Höllenangst
Ein psychologisches Meisterwerk
Mit „Höllenangst“ zeigen wir heuer wohl eines der schönsten, aber zugleich auch dunkelsten, vieldeutigsten und anspruchvollsten Stücke Johann Nestroys – ein psychologisches Meisterwerk. Entstanden ist es im Jahr 1849, in schweren, finsteren Zeiten, da das verhaßte „Zopfen-System“, welches die Bevölkerung mit der Revolution von 1848 beseitigen hatte wollen, in Gestalt einer brutalen absolutistischen Militärdiktatur zurückgekehrt war, die nun das Land mit eiserner Faust unterdrückte. Der Traum von einer freieren, gerechteren, fortschrittlicheren, aufgeklärteren Gesellschaft schien endgültig und mit einem Schlag ausgeträumt. Das war sogar für den Revolutions-Skeptiker Nestroy ein tiefer Schock, den er in den folgenden Stücken – unter dem Druck der wiedereingeführten Zensur – literarisch-theatralisch zu verarbeiten suchte. Mit dem Vormärz-Regime hatte er ja schon in „Freiheit in Krähwinkel“ abgerechnet; mit den unleugbaren Schwächen und Auswüchsen der Revolution in „Lady und Schneider“; mit den neuen militärischen Machthabern der Reaktion in „Judith und Holofernes“ und im „Alten Mann mit der jungen Frau“. Vor allem in letzterem kommt seine Verachtung und Abscheu vor den neuen restaurativen Verhältnissen dermaßen klar und unverhohlen zum Ausdruck, daß Nestroy es nicht wagte, das Stück zur Aufführung zu bringen.
Mit „Höllenangst“ geht er nun formal einen anderen Weg. Um die Zensur zu täuschen, verschlüsselt er die Geschichte in einer scheinbar zeitlosen, kafkaesk anmutenden Parabel, in deren Rahmenhandlung an der Macht befindliche „böse“ Adelige von „guten“ Adeligen bekämpft und abgelöst werden. Daß Nestroy mit den „Bösen“ die Metternich-Kammarilla und mit den „Guten“ die neue Militärregierung der Restauration gemeint haben könnte, ist wohl nur die für die Zensur gedachte oberflächliche Auslegungsvariante. Nein – die dunkle Diktatur der „Bösewichter” meint natürlich den Polizeistaat von 1849, und der kann einem wirklich höllenangst machen.
Nestroy schildert den politischen Albtraum primär aus der Sicht des völlig verelendeten Proletariats, das ständig zwischen die undurchschaubaren Fronten politischer Machtkämpfe gerät; das zwischen den „Guten“ und den „Bösen“ (vielleicht sogar zu recht?) gar nicht mehr unterscheiden kann; und dessen Not und Perspektivelosigkeit so groß geworden ist, daß es sich auch dem Teufel verschreiben würde, wenn es ihn gäbe, um wenigstens halbwegs überleben zu können.
Um das Parabelhafte zu betonen, das auch in unseren Tagen Gültigkeit hat, und um jegliche unangemessene „Verbiedermeierung” zu vermeiden, haben wir auf die Originalmusik Hebenstreits verzichtet. Die zweifellos musikalisch interessante Neukomposition durch Hanns Eisler für die legendäre Karl Paryla-Aufführung in der Scala 1948 erschien uns problematisch, weil sie zu einem Großteil Texte vertont, die nicht aus dem Original stammen und bearbeitend hinzugefügt wurden. Da wir zudem das immer gestrichene, weil offenbar unterschätzte „Quodlibet“ als signifikanten Bestandteil des Stückes betrachten, haben wir Otto M. Zykan, den theatererfahrenen, sprachgewaltigen Altmeister der österreichischen Musik-Avantgarde, um eine Neuvertonung gebeten. Ein spannendes Experiment, das – nach mehr als dreißig Jahren erfolgreicher Auseinandersetzung mit Nestroy – unser Spektrum stückadaequater Interpretationsmöglichkeiten um eine neue Erfahrung bereichern soll. (Peter Gruber)
Revolutionäres im Gewand der Posse
Nach vier Wiederholungen verschwand die Posse „Höllenganst“ vom Spielplan (Carltheater, 17.–21. November 1849). In der zeitgenössischen Theaterkritik fand sie wenig Resonanz; die Rezensenten warfen Nestroy vor, er beute „Tagesereignisse“ aus, statt ein „echtes Volksstück” zu bieten, seine Stoffwahl sei ein Fehlgriff gewesen, „höheren Anforderungen“ sei er nicht gerecht geworden. Man äußerte gar die Befürchtung, der „Born der Nestroyschen Laune“ sei versiegt. Der Aufeinanderprall von alter, bis in barocke metaphorische Vorstellungen zurückreichende Theatertradition und fast ungefilterten Alltagserfahrungen sozial Unterprivilegierter – darin eingebettet politische Symbolik – hat möglicherweise das damalige Theaterpublikum überfordert.
Den sozialen, politischen und humanen Gehalt der im Umkreis der Revolution von 1848 und ihren Nachwehen angesiedelten politischen Komödie hat erst die Nachwelt erkannt. Hanns Eisler, der 1948 eine neue Musik für das Stück komponiert hat, faßte die „poetische Idee“ so zusammen: „Damit ein armer Mann von den Mächtigen menschlich behandelt wird, muß er entweder einen Pakt mit dem Teufel geschlossen haben oder wenigstens daran glauben.“
Mit ihren spezifischen Mitteln spielt die Posse auf das durch mancherlei neue Erfahrungen und Umwälzungen irritierte Sicherheitsbedürfnis der Menschen im 19. Jahrhundert, besonders in den vierziger Jahren an und entfaltet die Dialektik von intellektueller Aufklärung und volkstümlich-irrationalem Aberglauben, wobei die Hoffnung auf eine Hilfe von oben mehrdimensional und zugleich fragwürdig wird.
Der Dialog der Posse ist mit historischen Schlagwörtern gespickt, die z.T. ernst-komische, melodramatische Handlung verbindet Anspielungen im Kontext der Revolutions-Ereignisse 1848/49 mit Komödien-Teufeleien.
Zwei nicht mehr erhaltene Verse zu einem Couplet-Entwurf Nestroys lauten: „Weil uns traumt hat von Freyheit, muß’s a wirkliche geb’n, / wenn s’ auch in Jahrhunderten erst tritt ins Leben.“ Sie drücken die weltanschauliche Fundierung der Posse ebenso aus wie die in den Monolog-Entwürfen geäußerte Schicksalsphilosophie Wendelins, die so kühn war, daß sie erst in unserem Jahrhundert von der Bühne herab verkündet werden konnte. Sie artikuliert den Menschheitstraum nach Freiheit und Überwindung von Determinismus und Fremdbestimmung, durch welche Macht auch immer.
Wendelin kann mit einigem Recht als Sprachrohr und Lebensrolle Nestroys aufgefaßt werden. Wesentliche Motive zur Darstellung dieser Thematik verdankt Nestroy seiner Vorlage, der französischen ,Comédie‘ „Dominique ou le Possédé“ (1831), die vor ihm bereits Josef Kupelwieser bearbeitet hatte, der schon beim „Talisman“ und anderen Stücken sein Konkurrent gewesen war. Die Beliebtheit der französischen Vorlage, die ihren Niederschlag auch in einer zeitgenössischen Übersetzung fand, ist für uns heute ebenso unverständlich wie der Mißerfolg der Bearbeitung durch Nestroy.
Die Posse trägt ein Jahr nach dem Sieg der Reaktion die Zeichen der Zeit viel deutlicher als die übrigen Stücke: eine vormärzlich-kafkaeske Situation auf der Ebene des Kriminalromans, kommentiert mit schwarzem Humor. Nestroy strebt die Beschreibung jener Atmosphäre an, in der die Wiener Bevölkerung während der Restauration lebte; gezeigt werde eine Kamarilla, die aufgrund ihrer Beziehungen zur Regierung unbeschränkt agieren kann und dabei selbst vor Verbrechen nicht zurückschreckt. Die kleinen Leute würden ohnmächtig von den Herrschenden hin und hergeschoben, verhaftet, mit dem Tode bedroht, dann wieder freigelassen, lebten in ständiger Angst.
Daß Wendelin den Aberglauben verteidigt, deutet einerseits auf seine Kleinmütigkeit als Figur der Possenhandlung, die machtlos in sie und die nicht veränderbaren sozialen Umstände verstrickt ist, zugleich ist das Ausdruck einer tiefgreifenden Stimmung des 19. Jahrhunderts, die Zweifel an den Errungenschaften der Aufklärung hat, schließlich bot sich Nestroy hier auch die Möglichkeit, aus der Rolle herauszutreten und von eher privaten Fällen in die soziale und politische Öffentlichkeit vorzustoßen.
Auftrittscouplet und -monolog in der für die Aufführung bestimmten Fassung zeigen nur einen Teil der Skepsis und Aggression gegen „Schicksal“ und „Weltordnung“, die Nestroy in den Entwürfen zum „Schicksalsmonolog“ äußert. Schicksal ist für Nestroy ein zugleich mythischer, metaphysischer, historischer, soziologischer und moralischer Begriff, der den obersten Platz in seiner Begriffshierarchie einnimmt. Wendelins Hadern mit dem Schicksal schließt von der Ungerechtigkeit in der Welt auf den Zustand der „Weltregierung“ selbst, der gottgefügten Ordnung. Für ihn ist daher das Leben auf der Erde Hölle im doppelten Sinn, durch soziale Determination und durch Lebensangst geprägt. Der Protest gegen soziale Ungerechtigkeit verbindet sich mit dem Zweifel am Gottesglauben, der die Weltordnung als vernünftige Einrichtung unterstützt. Für Wendelin, der die Dialektik von Glauben und Wissen durchspielt, ist daher die Aussicht auf die bessere Welt im Jenseits kein Trost. In ausgefeilter Rhetorik entfaltet Nestroy Revolutionäres im Gewand der Posse.
Wendelin ist fiktive Bühnenfigur und Verkörperung realer Wünsche und Forderungen des kleinen Mannes zugleich. Die Begrenztheit seiner Handlungen und die Selbsttäuschung versinnbildlichen die politische Realität der Zeitgenossen, seine Reflexionen aber deuten die revolutionären Möglichkeiten an, die freilich – nicht nur aus der Perspektive der Reaktion nach 1848 – Utopie bleiben. In Wendelins „Lebensgeschichte“ und in den satirischen Reflexionen drückt sich die Enttäuschung über die gescheiterte Revolution aus.
Am Zensurakt zu „Mein Freund“ (1851) kann gezeigt werden, warum der geplante Monolog keine Chance hatte, die Zensur zu passieren. Dort wird vom Zensor eine Anspielung auf das „Schicksal“ als Verstoß gegen die religiöse Ergebenheit beanstandet. Nestroys Rechtfertigung lautete:
„Das ,Hadern mit dem Schicksal‘ glaube ich, kann nichts Anstößiges haben, denn es existiert gar kein Stück, wo derlei nicht in allen Nuancen vorkömmt. Raisonnements über Schicksal, blinden Zufall, Glückslaunen, Verhägnis usw. machen den größten Teil der Reflexionen aller Stücke aus und sind zu keiner Zeit als kollidierend mit der christlichen Religion – welches sämtliches Obbenannte ignoriert und nur eine Vorsehung statuiert – betrachtet worden […].“
Was der Zensor zu dieser Verteidigung anmerkt, gilt auch für „Höllenangst“ und zeigt den wahren Grund der Prävention:
„Daß übrigens Nestroy beim Niederschreiben dieser Posse an die Tagespolitik nicht gedacht haben soll, ist kaum zu glauben, indem dies eine allzu große Selbstverleugnung voraussetzen ließe, die von dem Verfasser des berüchtigten Stückes „Freiheit in Krähwinkel“, welches im Jahre 1848 ungeheuren Skandal verursachte, nicht zu erwarten wäre.“
Pfrim trifft zu Beginn die Feststellung, die auch am Schluß nicht widerlegt ist: „Alles Lug und Trug auf der Welt“. In der Zeit der Reaktion gibt es keine Hoffnung auf Veränderung oder Besserung, jedoch bleiben die Träume und Wünsche, und es sind private Lösungen möglich, in denen so etwas wie Aufhebung von Fremdbestimmung aufscheint. Der Ausflug ins Metaphysische zeigt, daß sich der Mensch durch Einbildung seine eigene Wirklichkeit schafft und dabei zum Gefangenen seiner Vorstellugen werden kann. Andererseits geben Einbildung, Reflexion und Wünsche, konstruktiv gewendet, auch wieder die Kraft, der „Höllenangst“ zu entgehen.
Die Figuren sind gleichzeitig fiktive Rollen und repräsentieren Vertreter der Gesellschaft, die durch das Gefälle von „oben und unten“, „arm und reich“, „gut und böse“ bestimmt wird. Private und öffentliche Motive sind miteinander verkettet, die Handlungsfähigkeit der Figuren hängt vom Grad ihrer ökonomischen Selbständigkeit ab. Politische und ökonomische Motive sind bei den Großen untrennbar miteinander verbunden. Die Kleinen sind in ihre Machenschaften verstrickt, dienen als Werkzeuge, aber sie sind es auch, die die Verbrechen aufdecken und dem „Guten“ zum Sieg verhelfen können. Auch das gehört zur poetischen Gerechtigkeit der Posse. (Jürgen Hein)
Historischer Hintergrund
Anfang des 19. Jahrhunderts ist Wien die Hauptstadt einer Monarchie von Gottesgnaden, wo die Herrschergewalt in der Person des Monarchen konzentriert ist: Er ist die Quelle aller Macht. Gefahr droht am ehesten von der Anfälligkeit des politischen Systems. Trotz einer prächtigen Fassade, machen sich bald Anzeichen von Schwäche bemerkbar, die immer deutlicher werden. Die Regierungsgewalt wird zunehmend von einer gewissen Lähmung gekennzeichnet.
Durch die zunehmende Industrialisierung vermehrte sich die Zahl der lohnabhängigen Arbeiter beachtlich. Zum Begriff „Arbeiter“ gehören ebenso in der Fabrik Arbeitende wie auch jene, die im Zuge des Verlagssystems Heimarbeit leisteten. Im weiteren Sinn kann man auch die im Handwerksbetrieb und Kleingewerbe Beschäftigen, ja sogar das landwirtschaftliche Proletariat einrechnen. Die schon im Vormärz entstandene, aber weit nach 1848 sich fortsetzende und schlimmer werdende „soziale Frage“ zeigte eine Reihe von unerträglichen Facetten. Zunächst ist an die Zustände der Arbeitsplätze in den Fabriken und Gewerbebetrieben zu denken, die weder ordentliche sanitäre Einrichtungen noch ausreichende Beleuchtung und Belüftung hatten. Dennoch musste der Arbeiter einen beträchtlichen Teil des Tages dort zubringen, es gab keine gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit für erwachsene Männer und Frauen, durchschnittlich betrug die Arbeitsdauer 12 bis 14 Stunden. Neben der billigen Frauenarbeit war die noch billigere Kinderarbeit ein weit verbreitetes Phänomen. Die Löhne waren, nicht zuletzt durch den Druck der „Reservearmee des Proletariats“, die bei jedem Streik etc. sofort die bis dahin beschäftigten Arbeiter ersetzen konnte, denkbar gering.
Die Wohnmöglichkeiten der Arbeiter waren durch die niedrigen Löhne beschränkt, die meisten hausten in unhygienischen Massenquartieren, die kaum ein harmonisches Ehe- und Familienleben aufkommen ließen. Die hohen Mieten konnten oft nur durch die Aufnahme von Untermietern und Bettgehern aufgebracht werden. Auch die Ernährung der Arbeiter war bescheiden. Ersatzkaffee, schwarzes Brot, Kartoffeln, Kohlgemüse, Kraut und kaum Fleisch bildeten den Hauptbestandteil der Nahrung. Die Folge dieser einseitigen Ernährung zeigte sich bereits im Kindesalter und führte in den späteren Lebensjahren zur Schwächung des gesamten Organismus sowie zum frühen Einsetzen des Alterungsprozesses. Auch der Alkoholismus – Verdrängung der schlimmen Lage durch Branntwein – war überaus verbreitet.
Grundsätzlich war die Bevölkerung, allen voran natürlich die Intellektuellen und Studenten, mit dem System Metternich, das durch Zensur, Spitzelsystem, Polizeiapparat, „Menschenrechtsverletzungen“ und absolutistische Staatsführung charakterisiert war, höchst unzufrieden.
Die wirtschaftliche Situation Österreichs stellt durch seine Mittelstellung zwischen dem bereits stärker industrialisierten Westeuropa und dem noch unterentwickelten Osteuropa einen weiteren Schwachpunkt dar. Am Vorabend des Jahres 1848 macht diese Schwäche im industriellen Bereich Österreichs Macht zweifellos verwundbarerer.
Die Revolution 1848 bricht also keineswegs aus heiterem Himmel los. Mitte der 40er Jahre mehren sich die Anzeichen einer Krise. Die wirtschaftliche Depression, die ganz Europa erfaßt hat, erreicht Österreich. Die Schwächung des Binnenmarktes läßt die Geschäfte zurückgehen und die Arbeitslosigkeit steigen. Wien ist in besonderer Weise betroffen. Da hier bereits zahlreiche Arbeiter in den Handwerksbetrieben und in der Industrie beschäftigt sind, machen sich die Auswirkungen der Rezession stark bemerkbar, ganz zu schweigen von jenen Menschen, die die Not in die Stadt treibt. Dieses Heer von Arbeitslosen birgt zweifellos ein großes Potential für die Revolution.
Als sich am 29. Februar 1848 Gerüchte über die Revolution in Frankreich und die dadurch angeregten Aufstände in Süddeutschland in der Habsburgermonarchie verbreiteten, begann sich der Unmut zu kanalisieren. Und es kam zu einem proletarischen Aufstand: Fabriken wurden zerstört, Geschäfte geplündert und die verhassten Linienämter, durch deren Besteuerung sich die Lebensmittel verteuerten, wurden attackiert. Diese Umstände veranlassten den Hof rasch nachzugeben. Metternich floh nach England, die Zensur wurde aufgehoben und eine Verfassung versprochen. Die Revolution hatte gesiegt. Am 25. April wurde die Konstitution erlassen. Sie enthielt eine Reihe von liberalen Ansätzen, doch sah man bald ihre Mängel. So kam es zu einem Marsch der Studenten zur Hofburg und damit zu einer weiteren Phase der Revolution, die als demokratische Revolution bezeichnet wird. Der Kaiser, der regierungsunfähige, schwer kranke Ferdinand I., floh nach Innsbruck.
Das durch die zunehmende Anarchie in Angst und Schrecken versetzte Bürgertum distanzierte sich von den revolutionären Kräften. Windischgrätz und Jellacic rückten mit den konterrevolutionären Truppen heran und umschlossen Wien, wo Studenten und Arbeiter einen letzten Verzweiflungskampf für die revolutionären Errungenschaften führten. Am 31. Oktober bricht der letzte Widerstand zusammen; nun beginnt die Zeit der Unterdrückung. Nach der Ausrufung des Belagerungszustandes untersteht Wien der Militärgerichtsbarkeit. Von den Besiegten werden etwa 2.000 festgenommen und 25 von ihnen hingerichtet. Die Wiener Revolution wurde im Blut erstickt. Diesmal wartet die kaiserliche Familie mit ihrer Rückkehr nach Wien, bis auch der letzte Funke des Aufruhrs gelöscht ist. Dies obliegt der Armee und der Polizei.
Der Sieg der Gegenrevolution bringt auch den Aufstieg neuer Männer in verantwortungsvolle Positionen mit sich, insbesondere Fürst Felix Schwarzenberg, dem die Leitung der Regierung anvertraut wird. Als Karrierediplomat und Offizier im Generalsrang hat er sich stets als Mann der Tat erwiesen, und als strikter Gegner der Revolution ist er vor jeder Versuchung gefeit, hier Konzessionen zu machen.
Er weiß, inwieweit das Regime des Vormärzes an der Krise von 1848 mitschuldig ist. Auch beabsichtigt er, mit der Restauration der monarchischen Gewalt ein Modernisierungsprogamm für das Reich zu verbinden. Die Situation in der Habsburgermonarchie veränderte sich nicht nur im politischen System, sondern auch in der Führungsspitze. Der regierungsunfähige Kaiser Ferdinand wurde zur Abdankung zu Gunsten seines Neffen Franz Joseph veranlasst – am 2. Dezember 1848 bestieg er den Thron. Seine Macht stützte sich zunächst auf die Armee, die die äußeren und inneren Feinde besiegt hatte. Radetzky war es gelungen, den Angriff Sardinien-Piemonts zurückzuschlagen, und Windischgrätz und Jellacic hatten die Wiener Revolution besiegt. Als Franz Joseph – wie es der Tradition entsprach – seine erste öffentliche Urkunde mit „WIR, Franz Joseph“ und allen Titeln begann, witzelten die Menschen der Monarchie, dieses WJR sei die Abkürzung für Windischgrätz, Jellacic und Radetzky.
Die Regierung proklamiert am 4. März 1849 eine Verfassung, die ohne Rücksprache mit den Abgeordneten ausgearbeitet wurde. Dieser Text, in dem die Grundfreiheiten bestätigt werden, regelt die Beziehungen zwischen den verschiedenen Machtebenen und sieht die Errichtung eines zentralen Parlaments vor. Und dennoch ist die Sichtweise dieser Verfassung eine völlig andere. Die von der Regierung Schwarzenberg ausgearbeitete Verfassung konzentriert sich auf die Vorrangstellung der monarchischen Gewalt: Es gibt keinerlei Hinweis auf die Souveränität des Volkes, und es ist nicht mehr die Rede von der Ministerverantwortlichkeit, während dem Kaiser bei den vom Parlament beschlossenen Gesetzesvorlagen ein absolutes Vetorecht eingeräumt wird. Der Gewaltstreich vom 4. März macht allerdings jegliche Zusammenarbeit mit dem Parlament unmöglich. Nach Beseitigung dieses Hindernisses können Franz Joseph und Schwarzenberg nun frei regieren, ohne sich um eine parlamentarische Kontrolle kümmern zu müssen. Franz Joseph kann sich darüber freuen, daß die Restauration der monarchischen Gewalt gelungen ist. Die Wiederherstellung Österreichs als Großmacht geht auch mit innenpolitischen Erfolgen einher. Die Verfassung vom 4. März 1849 hätte ein Hindernis für die Ausübung der monarchischen Gewalt darstellen können, aber die Regierung Schwarzenberg zögert deren Umsetzung hinaus. Nach der Wiederherstellung der Ordnung an den verschiedenen Fronten läßt man sich Zeit damit. Und Franz Joseph versteht es, sich dieser Bürde zu entledigen.
Am 31. Dezember 1851 ist die Sache erledigt. Ein Patent verkündet den Untertanen des Reiches die Widerrufung der Verfassung. Im Grunde wird durch diesen letzten Akt nur das Recht an die Fakten angeglichen. Mit dem Silvesterpatent 1851 beginnt für Österreich offiziell das Zeitalter des Neoabsolutismus. Das neue System stützte sich auf die Armee, die Bürokratie und die katholische Kirche. Die Herrschaftsform, die über die Revolution den Sieg davongetragen hat, entspricht der Definition von Absolutismus. Franz Joseph kann ohne Verzerrung der Tatsachen mit Fug und Recht sagen, daß „Österreich nur mehr einen Herrn hat“. Es gibt keine Verfassung mehr, kein Parlament, das sich seiner Autorität entgegenstellen könnte. Die Minister sind einzig und allein dem Monarchen verantwortlich. In der Öffentlichkeit ist für Ruhe gesorgt. Da die Opposition zum Schweigen verurteilt ist und die Presse streng kontrolliert wird, hat die Staatsgewalt volle Handlungsfreiheit.
1849
- Politik Verkündigung der Märzverfassung, Auflösung des Reichstages von Kremsier (7.3.); Patent gegen Pressemißbrauch (13.3.); Gemeindegesetz (17.3.); Schlacht bei Novara, Sieg Radetzkys, Waffenstillstand (23.3.); Errichtung der Gendarmerie in Österreich (8.6.); Neue Gerichtsverfassung in Österreich (14.6.); Friede von Mailand (6.8.); Schlacht bei Temesvar (9.8.); Kapitulation des ungarischen Revolutionsheeres (13.8.); Kapitulation Venedigs (24.8.); „Interim“-Vereinbarung zwischen Franz Joseph I. und Friedrich Wilhelm IV. (9. und 30.9.); Landesverfassungen und Landtagswahlordnungen verkündet (30.12.)
- Technik/Wissenschaft Organisation des meteorologischen Beobachtungssystems in Österreich; R. Wolf: Überwachung der Sonnenflecken; A. H. L. Fizeau: Messung der Lichtgeschwindigkeit; A. A. Berthold: Erste Keimdrüsen-Hormonversuche; A. Pollender: Milzbranderreger; J.B. Francis: Radial-Wasserturbine; D. Livingstone erforscht das Sambesigebiet
- Verkehr/Handel/Gesellschaft Handelskammer in Wien errichtet; Neuorganisation der Gymnasien und Realschulen in Österreich; Reform des Briefposttarifs, Briefmarken in Österreich (25.9.); Patent über Einkommenssteuer (29.10.); Ackerbauschule in Kritzendorf; Landesverfassungen, Landtagswahlordnungen verkündet (30.12.); Telegraphenzentralbüro in Wien eröffnet
- Literatur Franz Grillparzer wird der Leopoldsorden verliehen; Ch. Dickens: David Copperfield; + E. Frh. v. Feuchtersleben
- Musik A. Bruckner: Requiem; G. Meyerbeer: Der Prophet; O. Nicolai: Die lustigen Weiber von Windsor; R. Wagner flieht nach Zürich; Erstes öffentliches Konzert des Wiener Männergesangvereines; + J. Strauß (Vater), + F. Chopin, + O. Nicolai
- Bildende und angewandte Kunst/Architektur M. Thonet: Sesselproduktion in Gumpendorf; Baubeginn im Arsenal (bis 1856), geplant von E. v. d. Nüll, A. S. Siccardsburg, C. Rösner, T. v. Hansen; + M. Daffinger
Der Pauperismus in Wien
Der immermehr steigende Preis der Lebensmittel erregt in den niedern und mittlern Sphären der Gesellschaft eine allgemeine Besorgnis. Aus Ungarn langte dieser Tage als Muster aus Eicheln gebackenes Brot ein, als Beleg für die daselbst herrschende Noth, während der Kornwucher immer mehr und mehr überhand nimmt. In den Straßen Wiens wurde ein Mann mit drei Kindern Bettelns wegen aufgegriffen, nicht weil er um Almosen bettelte, sondern in brotloser Verzweiflung seine Kinder als Geschenk anbot. Nichts desto weniger haben die Straßenecken nicht Raum genug, täglich bis an Hundert öffentliche Erlustigungen anzukündigen, wiewohl die Tanzsäle sich in diesem Carneval durchaus nicht recht füllen wollen. Dort hört man von Diners in Banquierhäusern, wo um einem Gast zu Ehren für zwei Erdbeeren – die einzigen, die im Freiherrlich Hüglischen Garten in Hietzing in der jetzigen strengsten Jahreszeit reiften – sage fünfundzwanzig Gulden C.M. bezahlt wurden. Die vielfachen Wohlthätigkeitsspenden, Bälle und Lotterien, reichen nicht mehr zur Stillung der Armuth aus.
Unser heiteres, lebensfrohes Wien, dessen Phäakenthum ein Europa-bekanntes war, wird nun auch von diesem Gespenste der neuen Zeit heimgesucht und den Charakter, den es hier, wo sonst Alles nur Lust und Freude war, annimmt, ist ein um so erschreckenderer. Wer Wien früher kannte, weiß, daß bei der Billigkeit aller Lebensbedürfnisse, bei dem lebhaftesten Verkehr, bei der Leichtigkeit, mit welcher der nur etwas wohlhabendere Wiener sein Geld ausgibt, und mit dem hier wie nirgends in Anwendung gebrachten Grundsatz: Leben und leben lassen – wie leicht es also da Jedem wurde, seinen Bedarf sich zu verdienen, ja mehr als dieses, auch etwas zu haben, um, wie man hier sagt, sich einen guten Tag zu machen! Daher kam es auch, daß der Zufluß der Wiener Bevölkerung aus den Provinzen so stark wurde, denn früher konnte auch in der That der Grundsatz gelten: In Wien kann sich Jeder erhalten! Wie haben sich aber jetzt die Zeiten geändert!
Es gab nun freilich früher auch viel Elend in Wien, aber es verbarg sich, es zog sich zurück und man war auch im Stande es zurückzuhalten, daß es nicht bis auf offenem Markte, in die glänzendsten Straßen vordringe – fragen wir aber an, wie jetzt die Bettelei zugenommen gegen früher. Wo hörte man sonst von so vielen Einbrüchen und Anfällen, wo hatte früher der Wiener den Muth zu so häufigen Selbstmorden wie jetzt, wo keine Woche fast vorübergeht, ohne eine solche entsetzliche That! Konnte dieses früher bei dem Wiener Volkscharakter vorkommen, daß Menschen hülflos auf offener Straße verschmachtet wären, wie es unlängst kurz hinter einander zwei Mal, und sogar in frequenten Vorstädten, ein Mal sogar in der stark bevölkerten Mariahilf geschah?
Das unglückselige Schweigesystem, welches bei uns herrscht, ist ein besonderes Unglück. Während man in andern Staaten und Städten offen und ehrlich auftritt und sagt: es herrscht große Noth bei uns, thut etwas dafür, ihr Reichen und Vornehmen! Will man hier bemänteln und verdecken.
Die Klasse der verschämten Armen ist noch viel unglückseliger und elender daran, als der Arbeiter, der für Tagelohn sich abmüht; dieser ist nur arm, lebt kümmerlich und beschränkt und unter ewigen Entbehrungen, aber er kann wenigstens seine Armuth zur Schau tragen, man verlangt nicht von ihm die Lüge einer gewissen Wohlhabenheit, wie man sie von unseren Proletariern im Beamtenstande verlangt. Der Beamte soll immer „anständig“ leben, er darf nicht die Zeichen seines heimlichen Elends zur Schau tragen. Steht er in Verhältnissen, wo er einer Bestechung werth ist, so wird er nicht den Muth haben, sie zurückzuweisen, er wird sie annehmen. Diese alltägliche Corruption wird zu einem durch alle Beamtenclassen durchgehenden Bestechungs- und Protectionssystem.
Es ist ein Dienst, den man der Humanität dem Staate, ja der Regierung selbst leistet, indem man ihre Aufmerksamkeit zu wiederholten Malen auf diese Uebelstände lenkt und sie an das Proletariat erinnert, welches auch in der Beamtenschaft allmälig um sich greift. Daß Zulagen nöthig sind, hat man wohl eingesehen. Wir verkennen nicht die schwierige Lage des Österreichischen Finanzetats, die alten Sünden gut zu machen hat und doch von allen Seiten in Anspruch genommen wird, und von dem man oben drein noch Steuererleichterungen, Abschaffung des Lottospiels, der Judensteuer, der Accise u.s.w. fordert. (Aus dem „Grenzboten“, 1847)