„’is jetzt schön überhaupt, wenn m’r an etwas noch glaubt“
Jürgen Hein (Münster/W., D): Einführung
Der Glaube an die Bedeutung Nestroy führt auch heuer Interessierte aus verschiedenen Ländern nach Schwechat. Die heurigen Gespräche knüpfen zum Teil an das letztjährige Symposion, andererseits geht es – z.T. auch in Wiederaufnahme von Themen früherer Gespräche – um neue Perspektiven und Darbietungsformen.
Fortgeschrieben wird der Komplex Nestroyrezeption in der Literatur, auf dem Theater und in den Medien, bis hin zur medialen Vermarktung und Instrumentalisierung („Nestroy-Preis“).
Vorgestellt werden motivliche und thematische Aspekte, auch mit Blick auf Kontinuität und Wandel im Wiener Volkstheater vor und nach Nestroy sowie auf Nebenlinien und „unzusammenhängende Zusammenhänge“. Ferner wird ein Blick auf die dramaturgische Darstellung des Fremden bei Nestroy geworfen.
Im Zentrum sollen theaterpoetologische und stilistische Fragen der Komödie als „Sprachhandlungsspiel“ innerhalb der Zeichen- und Kommunikationssysteme von Theater stehen, die in einem „Workshop“ zur Dialoggestaltung bis hin zur „Verkleidung“ und zum Schweigen in Nestroys Possen vertieft und mit übergreifenden Fragen der Stilisierung und Typisierung verknüpft werden. Ein „Workshop“ zur Coupletkunst bietet die Verbindung mit einer weiteren medialen Dimension der Dramaturgie. Zentrale Bauelemente und die spezifische Zeichensprache der Komödie sollen auch unter Einbezug der Modi des Räumlichen und Lokalen reflektiert werden.
Die Exkursion führt u.a. nach Reichenau (N.Ö. Landesausstellung zu „Theaterwelt Welttheater“) und zu Gedenkstätten Ferdinand Raimunds.
Die Nestroy-Spiele Schwechat bringen ein Jahr nach ihrem 30jährigen Jubiläum Nestroys postrevolutionäre Posse Höllenangst (1849) auf die Bühne, aus der das Motto der heurigen Gespräche stammt. Es lädt auch ein zu lebhafter Diskussion zu den Vorträgen und zur Aufführung, ferner zu anregendem Gedankenaustausch mit Ausblick und Vorschlägen für die Gestaltung der 30. Internationalen Nestroy-Gespräche 2004.
Otto G. Schindler (Wien, A):
„Der gelehrte Stolperer“ und „Das Tiergespräch“:
Vom Commedia dell’arte-Lazzo zum Biedermeierlied
Im Theaterlieder-Repertoire der bekannten Nestroy-Interpretin Elfriede Ott befindet sich auch „Das Tiergespräch“, ein Scherzlied, das der langjährige Nestroy-Partner Wenzel Scholz in seinem Programm geführt hatte und das 1831 in der Musik von Adolph Müller sen. in der „Neuesten Sammlung komischer Theater-Gesänge“ im Verlag Diabelli im Druck erschien. Ein ähnliches „Tiergespräch“, das offenbar ebenfalls auf das Scherzlied von Wenzel Scholz zurückgeht und das die bekannte Kinderbuch-Autorin Mira Lobe bearbeitete, fand seinen Weg sogar in das Burgtheater, wo es der bekannte Kinder-Clown Enrico in seinem Weihnachtsprogramm für ein Kinderpublikum aufführt.
Es ist anzunehmen, daß es sich bei diesem „Schwank als Wortspiel“ um die „literarisierte“ Form eines alten Kinderreims handelt, der besonders für Niederösterreich häufig belegt ist, dessen Verbreitung aber bis in das Baltikum reicht. Es war anscheinend Wien, wo der Reim auf das Theater gelangte: In einer Aufführung vor dem Kaiserhof im Jahr 1692 wird er in die „Tirade“ des alten und vielgespielten Commedia-dell’arte-Stückes Il Basilisco del Bernagasso eingefügt, um auf diese Weise die Satire auf den geschwätzigen Gelehrten, die traditionell mit der Tirade des Dottore verbunden war, auf die Spitze zu treiben.
Vom Basilisco del Bernagasso sind von Neapel bis London und von Paris bis St. Petersburg Texte, Szenare und Aufführungsbelege erhalten. Als Dragon de Moskovie taucht das Stück in den 1660er Jahren erstmals am Pariser Théâtre Italien auf; die Rolle des Arlequin spielt der Italiener Domenico Biancolelli, derselbe, der im Fasching 1660 mit einer italienischen Commedia-dell’arte-Gesellschaft auch vor dem Wiener Hof auftrat und für dessen Gastspiel man hier den ersten freistehenden Theaterbau errichtet hatte. Für den Wiener Hof erschien 1692 auch die erste gedruckte Version des Stückes, zusammen mit einem Flugblattdruck der „Tirade“, die aus der eigentlichen „Tirade des Stolperers“ sowie dem erwähnen Kinder-Tierreim bestand. Sie findet sich auch in einer späteren Fassung des Kärntnertortheaters, die 1738 entstand und in der die Tirade bereits zu einer eigenen Szenenfolge in einer „Narrengasse“ ausgebaut wird.
Von den Vorstadt- und Provinztheatern wird in dieser Form unser Stück noch im Biedermeier als Kasperl, der Hausherr in der Narrengasse oder Der verstellte Bettler aufgeführt; die alte Glanznumer des Dottore verselbständigt sich zur Einlage eines „Wohlredners und Poeten“, die dann in einer Aufführung des Josefstädter Theaters der bekannte Wiener Harfenist Leopold Bürger übernimmt und zu einer Musiknummer ausbaut. Der Nestroy-Komponist Adolph Müller sen. hat sie dann für Wenzel Scholz neu bearbeitet und als „Thiergespäch“ auf den Markt gebracht.
Gerald Stieg (Paris, F):
Alkohol im Lied und auf dem Theater von Mozart bis Qualtinger
Aussgehend von Mozarts Opern und einigen seiner Gelegenheitskompositionen wird der Versuch unternommen, aus der Behandlung des Alkohols und seiner Wirkungen eine Art Typologie des Komischen abzuleiten. Aus der Fülle von Beispielen des Bühnenalkoholismus bei Raimund und Nestroy wird die Fortsetzung des „Lumpacivagabundus“, „Die Familien Zwirn, Knieriem und Leim oder der Welt-Untergangs-Tag“, aus zwei Gründen herausgegriffen: einerseits hat Karl Kraus das Auftrittslied des Knieriem als „Denkmal eines Volkstums“ bewusst gegen Anzengruber, insbesondere die Figur des Schalanter im „Vierten Gebot“ ausgespielt, andererseits konzentriert sich in diesem Stück in komischer Form eine Materie, die bei Anzengruber und ganz besonders beim naturalistischen Gerhart Hauptmann in die soziale Tragödie umschlägt. In einem Vergleich zwischen Nestroys „Familienkomödie“ und Hauptmanns Drama „Vor Sonnenaufgang“ wird gezeigt, welcher Bewusstseinswandel sich in der Frage des Alkoholismus vollzogen hat. Die tragisch-dämonische, bzw. wissenschaftliche Auffassung des Alkohols im Naturalismus führt allerdings keineswegs zum Ende der komischen Behandlung der Materie in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Doch ist dieser Komik die „Unschuld“ des Vokstheaters genommen, wofür als besonders instruktive Beispiele die betrunkenen Figuren in den „Letzten Tagen der Menschheit“ und in Gerhard Bronners „Krügel vor’m G’sicht“ stehen.
Rudolf Muhs (London, GB):
„O England! England! Göttliches Land!“
Engländer und Englisches bei Nestroy
Daß der Ausruf des Magiers Schmafu nicht ganz ernst gemeint ist, wäre selbst dann zu vermuten, wenn das Stück, aus dem er stammt, nicht mit „Der konfuse Zauberer“ überschrieben wäre. In meinem Vortrag soll zum ersten Mal zusammenhängend erörtert werden, was an Vorstellungen über Engländer und Englisches in Nestroys Werk eingegangen ist und welche dramaturgische Funktion diese England-Bezüge haben.
Die Engländergestalten vor allem in den frühen Stücken, zumeist Lords und gelegentlich auch eine Lady einschließlich Familienangehörigen oder Bedienten, entstammen der bis in das ausgehende 18. Jahrhundert zurückzuverfolgenden Tradition des komischen Theaterengländers. Zu seinen stereotypen Eigenschaften gehören Reichtum, karierte Anzüge, Spleen und die Neigung zum Selbstmord. Für Bühnenautoren besaß der Einsatz von solchen Engländern oder von Charakteren, die dafür gehalten wurden, eine große Attraktivität, weil sie, gewissermaßen als deus ex machina, jederzeit eine unerwartete Handlungswende möglich und plausibel machten. Nachdem Nestroy eine Zeitlang mit Elementen dieser Tradition gespielt hatte, ließ er seit Mitte der 1830er Jahre davon ab, vermutlich weil ihm ihre Entwicklungsmöglichkeiten erschöpft schienen. Lady Bridewell und Lord Atworth in „Lady und Schneider“ (1849) haben keinerlei karikaturhafte Züge, und dass in „Theaterg’schichten“ (1854) mit James Inslbull noch einmal ein klassischer Bühnenengländer auftritt, darf als weiteres Indiz für die künstlerische Rückwärtsgewandtheit dieses Stückes gelten. England als Thema war jedoch in den fast 20 Jahren seit „Die beiden Nachtwandler“ (1836) keineswegs aus Nestroys Horizont entschwunden. Immer wieder finden sich beiläufige Bemerkungen oder längere Dialoge zu einzelnen Aspekten, sei es die Behandlung von reisenden Engländern in Wien, die Verspottung der Anglomanie in „Der Zerrissene“ (1844) oder auch die Dekonstruktion des Klischees vom reichen England in „Freiheit in Krähwinkel“ (1848). Dieser Motivwandel zeigt, wie sensibel Nestroy den Gang der Englanddebatte im deutschsprachigen Raum registrierte und reflektierte.
Stefan Willer (Berlin, D):
Lokal-Possen – Zur Räumlichkeit von Theater und Text in Nestroys Komödien der 1830er-Jahre
Das Theater erscheint als Theater nur im Raum. Im Unterschied zu einer begrifflich-gattungspoetologischen Bestimmung des Dramas oder des Dramatischen hat es Theatralität mit der realen Situation der Aufführung zu tun, die räumlich vollzogen und wahrgenommen wird. In meinem Beitrag untersuche ich, wie der Theaterpraktiker Nestroy diese Räumlichkeit zu einem entscheidenden Strukturmerkmal seiner Komödien gemacht hat. In den 1830er Jahren häufen sich in auffälliger Weise Stücke, die verschiedene Kennzeichnungen von Räumlichkeit bereits im Titel tragen: Zu ebener Erde und erster Stock (1835), Eine Wohnung ist zu vermieten in der Stadt. Eine Wohnung ist zu verlassen in der Vorstadt. Eine Wohnung mit Garten ist zu haben in Hietzing (1837), Moppels Abentheuer im Viertel unter Wiener Wald, in Neu-Seeland und Marokko (1837), Das Haus der Temperamente (1837), Glück, Mißbrauch und Rückkehr oder Das Geheimnis des grauen Hauses (1838). Hinzu kommt der Gattungsname „Lokalposse“, den außer den ersten beiden genannten Stücken noch Die Gleichheit der Jahre (1834) und Die verhängnißvolle Faschings-Nacht (1839) führen.
Das „Lokale“ dieser Possen geht nicht in einer thematischen oder dekorativen Verwendung von Lokalkolorit auf, sondern führt einen ständigen Verweis auf die Räumlichkeit des Theaters mit sich. So zeigt sich Nestroys Aufmerksamkeit für die Bühne in einer dramengeschichtlich neuartigen Präzision der Szenenanweisungen, in einer Ausdifferenzierung von Vorder- und Hintergrund, linker und rechter Seite, im Einbeziehen der Dekoration („praktikable“ Türen und Fenster). Die Bühnen-Realität wird im Nebentext vorgeschrieben; umgekehrt wird damit aber auch der Text des Dramas verstärkt theatralisch lesbar. In diesem schriftlich vorstrukturierten Raum verständigen sich die handelnden Figuren in ihrer Rede bemerkenswert oft über ihre Orientierung; die Nestroysche Dramensprache widmet sich mit besonderer Vorliebe der deiktischen Hindeutung auf den Raum: „Wir kennen also jetzt das Locale“ (Krall in Die beiden Nachtwandler), „Hier also der Ort, der Friederikens Geheimniß umschließt“ (Theodor in Glück, Mißbrauch und Rückkehr).
Ausführlich hinzuweisen ist auf die Funktion von Räumlichkeit für die jeweilige Dramenhandlung, auf die Topik von Innen und Außen, von Oben und Unten, die grundsätzlich eine Frage der Machtverteilung ist (wer darf welchen Raum betreten?). Das eigentlich komödiantische Potenzial liegt allerdings darin, den Handlungsbezug der räumlichen Deixis immer auch auf den bespielten Theaterraum zu lenken: „’s Theater is a Haus allemal“ (Gundlhuber in Eine Wohnung…). Vor allem zu besprechen sind, neben Verfahren der Transitorik (Hervorhebung von Auftritten und Abgängen, Schauplatzwechsel), solche der Simultaneität, also des Nebeneinanderstellens mehrerer Schauplätze – Verfahren, die sich zugleich auf die zeitliche Organisation der Stücke und auf die Schriftlichkeit der Dramentexte auswirken (Mehrspaltigkeit in Zu ebener Erde und erster Stock, Schriftbildlichkeit im Haus der Temperamente). Die Ausweitung der Gesangspartien hin zum opernhaften Ensemblegesang bietet hier zudem eine Möglichkeit, das Moment der Simultaneität musikalisch zu organisieren.
Die an Nestroy angestellten Überlegungen werden schließlich ansatzweise fortgeführt zum Versuch einer Theaterpoetik der Komödie, in der der Modus der Räumlichkeit und Momente meta-theatralischer Selbstbezüglichkeit systematisch aufeinander bezogen werden – und zwar gerade für ein Textkorpus populärer Dramatik (aktuelle Beispiele sind Michael Frayn und Alan Ayckbourn).
Walter Pape (Köln, D):
„Das heißt’s jeder Red’ ein Feiertagsg’wand’l anziehn“: Sprache und Stimme, Verstellung und Verkleidung im dramatischen Dialog in Nestroys Komödien
Sprache, Gestik und Kleid hatten als Zeichensysteme in traditionalen Gesellschaften eine feste Verweisfunktionen und gleichsam materialen Charakter. Je mehr der Zeichencharakter der Sprache, der Gestik und des Kleides aufgrund eines sozio-mentalen und allgemeingesellschaftlichen Wandels ins Bewußtsein drang, umso verfügbarer wurden diese Zeichen auch in der Komödie, um tradierte soziale Stellungen und Beziehungen und schließlich auch die Individualität (der durch die Typen der Komödie Grenzen ohnehin gesetzt sind) in Frage zu stellen und schließlich aufzulösen. Verkleidung und Verstellung (in Stimme, Worten, Mimik und Gesten), Mißverstehen von Worten und Gesten, kurz alle „Formen der Simulation, der Täuschung, der Intrige und des Betrugs“ (Schwanitz) sind seit alters zentrale Bau- und Handlungselemente der Komödie, ja das Drama überhaupt ist nach Dietrich Schwanitz, diejenige Gattung, die Verstellung ausstellt – „alle Larven fallen, alle Schminke verfliegt“, betont Schiller in seiner Schaubühnerede von 1784. In der Regel stellt die Komödie aber am Schluß die richtige Ordnung wieder her: Die Mißverständnisse werden aufgeklärt, die Verstellung erkannt, die sprachliche Maske wird abgenommen und die falschen Kleider fallen.
Dabei kommt dem Verhältnis von Wort und Geste besondere Bedeutung zu. Seit alters her gelten Mimik und Gestik als natürliche körperliche Zeichen als wahrer denn die willkürlichen Zeichen der Worte. So heißt es in Schillers Über Anmut und Würde. „Daher wird man aus den Reden eines Menschen zwar abnehmen können, für was er will gehalten sein, aber das, was er wirklich ist, muß man aus dem mimischen Vortrag seiner Worte und aus seinen Gebärden, also aus Bewegungen, die er nicht will, zu erraten suchen. Erfährt man aber, daß ein Mensch auch seine Gesichtszüge wollen kann, so traut man seinem Gesicht, von dem Augenblick dieser Entdeckung an, nicht mehr und läßt jene auch nicht mehr für einen Ausdruck seiner Gesinnungen gelten.“
Es geht also in meinem Vortrag um ein Doppeltes: Zum einen um die Frage nach dem ,Eigentlichen‘ der Person, wozu in der Komödie bis ins 19. Jahrhundert auch Stand und soziale Stellung gehören, zum anderen darum, inwiefern die unterschiedlichen ,Sprachen‘ einer Figur (Sprache, Gestik, Mimik, Kleid – und Geld natürlich!) verläßliche Zeichen im dramatischen Dialog sind und woran die Verstellung erkennbar ist. Die Komödien Nestroys führen das gesellschaftliche Verkleidungsspiel (wir begeben uns mit unserem Kleid „in Gesellschaft, das heisst unter Verkleidete“, sagt Nietzsche) anschaulich und hörbar vor Augen, zeigen, daß die auch Mimik, Gestik und Sprache als G’wandl verfügbar sind.
Matjaž Birk (Maribor, SLO):
„… es flogen Äpfel, Eier und andere Gegenstände … auf die Bühne“: Johann Nestroy an der Laibacher Bühne im Vormärz oder zu Merkmalen einer Provinz-Rezeption und darüberhinaus
Der kultur- und literatur-, vor allem aber aufführungs- und rezeptionsgeschichtlich konzipierte Beitrag setzt sich auseinander mit der Aufnahme der Johann Nestroy-Dramatik bei dem Laibacher (slow. Ljubljana) Publikum im Vormärz, versucht aber darüberhinaus auch die Dynamik und einige wesentliche Merkmale der Nestroy-Rezption im slowenischen Raum bis in die Gegenwart zu erörtern. In der Einleitung werden einige Charakteristiken des Programms des Laibacher Ständischen Theaters untersucht, die aufschlussreich für das kulturelle Bild in der österreichischen Provinz der ersten Hälfte des 19.Jhds. sind. Im Mittelpunkt steht die Aufnahme der Nestroy-Stücke und der Genres seiner Dramatik von dem Publikum und der Theaterkritik Laibachs, die anhand der Beiträge aus den beiden führenden deutschsprachigen Kulturperiodiken – dem Illyrischen Blatt (1819–1849) und Carniolia (1838–1844) dargestellt wird. Um das Bild der untersuchten Nestroy-Aufnahme zu komplementieren, werden einige Parallelen und Unterschiede zwischen der Rezeption in der slowenischen Provinz und jener in der Metropole (Wien) skiziert wie auch wie die damals erst in Entstehung begriffene slowenische kulturelle Öffentlichkeit Nestroy-Dramatik aufnahm – schließlich handelte es sich bei dem Laibacher deutschsprachigen Theater um eine kulturelle Institution, deren Wirken und Charakter von der Wechselbeziehungen zwischen der deutsch-österreichischen und slowenischen Kultur geprägte waren. Im Anschluss darauf wird der Versuch unternommen, auch auf einige übergreifende Charakteristiken der Nestroy-Rezeption im südslawischen Raum im untersuchten Zeitraum einzugehen, daher wird der Vergleich zwischen der Laibach-Rezeption und der zeitgenössischen kroatischen Rezeption – bei der deutschsprachigen Theaterkritik in Agram (heute Zagreb)– gezogen. Zur Ergänzung des rezeptionellen Bildes erfolgt zum Abschluss ein Überblick über die Nestroy-Rezeption im slowenischen Raum von der zweiten Hälfte des 19. Jhds bis zur Gegenwart.
Funde
Fred Walla (Newcastle, AUS):
Der Weltuntergang: „Keine neue Idee, doch ziemlich wirkend“. Ifflands Komet: eine bisher unbekannte Quelle zu Nestroys Die Familien Zwirn, Knieriem und Leim
Jürgen Hein (Münster/W., D):
Wenzel Scholz und Die chinesische Prinzessin: eine unbekannte Nestroy-Posse?
Die anläßlich des 70. Geburtstages des beliebten Komikers Wenzel Scholz (1787–1857) anonym aufgeführte „Gelegenheits-Posse mit Gesang, Tanz und Gruppirungen in Einem Acte“ Wenzel Scholz und Die chinesische Princessin (1856) ist ein wichtiges Zeugnis für die Zusammenarbeit des Komiker-Quartetts Nestroy, Scholz, Treumann und Grois an einem Wendepunkt von der ,alten‘ Possenkomik des Wiener Volkstheaters zur ,neuen‘ Komik nach 1850 auf dem Weg zur Operette. Der Einakter dokumentiert die Novitätennot im Repertoire des unter Konkurrenzdruck stehenden Vorstadttheaterbetriebs und ist darüber hinaus ein eindrucksvolles Dokument der Kollegialität der Ensemblemitglieder des Carl-Theaters und seines Direktors Johann Nestroy.
Das Theatermanuskript – ein „Souflierbuch“ mit Aufführungsbewilligung durch die Zensur – enthält eigenhändige Korrekturen Johann Nestroys, der in dem Stück die Rollen des „Direktors des Carl-Theaters“ und des „Mandarins Schnudriwudri“ spielte. Möglicherweise haben wir es mit einer unbekannten Nestroyposse zu tun, vielleicht in einer kollektiven Manuskriptwerkstatt entstanden. Die Mitautorschaft Nestroys und seine Autorisation scheinen jedenfalls unstrittig zu sein.
Die Edition in der Reihe „Quodlibet“ der Internationalen Nestroy-Gesellschaft wird den Text in seiner originalen Gestalt mit Lesarten und Varianten sowie den erhaltenen Zensurakt zur Posse, ferner Erläuterungen zum zeitgenössischen Anspielungshorizont bieten. Ein Anhang mit Dokumenten zum theatergeschichtlichen Kontext und das Nachwort unterstreichen die Bedeutung des Textes für die Wiener Theatergeschichte.
Workshop „Stilisierung und Dialogisierung“
Martin Stern (Basel, CH): Impulsreferat: Stilisierung – Typisierung
Ausgehend von einer bisher unbeachtet gebliebenen Bemerkung Hofmannsthals über Nestroys Figurendarstellung soll der Workshop anhand ausgewählter Textpartien eines der dramatischen Kunstmittel Nestroys genauer untersuchen. Hofmannsthal spricht von „Stilisierung“. Doch sein Begriff scheint sich weitgehend mit jenem der „Typisierung“ zu decken. Warum ist sie für den Dramatiker besonders nützlich? Welche Mittel werden eingesetzt, um einem Typus auf der Bühne Profil zu geben? Warum sind sprachliche Stereotypien dazu besonders geeignet? Wo kommen sie vor und auf welche Publikumsreaktionen zielen sie? – Illustriert wird das im Referat an Lady und Schneider, Der Unbedeutende, Unverhofft und Höllenangst.
Handout: I: Nestroy. Das Stilisieren der Reichen wie Spielkartenfiguren: Herzdame, Piquebub – aber wo soll man denn darstellen als durch solches Stilisieren (z.B. es sind verkleidete ordinäre Kerls oder ideale Liebende). Sind nicht unsere Vorstellungen von den Helden des Plutarch auch mehr oder minder Spielkartenfiguren? Hofmannsthal.
II: Worin besteht das „Geheimnis“ der großen Typengestalten? Jeder weiß: die typische Gestalt ist keine durchschnittliche (oder nur in vereinzelten, extremen Fällen), sie ist nicht exzentrisch (…). Sie wird typisch, weil das innerste Wesen ihrer Persönlichkeit von solchen Bestimmungen bewegt und umrissen wird, die objektiv einer bedeutenden Entwicklungstendenz der Gesellschaft angehören. Georg Lukács.
III:
LOCKERFELD: Millionärs sind immer liebenswürdig.
MASSENGOLD: Das sagt mein Sekretär auch. (…)
LOCKERFELD: Wer mitten in Millionen drinnen steht, der (…) braucht weiter keine Vorsicht und keine Rücksicht.
MASSENGOLD: Das sagt mein Sekretär auch.
PACKENDORF: Laß mich mit deinem Sekretär –
MASSENGOLD: Mein Sekretär sagt immer die Wahrheit.
PACKENDORF: Du bist ein Hans-Narr.
MASSENGOLD: Das sagt mein Sekretär auch, (…)
Der Unbedeutende I/9
IV:
Akt I, Szenen 3-4; Akt II, Szenen 14-15 und 19-20; Akt III, Szenen 1-2 und 21: Mein Freund, HKA: Stücke 30, hg. von Hugo Aust
Monika Dannerer, Ulrike Tanzer (Salzburg, A):
Impulsreferat: Dialogisierung, mit einem Beitrag von Matthias Schleifer (Bamberg, D): Zur „Rhetorik des Schweigens“ bei Nestroy
Beredtes Schweigen, das Geschehen prägende Pausen gehören nicht zu den Elementen, die man in einer spontanen und knappen Charakteristik von Nestroys Kunst an die Spitze stellen wird. Bei aller Kritik des Sprachgebrauchs haben seine Figuren teil am Sprachoptimismus der Aufklärung, verwirklichen sich als Sprechende; hören sie auf zu sprechen, so aus banalen Gründen, wie Menschen im „wirklichen Leben“. Pausen des Nachdenkens treten in einer an episches Theater und Oper erinnernden Weise als „Für-sich-“ bzw. „Beiseite-Sprechen“ auf. Wo Schweigen bei Nestroy im Sinn von Christiaan L. Hart Nibbrig als beredtes, nichtbanales Schweigen, als „Schatten literarischer Rede“ vorkommt – wo ist das überhaupt der Fall? –, wäre zu fragen, ob es seine je spezielle Funktion nicht bereits aus Nestroys Vorlage mitbringt.
An Beispielen und (scheinbaren?) Gegenbeispielen wäre im Einzelnen zu prüfen, ob dieser Befund korrekt ist, ob Nestroy also tatsächlich in einer „Rhetorik des Schweigens“ fehlen darf. Ein Aspekt der Überlegungen ist dabei, daß in allem Redefluß Nestroys Gestalten natürlich aus verschiedenen Gründen den anderen etwas verschweigen. Im Lauf des Referats sollen einige ausgewählte Textstellen diskutiert werden.
Workshop „Coupletkunst“
Urs Helmensdorfer (Zuoz, CH): Wie klingt ein Nestroy-Lied?
Anthony Coulson (Dublin, IRL):
Ansichten einer Zauberposse: Lumpazivagabundus im Tonfilm
Mehr als jede andere Komödie Nestroys hat sich Der böse Geist Lumpazivagabundus schon seit den Anfängen des Kinos als Vorlage für Verfilmungen andauernder Beliebtheit erfreut. Dieser Beitrag untersucht drei inhaltlich und stilistisch voneinander abweichende Tonfilm-Fassungen des Stücks, die für das kommerzielle Kino produziert wurden: Geza von Bolvarys Lumpazivagabundus von 1936, die Produktion unter Franz Antel im Jahr 1956, und Edwin Zboneks Film von 1965. Die künstlerischen und ideologischen Unterschiede zwischen den drei Filmen, aber auch die zwischen ihnen bestehenden Parallelen, illustrieren die Vielfalt an Interpretationen, die das Medium Kino bezüglich der Bühnenvorlage ermöglicht. Gleichzeitig veranschaulichen sie die bedeutenden Veränderungen im geistigen und politischen Klima zwischen den dreißiger und sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts, die die damalige Rezeption von Nestroys Komödie bedingt haben. Der Vergleich der drei Verfilmungen zeigt auch, wie die Beziehungen zwischen ihnen über das direkte Verhältnis von Bühnenvorlage und Kinobearbeitung hinausgehen. Denn die Filme selber werden zu Vorlagen, was in der Nachkriegs-Remake der Fassung von 1936 eindeutig der Fall ist, aber auch nicht weniger zu bemerken ist in der Form von weiteren Entlehunungen, die möglicherweise zum Teil auch auf Bühnenaufführungen zurückgehen. Im Fall Lumpazivagabundus sehen wir also eine ziemlich komplexe Interaktion einerseits zwischen den Medien Theater und Film, andererseits aber auch zwischen verschiedenen Produktionen in beiden Medien. Gerade diese Komplexität der Beziehungen, und die Vielfalt von Inhalt, Stil und ideologischer Tendenz in den besprochenen Verfilmungen, legen Zeugnis ab für die Aussagekraft von Nestroys Zauberposse und die anhaltende Resonanz, die sie seit ihrem Entstehen gefunden hat.
Wolfgang Hackl (Innsbruck, A):
Verwicklungen der jüngsten „Nestroy“-Preisverleihungen
Am 12. Oktober 2002 wurde im Rahmen einer Fernseh-Gala zum dritten Mal der Nestroy-Preis als Erster Wiener Theaterpreis vergeben. Obwohl schon Fritz Muliar als erster für das Lebenswerk Ausgezeichneter 2000 in seiner Dankrede Politisches ansprach, geriet die Laudatio von André Heller für Claus Peymann, der den Preis für sein Lebenswerk erhielt, in die Schlagzeilen der österreichischen Medien, weil der Laudator seine Rede als „Märchen, einem Theaterstoff im Sinne Nestroys“ für politische Invektiven nützte. Die darauf folgende Diskussion hätte Nestroy wohl Stoff für mehr als ein Couplet geliefert.
Im Vortrag möchte ich nach einer knappen Einleitung zur kulturpolitischen Situierung des Nestroy-Preises den Preis selbst zunächst als Rezeptionszeugnis erörtern. Denn obwohl der Preis an sich nicht dem Werk Nestroy gilt, repräsentiert der Preis Facetten der aktuellen Nestroyrezeption in Österreich, indem die Initiatoren (und Sponsoren) den Dichter als prominenten Namenspatron nutzen, ihn damit ehren aber auch in den Kontext von Bambi und Oscar stellen.
Im Mittelpunkt soll jedoch die Analyse der medialen Erregung stehen, das Herausarbeiten zentraler Aspekte der Diskussion. Damit soll nicht nur ein anlassbezogenes Nestroybild rekonstruiert werden, sondern es soll auch untersucht werden, wie und mit welchen Argumenten Nestroy (kultur)politisch instrumentalisiert wurde.