses tut seine wie immer geartete Strafe empfängt.

Aufs engste mit dieser wie gesagt in der „Höhenliteratur“ spätestens im 20. Jahrhundert in die Krise geratenen Abschluss-Ästhetik verknüpft war von je her natürlich die Frage, welcher Instanz jeweils textintern die am Ende das Publikum befriedigen sollende, glückbringende oder strafende Wendung zuzuschreiben war. Nennen die Figuren sie Glück, Schicksal, Vorsehung, göttliche Allmacht, Zauberkraft oder Zufall? Scharfsinnig hat Knut Hamsun dazu einmal bemerkt: „Ein Zufall, der Gutes bringt, wird als Vorsehung angesehen, ein Zufall jedoch, der böse ausgeht, ist Schicksal.“ Hinter der Vorsehung steht ein Vorsehender, in christlicher Tradition Gott. Und da er ein Gott der Liebe ist, wird ihm das überraschende Gute zugeschrieben. Schicksal als antiker Begriff verweist auf keine positiv konnotierte Urheberschaft. Der Terminus wird daher häufiger für negative Überraschungen verwendet, die dann Schicksalsschläge heißen.

In der Folge wird, wie mein Titel besagt, der Versuch gemacht, am Beispiel eingestandener Maßen sehr unterschiedlicher Dramentexte zu zeigen, wie rasch sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die theatrale Praxis hinsichtlich poetischer Gerechtigkeit gewandelt hat. Noch 1772 konnte Lessing die Gräfin Orsina in Emilia Galotti sagen lassen, das Wort Zufall sei Gotteslästerung; und fünfzehn Jahre später, 1787, meint Schillers Marquis Posa in Don Karlos: „Den Zufall gibt die Vorsehung – / Zum Zwecke muss der Mensch ihn gestalten.“ Und noch im November 1805, als Fidelio im Theater an der Wien zum ersten Mal erklang, war „Vorsehung“ ein Schlüsselwort für die wunderbare Rettung Florestans. Aber das änderte sich: Raimund bemühte 1828 ein Märchen-Szenario, um seinen Rappelkopf zu bessern, und Nestroy gab 1841 das ganze Spiel der Überführung und und Bestrafung des Übeltäters in menschliche Hände.

II

FLORESTAN: O schwere Prüfung! – Doch gerecht ist Gottes Wille!

Beethovens Oper Fidelio zum Text von Schuberts Freund Joseph Sonnleithner gilt seit langem als das Hohe Lied der Gattenliebe. Aber welche Kräfte sind da eigentlich am Werk, um den dem Hass seines Feindes Pizarro zum Opfer gefallenen spanischen Adeligen Florestan vor der Ermordung im Gefängnis zu bewahren?

Roccos, des Kerkermeisters, schwankende Seele ist dafür nicht stark genug. Er empfindet zwar Mitleid mit dem Gefangenen, gehorcht aber dem brutalen Befehl, ihn langsam verhungern zu lassen und am Schluss sogar der Weisung, rasch sein Grab zu schaufeln. Die Rettung ihres geliebten Mannes ist das einzige Ziel Leonores, dem sie mit List, Mut und Opferbereitschaft zustrebt, aber nicht allein auf sich gestellt. Was verleiht ihr die Kraft dazu? Im Terzett Nr. 5 in II/4 erklärt sie dem Publikum: „Ich hab auf Gott und Recht Vertrauen“. Und dieses Vertrauen teilt ihr hungernder Gatte, der nach seiner Labung mit Wein im Terzett Nr. 13 singt: „O Dank! Ihr habt mich süß erquickt; / ich kann die Wohltat nicht vergelten“ – aber verbunden mit dem Wunsch: „Euch werde Lohn in bessern Welten, / der Himmel hat euch mir geschickt.“ Und nachdem er auch das ihm von Leonore heimlich zugesteckte Brot gegessen hat, mahnt ihn diese ihrerseits: „Beruhige dich! Vergiss nicht, es gibt eine / Vorsehung. Ja! Es gibt eine Vorsehung.“ Diese Ermahnung aber hat der Gefangene kaum nötig, der ja schon zu Beginn des zweiten Aktes in Nr. 11 (Introduktion und Arie) die jesusnahen Worte fand: „O schwere Prüfung! Doch gerecht ist Gottes Wille! / Ich murre nicht: das Maß der Leiden steht bei dir.“

In der Welt von Beethovens Libretto steht für dessen Figuren fest, dass Gottes Wachsamkeit und Macht den Zufall lenkt, den es insofern nicht gibt. Dieser Glaube überbrückt jeden Zweifel an der Unwahrscheinlichkeit der Koinzidenzen, die Florestans Rettung – abgesehen von der Heldentat seiner Gattin – erst ermöglichen: Der Minister hat erfahren, dass das Gefängnis „Opfer willkürlicher Gewalt“ enthalte, noch bevor Florestan verhungert ist. Fidelio/Leonore hat sich eine kleine Pistole verschaffen können und hält den Gouverneur Pizzarro so lange in Schach, bis der inspizierende Minister im Gewölbe erscheint! Auch das Volk und die Gefangenen loben im Finale (Nr. 16) nicht nur die “Huld“ – die Opfertat der liebenden Gattin – sondern auch die „Gerechtigkeit“ mit dem Text: „Heil! Heil sei dem Tag, Heil sei der Stunde, / die lang ersehnt, doch unvermeint, / Gerechtigkeit mit Huld im Bunde, / vor unsers Grabes Tor erscheint.“ Und martialisch-pathetisch singt derselbe Chor nochmals kurz darauf: „Bestrafet sei der Bösewicht, / der Unschuld unterdrückt! / Gerechtigkeit hält zum Gericht / der Rache Schwert gezückt.“ Was Don Fernando, der Minister, zusammen mit Marcelline und Rocco mit den Worten bekräftigen: „DON FERNANDO: Gerecht, o Gott, ist dein Gericht! MARCELLINE UND ROCCO: Du prüfest, du verlasst uns nicht.“ In dieser Welt gibt es noch keinen Zweifel an der Omnipräsenz Gottes als Garant auch irdischer Gerechtigkeit.

III

Weil nicht Vernunft kann dein Gemüth gewinnen,
Soll Geistermacht zu deinem Glück dich zwingen

Wer sich als Menschenhasser gebärdet, erscheint den Seinen wie auch der Gesellschaft als korrekturbedürftig. Raimunds Romantisch-komisches Original-Zauberspiel Der Alpenkönig und der Menschenfeind gibt dieser Korrektur eine Chance, indem es berichtet, dass der reiche Gutsbesitzer Rappelkopf, der negative Held und Patient, durch erlittenes Unrecht zu dem geworden sei, der er nun ist: verbittert, misstrauisch und böse auch gegen seine nächsten Angehörigen, Frau, Tochter und Dienerschaft. Unterbliebe diese Mitteilung, wäre auch angeborener Menschenhass als Ursache möglich; und eine ererbte Eigenschaft gilt ja gemeinhin gegenüber einer erworbenen als viel schwerer kurierbar. Doch wie dem auch sei, vorerst scheitern alle Bemühungen seiner Nächsten kläglich, wie seine Tochter Malchen in I/6 verzweifelt feststellt: „Wie gerne würden wir alles dafür tun, ihn von unserer Liebe zu überzeugen; doch wer lehrt ihn die Fehler seiner unbilligen Heftigkeit einsehen und ablegen, […]“? [3]

So braucht es den helfenden Eingriff einer höheren Macht. Und diese ist dazu bereit, quasi aus wohltätiger fürstlicher Großmut. Bemerkenswert scheint dabei allerdings, dass für Astralagus, den Alpenkönig, nicht etwa die Umerziehung Rappelkopfs als solche Anlass seines Eingriffs ist, sondern Mitleid mit dem Liebespaar Malchen und August, dessen Glück der Vater des Mädchens grundlos verhindern will. Damit deren Ehe zustande kommen kann, muss Rappelkopf von höherer Hand gebessert werden. Wie es im Refrain des frommen Kinderliedes Gott ist die Liebe heißt (zu 1. Joh. 4.8): „Gott ist die Liebe, er liebt auch mich“, greift in Raimunds Zauberspiel die höhere Instanz im Namen der Liebe in die Menschenwelt ein. Wie im Libretto von Fidelio ist es der Ehewunsch des liebenden Paares, der den Herrscher zum helfenden Eingriff animiert: Astralagus hat es „inniglich erfreut“, dass beide „so seltsam treu“ noch denken; darum hat er ihnen „seine Fürstengunst geweiht“ (I/6, S. 15). Alle von seinen Angehörigen unternommenen Versuche, den verstockten Menschen- und insbesondere Frauenhasser zu bekehren, mussten scheitern, bis endlich, wie dies Astralagus Rappelkopf gegenüber begründet, seine Zaubermacht eingreift: „Weil nicht Vernunft kann dein Gemüth gewinnen, / Soll Geistermacht zu deinem Glück dich zwingen,“ (I/27, S. 50).

Hier hat sich nun die Zielsetzung erweitert: Als Gatte und Vater wird auch Rappelkopf davon profitieren, dass sich der Alpenkönig für das Liebespaar einsetzt. Diese Fokussierung auf das junge Liebespaar war hier wohl gattungsbedingt. Genau so verdient hätte die überirdische Hilfe die ebenfalls schwer leidende, engelsgute Gattin Antonia mit ihrem fast heiligenmäßigen Mitleid für Rappelkopfs „Seelenkrankheit“ (I/8, S. 17). Sie denkt durchaus christlich, wenn sie sich schützen will gegen den möglichen geheimen Wunsch, ihr Mann möge sterben. Sie will sich lieber selbst „entfernen“ (I/15, S. 28). Das Ende von Rappelkopfs Misogynie und die Versöhnung mit der Gattin bleiben aber im Stück merkwürdig marginal.

Und merkwürdig unkoordiniert mit der Haupthandlung der „Geistermacht“ gibt es in Raimunds Stück eine zweite Macht, deren Wirken offenbar keiner Erklärung bedarf: das Geld. Es ist im Hause des Herrn von Rappelkopf ausreichend einfach vorhanden und dient diesem und auch seiner Gattin dazu, die kollektive Kündigung der terrorisierten Dienerschaft zu verhindern. Dieser Geld-Diskurs läuft auf einer zweiten, unteren Ebene ab, spielt aber auch für das liebende Paar eine Rolle, wenn der aus Italien zurückkehrende Maler August Dorn seinem künftigen Schwiegervater mitteilt, er sei nun ausgebildet und imstand, eine Familie zu ernähren. Zum Geld hat der Alpenkönig seinerseits offenbar keine Beziehung. Zwar bittet ihn Rappelkopf nach seiner Bekehrung, er möge ihm jetzt doch bitte sein verlorenes Vermögen zurückerstatten. Aber das geschieht nicht durch „Zaubermacht“, sondern der in Venedig als Bankier tätig gewesene Schwager Silberkern – nomen est oben – hat eine hohe Einlage Rappelkopfs noch rechtzeitig zurückgezogen und damit gerettet, bevor das venezianische Bankhaus in Konkurs ging (II/ 29, S. 88).

Mit solchen modernen Geschäften gibt sich der Geisterfürst Astralagus nicht ab. Er lebt zeitenthoben als eine Art oberster Jägermeister in den Alpen und widmet sich vornehmlich der Jagd, wenn auch in philanthropischer Absicht, So soll, wie er seine Gefolgsleute instruiert, „in der Geister Walten / Lieb` und Großmut mächtig schalten“ (I/3, S. 7), was konkret bedeutet, dass ein Teil der jeweiligen Jagdbeute „An Bewohner nied`rer Hütten“ abgegeben wird. Die krasse Ungleichheit zwischen diesen und den Bewohnern der Gutshöfe und Stadtpalais zu kritisieren oder gar beseitigen zu wollen, steht nicht in seinem Programm. Das ist – historisch reaktionär – noch nicht Gegenstand irdischer oder himmlischer Gerechtigkeit.

IV

Ehrlich währt am längsten

In der TV-Serie Ein Fall für zwei wird der Privat-Detektiv Matula von Leuten, die er ungebeten observiert, gelegentlich – und nicht besonders wohlwollend – mit „Schnüffler“ tituliert. Dem wohl aus der Zoologie entliehenen Wort „schnüffeln“ entstammt vermutlich auch der Name des Winkel-Agenten Schnoferl in Nestroys Posse Das Mädl aus der Vorstadt oder Ehrlich währt am längsten. Er forscht und kombiniert in diesem Stück selbstlos zu Gunsten der verängstigten jungen Thecla Stimmer und ihres zu Unrecht des Diebstahls bezichtigten Vaters. Aber er heimst nach der erfolgreichen Überführung des wahren Übeltäters Herr von Kauz quasi als Lohn seiner Selbstlosigkeit auch einen Gewinn und die Hand seiner Angebeteten, der wohlhabenden Witwe Frau von Erbsenstein ein. Sie ist so reich, dass sie ihn seinen vielen mühevollen Kleingeschäften entbindet, damit er sich fortan ausschließlich der Verwaltung ihres Vermögens widmen kann. So endet die Posse. Doch zuvor, als er sich zum Richter über den betrügerischen Spekulanten von Kauz aufschwingt, spricht er das gewichtige Wort: „Gerechtigkeit ist das erste, strenge Gerechtigkeit“ (III/19). [4] Der Satz ist weder ein Hilferuf noch eine Forderung an irgendeine höhere Instanz. Er ist die Mitteilung der Entschlossenheit seines Sprechers, nun selbst als Richter zu walten und das Urteil zu vollstrecken. Der öffentliche Rechtsweg wird damit umgangen, und das nicht ganz ohne Nebenabsichten. Denn damit erspart der selbsternannte Sheriff Schnoferl der Familie des überführten Betrügers, der als Nichte auch die angebetete junge Witwe von Erbsenstein angehört, die Schande eines Gerichtsverfahrens mit Schuldspruch und Gefängnis. Und er kann andererseits so dafür sorgen, dass alle von Kauz Geschädigten wirklich zu ihrem Recht kommen, das heißt, eine angemessene Summe als Genugtuung erhalten. Je länger Kauz sich sperrt und protestiert, desto mehr muss er bezahlen.

Auf die vielen unmotivierten Zufälle brauche ich hier nicht weiter einzugehen; sie dienen allesamt dem Witz, der Komik, der Überraschung und Stringenz der Bühnenhandlung. In der Gattung Posse muss sie der Autor nicht rechtfertigen. Was zu zeigen war ist, dass in dieser Welt um 1841 keinerlei transzendente Macht bei der Wiederherstellung von Recht und Ordnung mehr benötigt wird. Ein Einzelner, ein rechtsempfindliches Individuum, nimmt diese Wiederherstellung an die Hand. Er gehört in die Reihe der Detektive und Kommissare, die im Kriminalroman und Kriminalfilm auf eigene Faust und oft gegen das ineffiziente oder korrupte System den Übeltäter ermitteln und zur Strecke bringen.

V

Von Georg Lichtenberg stammt der Satz, der Mensch sei ein Ursachen suchendes Wesen. Der „Ursachensucher“ würde er im System der Geister genannt werden können. Das ist wohl auch der Grund, warum unerwartete Ereignisse – in der Wirklichkeit wie im Theater – fast zwingend von der Frage nach dem Grund und Urheber des Geschehenen gefolgt sind. Und in der Philosophie hat ja bekanntlich der „Satz vom zureichenden Grund“ seine eigene, lange Geschichte.

Nicht weniger intensiv scheint die Frage nach dem Wesen wahrer Gerechtigkeit die Menschheit von je her beschäftigt zu haben. Sie entsprang wohl der Erfahrung großer Verletzlichkeit und häufigen Mangels dessen, was als das Rechte, Billige, Humane empfunden wurde. Schon Heraklit hat festgestellt: „Den Namen des Rechtes würde man nicht kennen, wenn es das Unrecht nicht gäbe.“ [5]

Aber immer gab es auch jene, die sich selbst für gerecht und für Garanten des Richtigen hielten. Jesus hat in der Bergpredigt Pharisäer und Schriftgelehrte für solche Selbstgerechtigkeit scharf getadelt, weil sie sich damit begnügten, die Gesetze und Gebote besser als andere ihres Volkes einzuhalten.

Nun gibt es in Gottfried Kellers Die Leute von Seldwyla von 1856 einen Text, der in seiner skurrilen Art genau diesen Typus der Selbstgerechten aufs Korn nimmt. Provozierend bürgerliche Eigenschaften werden den drei gerechten Kammmachern – so der Titel der Novelle – vom Erzähler zugeschrieben, aber auch der von allen dreien zur Frau begehrten Jungfer Züs Bünzlin, Eigenschaften, die noch heute in der Regel positiv konnotiert sind. Die Kammmacher und ihre Angebetete gelten als fleißig, „artig und vernünftig“, ihr Tun und Lassen als „klug und zweckmäßig“. Sie sind enthaltsam, trinken nie über den Durst, halten sich fern von der Politik und meiden feuchtfröhliche Gesellschaft, ja im Wettbewerb um Züs Bünzlins Gunst tragen sie „Frömmigkeit und Demut“ zur Schau. – Warum bereitet ihnen der Erzähler Gottfried Keller dennoch ein groteskes und trauriges Schicksal? (Einer erhängt sich, der zweite verkommt im Elend, der dritte gerät unter den Pantoffel seiner noch selbstgerechteren Ehefrau.)

Die Erzählung gibt sich in einem theoretisch-moralischen Vorspann als weltliche Predigt gegen modernes Pharisäertum zu erkennen. Keller schreibt, es sei in seiner Novelle „nicht die himmlische Gerechtigkeit gemeint oder die natürliche Gerechtigkeit des menschlichen Gewissens, sondern jene blutlose Gerechtigkeit, welche aus demVaterunser die Bitte gestrichen hat: Und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unsern Schuldnern! Weil sie keine Schulden macht und auch keine ausstehen hat; welche niemandem zu Leid lebt, aber auch niemandem zu Gefallen, wohl arbeiten und erwerben, aber nicht ausgeben will und an der Arbeitstreue nur einen Nutzen, aber keine Freude findet. Solche Gerechte werfen keine Laternen ein, aber sie zünden auch keine an und kein Licht geht von ihnen aus;“ [6]

Damit sind wir keinen Steinwurf entfernt von Raimunds Herrn von Rappelkopf, der stur erklärt: „Ich brauch` nichts von den Leuten und sie kriegen auch nichts von mir, nichts Gutes, nichts Übles, nichts Süßes und nichts Saures.“ [7] Und ähnlich selbstgerechte Männer und Frauen ließen sich wohl auch bei Nestroy finden. Es geht allemal um bürgerliche Pharisäer, deren geistlichen Vorgängern Jesus in der Bergpredigt zurief: „Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr verzehntet die Minze, Dill und Kümmel und lasset dahinten das Schwerste im Gesetz, nämlich das Gericht, die Barmherzigkeit und den Glauben!“ [8]

 

 

1 Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Weltliteratur, 5. Aufl., Stuttgart 1969, S. 578.
2 Filmlexikon Universität Kiel HJW
3 Ferdinand Raimung, Der Alpenkönig und der Menschenfeind. Mit einem Nachwort von Jürgen Hein. Herausgegeben im Auftrag der Raimundgesellschaft von Gottfried Riedl, Wien 2006, S. 14.
4 Johann Nestroy, Das Mädl aus der Vorstadt, herausgegeben von W. Edgar Yates, Historisch-kritische Ausgabe: Stücke 17/II, Wien 1998, S. 94.
5 Heraklit, Spruch 11895.
6 Gottfried Keller, Die drei gerechten Kammmacher, Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe, herausgegeben unter Leitung von Walter Morgenthaler im Auftrag der Stiftung Historisch-Kritische Gottfried Keller-Ausgabe, Bd. 4: Die Leute von Seldwyla. Erster Band, hg. von Peter Villwock u. a., Zürich und Basel 2000, S. 215.
7 Raimund, Der Alpenkönig (wie Anm. 3), S. 23.
8 Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der deutschen Übersetzung D. Martin Luthers, Stuttgart 1923, Matthäus 23, Vers 23.

 

 

Reinhard Urbach
Schnoferl und Naderer – Agenten in der österreichischen Literatur vor und nach 1848

Die Literatur, wenn sie die Verflechtung mit der sozialen und politischen Wirklichkeit für notwendig hält, kann an den charakterlichen Deformationen der Zeitgenossen nicht vorübergehen. Informanten, Denunzianten, Schnüffler, Spione, Agenten sind Figuren und Themen, auf die die Literatur zu jeder Zeit und in allen Gattungen reagiert hat. Sie gerät damit zwangsläufig mit der Zensur in Konflikt. Denn wie kann sie so etwas wie einen Geheimagenten thematisieren, den es offiziell gar nicht gab, also auch in der die Wirklichkeit beschreibenden Literatur auch nicht geben durfte.

Die Monarchie der Habsburger betrachtete den Staat als ihr legitimes Eigentum, das sie mit Hilfe einer geheimen Staatspolizei zu schützen und zu erhalten trachtete. Während die Polizei für die schutzbefohlene Bevölkerung wachte, wachten die Geheimagenten über sie. Der Geheimen Polizei wurde folgerichtig die Zensurbehörde zugeordnet. Die Zensur ist keine ästhetische Institution, die die Qualität des Fingierten beurteilt, sondern ein politisch-moralisches Organ, das die Sauberkeit der Gesinnung prüft und damit einen staatserhaltenden Zweck verfolgt. Im Unterschied zu Agentenwesen arbeitet die Zensur offiziell. Jeder weiß, dass er sein Manuskript einreichen muss, dass das Buch, wenn es nach dem Imprimatur erscheint, immer noch verboten werden kann, dass der Bezug indizierter Bücher aus dem Ausland bei Strafe untersagt ist. Aber keiner weiß, nach welchen Regeln beurteilt wird, die Zensurvorschriften sind nicht publik gemacht worden, es gibt kein Zensurgesetz, sondern nur interne Vorschriften für die Behörde. Wer unerlaubt im Ausland publiziert, muss dies unter Pseudonym tun wie Anton Alexander Graf von Auersperg, der als „Anastasius Grün“ seinen Gedichtzyklus „Spaziergänge eines Wiener Poeten“ in Deutschland veröffentlicht. Als er enttarnt wird, muss er Strafe zahlen und sich auf seine Güter zurückziehen. Der Wiener Spaziergänger hatte die österreichischen Zustände als verdorbene Idylle vorgeführt. Es könnte so schön sein, wenn es keine „Naderer“ gäbe. Es ist noch nicht geklärt, wann der Spottname für den geheimen Agenten aufgekommen und wie er entstanden ist. Charles Sealsfield kennt ihn schon und erfindet dafür die englische Vokabel „nadler“.

Das heimische Theater kann im Vormärz nicht so pathetisch vom Leder ziehen, wie der anonyme Spaziergänger im hämischen Ausland. Wenn Nestroy sich der Figur des Agenten annehmen will, muss er sie gegen die Zensur immunisieren. Mit „Agent“, wie die Berufsbezeichnung Schnoferls in „Das Mädl aus der Vorstadt“ heißt, kann ein Vermittler – kein Ermittler gemeint sein. Beides trifft im Stück zu. Aber er handelt nicht in staatlichem – geheimen – Auftrag, sondern bleibt privat. Er sorgt für die Wiederherstellung von Recht und Ordnung, ohne staatliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das ist die kleine Freiheit des Grätzels vor dem Gesetz: Mir wern kan Richter brauchen.

Einen anderen Trick wendet Friedrich Wilhelm Hackländer an – zwar kein österreichischer Autor, aber sein Lustspiel „Der geheime Agent“ hat am 15. Mai 1851 am Hofburgtheater Premiere, hält sich 36 Jahre lang auf dem Spielplan und bringt es zu insgesamt 54 Aufführungen. Dass es überhaupt so einen Titel geben durfte, war durch die Ereignisse der Revolution von 1848 begründet, die Existenz geheimer Agenten im vormärzlichen Polizeistaat war offenkundig geworden und konnte auch von der Zensurbehörde nicht mehr geleugnet werden. Hackländer spielt mit dem Phantom-Charakter. Sein Trick: Es war doch immer so, dass es Geheimagenten nicht geben durfte, obwohl jeder von ihrer Existenz wusste. Bei ihm gibt es ihn wirklich nicht. Der junge Herzog eines deutschen Kleinstaates erfindet ihn, um seinen Hof unter Kontrolle zu bekommen.

Das Problem des offenbaren Phantoms ist auch nach der Revolution geblieben. Mehr noch: Es hat sich verschärft. Eine neuerliche Reaktion des Überwachungsstaates hat nichts am Agentensystem geändert. Im Gegenteil: Es hat sich verschlimmert. Der volkstümliche Autor Anton Langer – bekannt durch seine jahrzehntelang populäre Zeitschrift im Wiener Dialekt „Hans Jörgel“ – versucht es mit der Flucht nach vorn. Er will den Naderer als literarische Figur retten, ohne Anstoß zu erregen. In seinem Kolportageroman „Der alte Naderer“ von 1867 stellt er den Polizeiagenten als liebenswerte, identifikationsträchtige Figur vor. Er ist doch kein Denunziant! Vielmehr wird er zur positiven Figur, die ein wachsames Auge auf mögliche Unrechtmäßigkeiten der Bevölkerung hat. Das entspricht der Ideologie und Definition des Geheimagenten von Anbeginn. Man erwartet von ihm „Treue, Eifer, Unparteilichkeit, Uneigennützigkeit“. Der Agent – der ideale Beamte, der ideale Mensch. Oder wie es in Hans Joachim Schädlichs „Trivialroman“ von 1998 heißt: „Gute Schnüffler werden immer gebraucht.“

 

 

 

 

W. Edgar Yates
„Nestroy’s neueste Posse trägt fast alle Fehler zur Schau, die wir an unseren Volksstücken beklagen“

Die „Posse mit Gesang“ Die beiden Herrn Söhne ist 1844 entstanden, ein Jahr nach dem Erscheinen eines der schärfsten kritischen Angriffe auf sein Werk in Saphirs Rezension über die Premiere von Nur Ruhe!. Bezeichnend für Nestroy sei, so Saphir, „seine Herabziehung zum Gemeinen, seine innige Vorliebe für das Häßliche, seine Leidenschaft für das Niedrige und Triviale im Leben, in der Gesellschaft“ (Der Humorist, 20. November 1843). Inzwischen hatte Nestroy mit einer seiner größten Erfolgskomödien, Der Zerrissene, Triumphe gefeiert. Erst nach weiteren neun Monaten ging sein nächstes Stück über die Bühne des Theaters an der Wien. Der Autor der im Titel dieses Referats zitierten Besprechung aus der Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode (der sogenannten Modezeitung), Gustav von Franck, spricht nicht nur für sich allein, sondern spielt zusammenfassend auf die kritische Debatte über Nestroy (und über Carls Theater) an. Vor diesem Hintergrund wird das Referat kurz auf die Entstehung des Stücks eingehen, auf Nestroys Umarbeitung der Entwurffassung, auf die Bedenken, die in den Besprechungen zum Ausdruck kommen, auf die Intentionen Nestroys als Satiriker und schließlich auf die Folgen des Misserfolgs.