Tod und Überleben bei Raimund und Nestroy
Jürgen Hein: Einführung
Das zentrale Thema der heurigen Nestroy-Gespräche im 150. Todesjahr Nestroys führt uns mitten in die Problematik von Wandel und Revision des Nestroy-Verständnisses seiner „Nachwelt“, mit der Karl Kraus vor 100 Jahren scharf ins Gericht gegangen ist.
Mit der Neuedition der Werke Raimunds und Nestroys ist auch das biographische Interesse im Kontext des kulturellen Feldes „Volkstheater“ wieder erwacht. Die Neubewertung der überlieferten Zeugnisse führt zur Frage, ob und wie Dokumente schon „Leben erzählen“, wie wissenschaftliche und narrative Biographik im Widerstreit liegen können. Wie verhalten sich romanhafte Ausschmückung und „Lebensbilder“ zur historischen Faktizität und Authentizität? Was leisten Psychogramme oder „Sozialbiographien“ bei der Entdeckung intimer Individualität, der Verstricktheit in den Alltag, der Künstler-Bürger-Problematik, der Lebens- und Theaterrollen. Überspitzt könnte man sagen, Raimunds und Nestroys Biographie war das „Theaterleben“ – als Spiel und gesellschaftliche Praxis, Handwerk und Kunst. Insbesondere Nestroy lebte für das Theater, er lebte im und vom Theater und schließlich „überlebte“ er durch das Theater.
Peter von Matt hat gezeigt, wie eine Annäherung über „Schlüsselerlebnisse“ – hier Nestroys Ohmacht – möglich ist: Nestroys Angst-Syndrom angesichts verschiedener Formen der Unterdrückung in privaten und öffentlichen Kontexten und seine befreiende Überwindung im Spiel. Auffällig sind auch die vielen Bemerkungen in den Possen über den Tod und das Sterben.
Während Otto Rommel psychologisch interpretiert („Verdrängung“), zeigt Siegfried Brill, wie Nestroys Testament ernste Gedanken im Sprachspiel zurücknimmt oder „aufhebt“. Paul Schick hat Nestroys und Karl Kraus’ Stellung zum Tod als Satiriker näher untersucht und die bedingungslose Skepsis des Satirikers, die auch vor dem Tod und dem Jenseits keinen Halt mach, hervorgehoben. Der Tod sei nur insofern Feind des Satirikers, weil er ihn an der „Erfüllung seiner Sendung“ hindere. Nestroys Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden erscheint in dieser Perspektive in einem anderen Licht.
Auch die noch immer nachwirkende „Raimund-Legende“ verlangt nach einer erneuten Revision; eine Anregung gibt Adolf Muschg mit der Erzählung Ihr Herr Bruder, in der Raimund als „ein Mensch, ein vielleicht begnadeter, aber unseliger Mensch,“ bezeichnet wird, der „nicht zu leben wußte; weil er nicht die Geduld aufbrachte, sich selber und andern gnädig zu sein“. Auch für Raimund war das Spiel Überlebenskunst. Valentin formuliert im „Hobellied“ eine geradezu familiäre Nähe zum Tod; Raimunds Stücke und Bildwelten umkreisen und umspielen in vielfältiger Weise die Thematik
„Tod und Überleben“ ist über die biographische Fermentierung des Werks – Raimunds Hypochondrie, Nestroys Furcht vor dem Tod – und über die rezeptionsgeschichtliche Dimension hinaus auch eine wesentliche Thematik der Dramatik Raimund und Nestroys, vom alltäglichen Überlebenskampf über das Hadern mit dem Schicksal und die Auseinandersetzung mit bedrohlichen übernatürlichen Mächten bis zu existentiellen Grenzsituationen.
Raimund experimentierte mit Ernst und Tragikomik. Viele Possen Nestroys haben eine dunkle Folie, es durchzieht sie eine Ernsthaftigkeit, die das Komik auslösende Lachen bricht und auf die Kehrseite der Happy Ends anspielt. Possen haben mit dem (Über-)Leben zu tun; Sterben und Tod von Erblassern sind mehr als nur Komödienbedingungen („Nein, was `s Jahr Onkel und Tanten sterben müssen, bloß damit alles gut ausgeht -!“, kommentiert Weinberl das Happy End in Einen Jux will er sich machen); sie sind der dunkle Faden in der heiteren Textur. Der Jux ist eine der bedeutenden Possen, in denen es angesichts eines trister zu werdenden Alltags in Fremdbestimmung auch ums Überleben geht:
WEINBERL: Jetzt frag ich aber zahlt sich so a Jux aus, wenn man ihn mit einer Furcht, mit 3 Schrocken, 5 Verlegenheiten und 7 Todesängsten erkauft? (III,15)
Ohne Kommentar: Im Tagebuch eines Wandertruppenunternehmers findet sich 1845 folgender Eintrag: „Ein Mann Zettel von Jux gelesen, umgefallen und Tod.“ (Von der Bangigkeit des Herzens, Johann Nestroy 125 Jahre tot, Wien 1987, S. 15)
Raimund (1834) „Der Verschwender“
Zeigt sich der Tod einst mit Verlaub
Und zupft mich: Brüderl, kumm!
Da stell ich mich im Anfang taub
Und schau mich gar nicht um.
Doch sagt er: Lieber Valentin!
Mach keine Umständ! Geh!
Da leg ich meinen Hobel hin
Und sag der Welt Adje.
Nestroy (1838) „Gegen Torheit gibt es keine Mittel“
Und is man auch in jeder Gfahr
Fest gstanden allemal,
Was nutzt’s, ’s vergeht a Handvoll Jahr,
Dann kommt man doch zu Fall;
’s thut zu ein Ort der Weg eim führn,
Der Ort, der heißt das Grab,
Da kann man noch so ballanziern,
Da fallt man gwiß hinab.
Was kann der Mensch, dessen Leben nix anders als ein an seinem Geburtstag gefälltes, auf unbestimmte Zeit sistiertes Todesurteil is, G’scheiteres tun, als er laßt sich in resignierter Delinquentenmanier noch nach Möglichkeit gut g’schehn mit einer Gustospeis? („Mein Freund“, Vorspiel 3, SW VII,246; HKA 30,9)
Ja, Tod, du bist eine eigene Sache, du Tod, du! – Schauerlich durch Rätselhaftigkeit, und wärst vielleicht noch schauerlicher, wenn das Rätsel gelöst wär‘; aber die Würmer können nicht reden, sonst verrateten sie’s vielleicht, wie gräßlich langweilig dem Toten das Totsein vorkommt. („Der Schützling“ I,6; SW VII,130; HKA 24/II, 24)
[…] Das Einzige, was (x {id} x) ich beym Tode fürchte, liegt in der Idee der Möglichkeit des Lebendigbegrabenwerdens. Unsere Gepflogenheiten gewähren in dieser höchstwichtigen Sache eine nur sehr mangelhafte Sicherheit. Die Todtenbeschau heißt so viel wie gar nichts, und die medizinische Wissenschaft ist leider noch in einem Stadium, daß die Doctoren – selbst wenn sie einen umgebracht haben – nicht einmahl gewiß wissen, ob er todt ist. Das in die Erde Verscharrtwerden ist an und für sich ein widerlicher Gedanke, der durch das ·obligate· Sargzunageln noch widerlicher wird. Mit einem Stoßseufzer denke ich hier unwillkührlich, wie schön war dagegen das Verbranntwerden – als Leiche nehmlich – wo die Substanzen in die freyen Lüfte verdampfen, und die Asche in einer schönen Urne bey zurückgelassenen Angehörigen in einem netten Kabinet[t]chen stehen bleiben konnte. So that man vor Zweytausend Jahren, aber freylich, bis die Menschen wieder so gescheidt werden, wie sie vor Zweytausend Jahren gewesen, können immerhin noch Zweytausend Jahre vergehen. – Nun, nachdem ich dem Fortschritt mein ·Compliment· gemacht, wieder zur Sache. […] (aus „Testamentarische Verfügung“ [30. Jänner 1861], HKA, Dokumente, S. 297–300)
Michaela Bachhuber
Die Unmöglichkeit und Möglichkeit des Überlebens in einer Gesellschaft der Determination bei Nestroy und Büchner
Die Unmöglichkeit oder Möglichkeit des Überlebens in der Gesellschaft ist im Wesentlichen von zwei Faktoren geprägt: von der Bestimmung der menschlichen Existenz an sich durch Zufall oder Schicksal als Macht von außen und der Bestimmung der Existenzbedingungen durch Systeme der hierarchisierenden Macht. Beide Formen der Determination, die sich zudem gegenseitig bedingen und verstärken können, finden sich sowohl in Nestroys Talisman oder die Schicksalsperücke als auch bei Büchners Woyzeck. Und beide Protagonisten, Woyzeck und Titus, versuchen als Abweichler in einer Gesellschaft, die keine Abweichung von der Konstruktion „Normalität“ duldet, zu überleben. Beide tun dies mit unterschiedlich großem Erfolg, wenngleich sie mit demselben Problem konfrontiert sind: Ihr Handeln hat keinen Einfluss darauf, wie sie behandelt werden.
Während Woyzecks Schicksal gattungsimmanent tragisch enden muss, lässt das nicht wertende Phänomen des Zufalls zu, dass Titus die Unmöglichkeit (Unglück) und Möglichkeit (Glück) des Überlebens zunächst gleichermaßen offen steht, bis die Waagschale, der Posse geschuldet, zu seinen Gunsten kippt.
Olaf Briese
Vom Wiener Staberl zum Berliner Eckensteher.
Intertextueller und kultureller Transfer
Was die Sozialgeschichte sog. Berliner Eckensteher betrifft, gibt es gravierende Wissenslücken. Einen ähnlich unbefriedigenden Kenntnisstand gibt es auch für den Status und die Herkunft literarisierter Eckensteher, vor allem des Eckenstehers namens Nante. Adolf Glaßbrenner, Carl von Holtei und verschiedene Biographen des Schauspielers Friedrich Beckmann haben reklamiert, dass dem Schriftsteller, dem Bühnenautor oder dem Mimen das Recht an der Erfindung Nantes zukomme, und damalige Zeitgenossen und heutige Autoren schlossen und schließen sich zumeist einer dieser Meinungen an. Mit gleichem Recht könnte man – um diesen verengten Diskussionshorizont zu erweitern – aber auch die Theaterdichter und Schauspieler Adolf Bäuerle, Karl Bernbrunn (Carl Carl) oder den humoristischen Graphiker Franz Burchard Dörbeck (auch die humoristischen Schriftsteller und Journalisten Eduard Maria Oettinger und Alexander Cosmar) als Schöpfer Nantes bezeichnen. Denn der literarische Nante ist eine komplexe Figur: Produktionsästhetisch ist sie intertextuell und intermedial entstanden; und rezeptionsästhetisch ist sie ebenso intertextuell und intermedial bekannt geworden (und intermedial und intertextuell entwickelte sie sich fort). Mehrere Wurzeln und Stränge liefen bei der Entstehung dieser literarischen Figur zusammen, und sie bündelten sich schließlich Ende des Jahrs 1832 im Weinkeller des Berliner ‚Theaters in der Königsstadt‘ am Alexanderplatz, wo sehr wahrscheinlich Beckmann, beeinflusst und assistiert von Glaßbrenner, eine scherzhafte Szene über einen Eckensteher Nante entwarf, damit um die Jahreswende 1832/33 schnell Bühnenerfolge errang und damit eine – nicht nur literarische – Eckenstehermode initiierte.
Ziel des Vortags ist es zu zeigen, wie Beckmanns Nante – unter den damligen Theaterbedingungen nicht unüblich – nicht zuletzt auch das Produkt eines süd-norddeutschen Kulturtransfers ist, zu zeigen, daß er gezielt Eigenschaften des erfolgreichen Wiener Bühnenhelden Staberl beerbte (einer Bühnenfigur, die sich gleichfalls intertextuell entwickelt hatte). Diese Wurzeln reichen ins Jahr 1813 zurück, zu Bäuerles Staberl in Die Bürger in Wien. Diese Figur amalgamierte sich alsobald mit Bäuerles Figur Wiesel (Die Reise nach Paris, oder Wiesels komische Abenteuer, 1816). Darin gab es zwar keinen Staberl, aber eine folgenreiche Gerichtsszene. Der Hauptheld, der Bedienstete Wiesel (also kein Kleinbürger mehr, sondern irgendwo zwischen Kleinbürgertum und Unterschichten angesiedelt) gerät in Turbulenzen, denn aufgrund eines vertauschten Rocks wird er irrtümlich für einen Schurken gehalten und verhaftet. Daraufhin kommt es zu Wieses absurden Antworten bei einem Polizeiverhör – das eigentliche Vorbild der späteren Beckmannschen Posse. Es war dann dem Autor, Schauspieler und Unternehmer Carl Carl vorbehalten, in der Posse Staberls Reiseabentheuer in Frankfurt, München und Paris (uraufgeführt in München am 18. Dezember 1816) Staberl und die nachmals berühmte Verhörszene Wiesels zusammenzubringen. Den ersten Akt dieser Reiseabentheuer bildeten Teile der bereits erwähnten Posse Bäuerles Die Reise nach Paris (1816) mit der berühmten Verhörszene (zwei weitere, neue Akte kamen allerdings hinzu). Carl ersetzte darin also Bäuerles Diener Wiesel durch Bäuerles Kleinbürgerfigur Staberl. Und dieses Carlsche Stück Staberls Reiseabentheuer mit der berühmten Verhörszene erwies sich als absoluter Renner; in den folgenden Jahren und Jahrzehnten kam es (erwähnt werden sollen hier nur die direkten Aufführungen durch Carl) im ‚Theater an der Wien‘ 76 mal zur Aufführung, im ‚Leopoldstädter Theater‘ 13 mal, im ‚Josefstädter Theater‘ 96 mal.
Wie partizipierten Beckmann und sein Co-Autor Glassbrenner um die Jahreswende 1832/33 in Berlin an diesem Erfolg? Wie passten sie diese textuellen Vorlagen Berliner Verhältnissen an und schufen damit die Kunstfigur des Eckenstehers Nante? Und wie läßt sich dieser Transfer erklären: Biographisch mit der Lust an Variationen und Verfremdungen? Sozialgeschichtlich mit Markt- und Plagiatsverhältnissen? Literatur- und kunsttheoretisch mit intertextuellen Bedingungen der Kunstproduktion, wo jede originelle Innovation mehr oder weniger an bereits gegebene Traditionen anknüpft? Welche weiteren Wandlungen durchliefen die Eckensteher- und Nante-Figuren (die sich im Verlauf der dreißiger und vierziger Jahre als Typen voneinander trennten)? Und nicht zuletzt: Wie wirkten Eckensteher- und Nante-Figuren auf die österreichische bzw. Wiener Theaterproduktion wieder zurück?
Daniel Ehrmann
Et in Arcadia ego. Konfigurationen des Letalen in Ferdinand Raimunds Original-Stücken
I. Generischer ‚double bind‘. Die Gattung und der Tod
Man muss nicht erst den Geist und das ‚Lebensgefühl des Biedermeier‘(Bietak) heraufbeschwören‚ um die Problematik der Verbindung von komödiantischem Vorstadttheater und dem Tod zu gewärtigen. Es scheint sich dabei um zwei einander ausschließende Größen zu handeln, denn der Tod ist nichts, worüber man üblicherweise lacht. Dennoch ist der Tod ein hartnäckig wiederkehrendes Thema in Raimunds Original-Stücken. Sei es, dass der Tod wie in Moisasurs Zauberfluch in seiner profanierten Personifikation als „Genius der Vergänglichkeit“ auftritt und für sich selbst spricht, sei es, dass er sich als unausweichliche Gegebenheit, als „allmähliche Abnutzung“ (Jankélévitch) im Hintergrund hält, das Lebensende spielt in den meisten Stücken Raimunds eine nicht zu übersehende Rolle. Dabei ist es gleichgültig, ob er allegorisch auf die Bühne gestellt wird, oder ob er als Thema der Angst oder auch der Lust diskursiv verhandelt wird, er ist in jedem Fall gegenwärtig. Dennoch stirbt kaum jemand auf der Bühne. Ich möchte diesen Umstand in einem ersten Schritt als generische Überkreuzung herausarbeiten, die in eine Art ‚double bind‘ mündet, bei dem zwei Gattungen in der literarischen Verarbeitung aufeinander treffen: Die menschliche Gattung fordert am Ende jeder ontogenetischen Entwicklung den Tod, während die ‚arkadische‘ Gattung des Volksstücks versucht, diesen weitgehend zu vermeiden. Somit müssen die widerstrebenden Implikationen der beiden Gattungen ausgeglichen werden, wobei tendenziell eine Verschiebung des Orts der Thematisierung des Todes vorgenommen wird, der nun weniger im Szenischen als im Narrativen erscheint.
II. Konfigurationen des Letalen
Es gibt also unterschiedliche Arten des Todes in Raimunds Theater. Zunächst ist dabei an den natürlichen Tod zu denken, der üblicherweise (im weiten Sinne chronotopisch) ein Privileg des Alters ist. Dieser Tod kann, wie in Raimunds Zauberkrone, zur zumindest zeitweiligen Etablierung eines tragischen Moments funktionalisiert werden. Er kann aber auch, wie im Falle des ehemaligen Kammerdieners Wolf im Verschwender, als das ohnehin Unausweichliche nur angedeutet und eben nicht konkretisiert oder gar inszeniert werden. Diese Unterschiede finden ihre Entsprechung in der Opposition von Tod zur Unzeit (üblicherweise zu früh) und natürlichem Tod. Dass diese unterschiedlichen Arten des Todes auch verschiedene symbolische Werte haben, die stark von der jeweiligen Art der Darstellung abhängen, soll anhand von Beispielen deutlich gemacht werden.
III. Ökonomie des realen Todes
Bei Raimund zeigt sich eine deutliche Tendenz zur Vermeidung des Todes zur Unzeit, insbesondere des Suizids. Die darin implizierte Forderung nach dem natürlichen Tod, erhält dabei im Kontext von Baudrillards System der politischen Ökonomie, die normalisierend auf Leben und Tod zugreift, möglicherweise eine interessante Konnotation. Es soll anhand dessen gezeigt werden, dass auch die Vermeidung des Todes bei Raimund immanent auf die Anforderungen der Gesellschaft und nicht auf eine transzendente Bedrohung bezogen ist. Diese Immanenz betont die Punktualität des Todes, wodurch die idealisierende Vorstellung von einer Ausweitung des Lebens über das Leben hinaus brüchig wird und sich die Konfigurationen des Letalen in Raimunds Zauberspielen als Rückbindungen an die realistische Ebene erweisen.
Harald Gschwandtner
„Vor mir, mein gnädiges Fräulein, liegt das Gehirn eines unschuldigen Hundes im Spiritus“. Adolf Muschgs Erzählung vom Tod Ferdinand Raimunds
Adolf Muschgs 1982 im Erzählband Leib und Leben erschienener Text Ihr Herr Bruder wurde bisher in der Raimund-Forschung zwar gelegentlich als Rezeptionszeugnis angeführt, [1] jedoch noch nicht einer umfassenden Interpretation unterzogen – mein Beitrag zu den diesjährigen Nestroy-Gesprächen möchte dazu erste Ansätze liefern. Muschgs kurzer Prosatext berichtet aus der fiktiven Perspektive von Ferdinand Raimunds Arzt von der negativen Tollwut-Diagnose nach der Untersuchung jenes Hundes, der den Volkstheaterdichter und -schauspieler wenige Tage vor seinem Suizidversuch in der Nacht vom 29. auf den 30. August 1836 gebissen hatte. Ihr Herr Bruder könnte zwar auf den ersten Blick als literarischer Beitrag zur Raimund-Legendenbildung verstanden werden, da er sich just an dem auch in der Forschung mitunter mythisierten Tod des Dichters abarbeitet [2] – bei genauer Lektüre erweist sich der Text aber als deutlich vielschichtiger, als es die bloße Literarisierung eines tragischen Todes wäre: Indem er seinen medizinischen Erzähler schnell von den Umständen des Suizids zur Frage einer Neubewertung von Raimunds Werk nach dessen irrationaler Selbsttötung übergehen lässt, berührt Muschgs Text grundsätzliche Aspekte der Verbindung von Biographie und Text: „Und wie soll ich mich enthalten, aus dieser Tatsache für die Wahrheitsliebe der Dichter schmerzhafte Folgerungen zu ziehen“ [3], fragt sich der Arzt und verschärft seine Bedenken wenig später: „Wie, ich frage Sie, soll unsereiner der höheren Weisheit trauen, die aus der Feder solcher Männer geflossen ist? Was denken von dem Lachen, das Ihr Herr Bruder auf die Miene ernsthafter Zeitgenossen zu zaubern wußte?“ [4]
Ziel meines Vortrags soll es sein, in drei Schritten das Potential des Muschg-Textes an der Schnittstelle von Fiktion und historischer Biographie zu beleuchten. Dabei soll zuerst die gefinkelte Konstruktion beschrieben werden, die die Perspektiven der in der historisch-kritischen Säkularausgabe versammelten Lebenszeugnisse (z.B. Michael Mayr, Anton Rollett, Joseph Schmidt, Carl Ludwig Costenoble, vgl. SW III, S. 324ff.; SW V, S. 705ff.) zu einer neuen, fiktiven Erzählerposition amalgamiert, wobei nicht zuletzt die von Adolf Muschg in seinen „Frankfurter Vorlesungen“ mit dem Titel Literatur als Therapie? Ein Exkurs über das Heilsame und das Unheilbare angestellten Überlegungen, in denen er über die „literarische[ ] Inszenierung“ von Raimunds Tod Auskunft gibt, [5] eine zentrale Rolle spielen sollen. In einem zweiten Schritt stellt sich die Frage nach der Verbindung von Raimunds Biographie und Werk in Ihr Herr Bruder, denn der Arzt berichtet im Zuge des Briefes nicht nur von seiner posthum erfolgten Sektion des Hundehirns, sondern eben auch von der Vorgeschichte. Raimund habe ihn nach dem Hundebiss um eine „Konsultation unter vier Augen“ [6] gebeten und dabei seine vermeintlichen Tollwutsymptome anschaulich vorgeführt. Geistesgegenwärtig wie er meint, schlägt der Arzt eine Art von „Spiegel-Therapie“ [7] vor, die mit motivischen Elementen aus dem Der Alpenkönig und der Menschenfeind operiert. Zuletzt soll das in Ihr Herr Bruder problematisierte Verhältnis von Wahnsinn und dichterischem Genie kurz in den Blick genommen werden, [8] denn Muschgs Text fragt nach den theatralischen Elementen von Raimunds Selbstmord ebenso wie nach der Bedeutung dieses Aktes für Nachwelt und postume Würdigung. „Soll ich eine Kunst der Täuschung feiern, darf ich sie loben, die dahin führt, daß der Künstler, wenn ihn der Hund beißt, Ernst und Unernst am eignen Leib nicht mehr unterscheiden kann?“, will der Arzt am Ende aus der naiven Position dessen wissen, der die von Seiten der Literaturwissenschaft eingeforderte Trennung von Autor und Werk weder vollziehen kann noch will. Insofern ist Muschgs kurze Erzählung nicht nur als biographischer Text zu verstehen, sondern vor allem als Variation über zwei Kardinalthemen der Literatur: zum einen über die Diskrepanz von Einbildungskraft und Ratio, die ja auch das Wiener Volkstheater wesentlich geprägt hat, zum anderen über das prekäre Verhältnis von Text und ‚Realität‘.
1 Vgl. etwa Jürgen Hein: Das Wiener Volkstheater. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 31997, S. 133; Jürgen Hein, Claudia Meyer: Ferdinand Raimund, der Theatermacher an der Wien. Ein Führer durch seine Zauberspiele. Eine Veröffentlichung der Internationalen Nestroy-Gesellschaft. Wien: Lehner 2004 (= Quodlibet, Bd. 7), S. 16.
2 Vgl. etwa Peter von Matt: Nestroys Panik, in: ders.: Das Schicksal der Phantasie. Studien zur deutschen Literatur. München: dtv 1996, S. 134-148, hier S. 145.„Wenn Raimund sich schließlich erschossen hat, dann war dies, wie bei Stifter, weniger der plötzliche Einsturz aller seelischen Tragwerke als der Entschluß, dem Tod als einem vertrauten Bekannten ein Stück weit entgegenzugehen.“
3 Adolf Muschg: Ihr Herr Bruder, in: ders.: Leib und Leben. Erzählungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 9-17, hier S. 11f.
4 Ebd., S. 15.
5 Adolf Muschg: Literatur als Therapie? Ein Exkurs über das Heilsame und das Unheilbare. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 44. Vgl. dazu auch die Interpretation von Ihr Herr Bruder als „Kompensationstext“ in Alexandra Millner: Spiegelwelten – Weltenspiegel. Zum Spiegelmotiv bei Elfriede Jelinek, Adolf Muschg, Thomas Bernhard, Albert Drach. Wien: Braumüller 2004 [= Wiener Arbeiten zur Literatur, Bd. 19], S. 87.
6 Muschg: Ihr Herr Bruder, S. 12.
7 Muschg: Literatur als Therapie?, S. 44.
8 Vgl. allg. Bernadette Malinowski: Literatur und Wahnsinn – Aspekte eines kulturhistorischen Paradigmas, in: Germanica 32 (2003), S. 11-30.
Andrea Hanna
Das Überleben des Unangepasstesten: Kaspar und Titus im Vergleich
Von dem naiven Kasperltypus scheint Nestroys schlauer Räsonneur Titus Feuerfuchs meilenweit entfernt. Jedoch erweisen sie sich beide als ebenso fähige Überlebenskünstler unter gewissen haarigen Umständen, die in diesem Vortrag nebeneinandergestellt werden. Aus darwinistischer Sicht soll die bestangepasste Art den Überlebenskampf gewinnen. Mit Bezug auf Ferdinand Eberls Die Perücken in Konstantinopel (1790) und Nestroys Der Talisman (1840) wird die Anpassungs- und die damit verbundene Überlebenskraft der entsprechenden komischen Figuren auf dramatischer sowie metatheatralischer Ebene untersucht werden.
Die neuen aufklärerischen Maßstäbe, die mit Hilfe der „Wiener Theaterdebatte“ im achtzehnten Jahrhundert eingesetzt wurden, um das Treiben der komischen Figur zu beschränken, bieten den analytischen Hintergrund. Darüber hinaus wirkt der Schicksal und sein Werkzeug, der Tod, als Gegner, mit denen sich die beiden Figuren innerhalb der Bühnenhandlung auseinandersetzen müssen. In diesen Stücken von Eberl und Nestroy dient die Perückenmaske als Maßstab für diese Anpassung an die fremde Kultur bzw. Gesellschaftsstufe. Die Haltung der beiden komischen Figuren ihr gegenüber bestimmt den Umgang mit dem allgegenwärtigen Schicksalsgesetz.
Welche Bedeutung hat den Begriff „Überleben“ für die komische Figur des Wiener Volkstheaters im Wandel der Jahre? Und an welche Gesetze muss sie sich anpassen, damit sie das unangepassteste Mitglied der Gesellschaft überhaupt überleben kann? Gezeigt werden soll, wie es trotz oder gerade wegen schwieriger Umständen doch das „Happy End“ des Überlebens erreicht.
Galina Hristeva
In Abgrund g’stürzt […]“. Das Unheimliche in der Posse „Der Zerrissene“ von Johann Nestroy
Der Vortrag greift die Anregung Sigmund Freuds auf, der in seiner Schrift „Das Unheimliche“ (1919, GW XII, S. 229-268) ausdrücklich auf Nestroys Posse Der Zerrissene Bezug nimmt und hier vor allem auf das Problem der Umwandlung des Unheimlichen in „unwiderstehliche Komik“ (S. 267) aufmerksam macht. Für Freud ist das Unheimliche die „Wiederholung des Gleichartigen“ (S. 249), eine „gräßliche Multiplikation“ (S. 267). Das Unheimliche ist „das ehemals Heimische“ (S. 259), die „Wiederkehr des Verdrängten“ (S. 263), die Wiederherstellung früherer Zustände. Freuds Beitrag zur Erforschung des Unheimlichen ist äußerst verdienstvoll, trotzdem wird auch der ,Gewinn‘ für Freuds Theorie aus dieser etwas einseitigen Beleuchtung des Unheimlichen festzumachen sein und der Versuch unternommen werden, am Beispiel der Posse „Der Zerrissene“ Nestroys eigene, genuine Ästhetik des Unheimlichen zu rekonstruieren.
Freud betont die außerordentliche Leistung des Dichters Nestroy, der sich vom unheimlichen Stoff emanzipiert habe und sich über die unheimliche, „bei den meisten Menschen nie ganz erlöschende Kinderangst“, über „Einsamkeit, Stille und Dunkelheit“ (S. 268) erhoben habe, um den Leser vor ihnen zu schützen. Die Untersuchung des „Zerrissenen“ soll jedoch diese Annahme in ein differenzierteres Licht rücken: Überreste von romantischem Schauer in Form „pracktische[r] Romantik“ (Nestroy: Der Zerrissene, Stücke 21, S. 90), Schmerz, Angst, tödlicher Ernst, prickelnder Witz und Lachen ergeben in Nestroys „Zerrissenem“ ein Amalgam, das dem Leser keine der Erschütterungen der menschlichen Existenz Mitte des 19. Jahrhunderts erspart. Wie viele seiner Zeitgenossen erkennt Nestroy, dass die Welt „ungeschickt gezimmert ist“, dass das Grundgerüst der Welt einzustürzen droht (Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, hg. von Wolfgang Freiherr von Löhneysen, Darmstadt 2004, Bd. II, S. 745), statt aber dabei die „Unzerstörbarkeit unsers wahren Wesens durch den Tod“ zu postulieren (Arthur Schopenhauer, S. 615 im Kapitel „Über den Tod“) oder wie Schopenhauer und Freud die „milde Narkose“ (Freud, Das Unbehagen in der Kultur, GW XIV, S. 439) der Kunst dagegen zu setzen, spielt Nestroy bedrohliche, unheimliche Situationen an der Grenze zwischen Leben und Tod unablässig durch – immer dem Abgrund nahe und in einer abgründigen Komik – ohne aber die Allmacht des Unheimlichen in eine Allmacht des Lachens zu überführen.
Stefan Hulfeld
„Nestroy und die Nachwelt“: 1862 – 1912 – 1962 – 2012. Komödiantentum oder moderne Satire
Kraus … und die Folgen?
Mit der anlässlich des 50. Todestages im Wiener Musikvereinssaal gehaltenen Standpauke „Nestroy und die Nachwelt“ hat Karl Kraus seinen Beitrag geleistet, damit der Komödiant Nestroy im Verlauf des 20. Jahrhunderts zunehmend auch als Literat ernstgenommen werden konnte. Wird seine Nestroy-„Idolatrie“ mit Marc Lacheny als Teil einer Gesamtstrategie verstanden, hat Kraus einen wesentlichen Einfluss darauf, dass der anti-kanonische Nestroy zum „Klassiker ersten Ranges“ avancierte. – Anlässlich des 150. Todestages soll die Relektüre dieses Textes primär auf Aussagen bezüglich komödiantischer Strategien im Umfeld einer sich modernisierenden Lebenswelt fokussiert werden, um diesbezüglich nach Folgen für die Nestroy-Rezeption in Wissenschaft und Theaterpraxis zu fragen. Dabei wird davon ausgegangen, dass Kraus den Übergang von der Groteske zu dem „mit der Welt laufenden Witz“ thematisiert, woraus jene Neudefinition des kritischen Potentials von Komik resultiert, die fortan für Missverständnisse im Rezeptionsprozess sorgt. Kraus’ Teilhabe an der Aufwertung von Nestroy zum Klassiker scheint paradoxerweise gleichzeitig dafür verantwortlich, dass der Komödiant oder „kosmische Hanswurst“ Nestroy von der Nachwelt weiterhin primär als Sprachsatiriker verstanden wurde.
Gábor Kerekes
Raimund und Nestroy in Ungarn
Ferdinand Raimund kam im Alter von 18 Jahren nach Ungarn, wo er bis 1814 als Schauspieler tätig war. In Ödenburg [Sopron], Pressburg [Pozsony], Raab [Győr] und Steinamanger [Szombathely] stand er auf der Bühne, als Mitglied unterschiedlicher Truppen und mit wechselhaftem Erfolg. Seinem Alter entsprechend war dies für ihn eine Zeitspanne, in der er vieles vom Metier eines Schauspielers und von der Wirkung theatralischer Effekte erlernte, was für ihn im späteren von großer Bedeutung sein sollte. Sein Privatleben war in diesen Jahren turbulent.
Johann Nestroy war zehn Jahre älter als Raimund, als er das erste Mal im Jahre 1829 nach Ungarn kam, dementsprechend war er nicht nur insgesamt eine stabilere Persönlichkeit, sondern besaß auch einen viel höheren schauspielerischen Rang als zuvor Raimund. Der Rahmen für den ersten Ungarnaufenthalt Nestroys war ein Gastspiel in Pressburg, dem später – ab 1837 bis 1857 – eine Vielzahl von Gastauftritten vor allem auf den deutschsprachigen Bühnen von Pest und Buda folgten, die sich für Nestroy insgesamt triumphal gestalteten.
Henk J. Koning
Tod und Überleben bei Nestroy oder die Seinsfragen eines unsicheren Humoristen
Der Stimmungswechsel zwischen Heiterkeit und Trübsinn, der den Zuschauer verunsichert , ist vielen Stücken Nestroys nicht fremd. Wer kennt nicht das berühmte Kometenlied Kniereims, in dem er ausspricht Kurzum, oben und unten sieht man, es geht rein auf’n Untergang los und singt: Da wird einem halt angst und bang/ Die Welt steht auf kein’ Fall mehr lang.
Man kann das sehen als vereinfachte Interpretation eines ungebildeten unterprivilegierten Schustergesellen, der sich ein Weltbild zusammenflickt und der zwar von Nestroy gespielt wurde, dessen Worten man jedoch keine allzugroβe Bedeutung beimessen sollte. Obwohl diese Sentenzen überspielt werden, bleiben die Angst vor dem Weltuntergang und der Kampf ums Überleben im Hintergrund bestehen.
Nicht nur Besorgnis um die eigene Existenz, sondern auch Selbstmordgedanken wie im Schützling und persönliche Todesgedanken, wie in Nestroys Testament, lassen Fragen aufkommen wie er über Tod und (Über)leben dachte. Es soll gezeigt werden, wie Nestroy in diesem Zusammenhang religiöse Vorstellungen einsetzt und sie durch eine humorvolle Variante in ein anderes Licht rückt.
Textstellen aus unterschiedlichen Stücken lassen erkennen, daβ Tod und Leben mitunter im Werk Nestroys aufeinander prallen und den Zuschauer unangenehm aufrütteln. Die Angst vor dem Ende des Lebens ist ein Element, das plötzlich wie eine dunkle Wolke am heiteren Himmel erscheint und eine unerfreuliche Stimmung kreiert, die den humorvollen Handlungsverlauf blitzartig unterbricht. In solchen Fällen wird Nestroy zum Skeptiker, ja fast zum Nihilisten, der sogar das Zweifeln hinter sich gelassen hat und vor dem gähnenden Abgrund des absoluten Nichts steht. Nur schwerlich findet er danach zur lebensbejahenden Handlung zurück.
Das Spielen mit dem Aberglauben in einigen Stücken, ob mit oder ohne Teufeleien, sorgt ebenfalls dafür, daβ Nestroys Possen an einzelnen Stellen zu unsicheren Stimmungstableaus werden. Der gebildete Mensch hat zwar nach dem Glaubensverlust auch den Aberglauben abgeschworen, aber die Aufklärung bietet dafür kaum Ersatz und so bleibt die existentielle Furcht weiterhin bestehen.
Nestroys Wirklichkeit wirkt deshalb beklemmend, weil ihr jede metaphyische Dimension fehlt und das Individuum gleichsam der Sinnlosigkeit des Diesseitigen ausgeliefert ist. Könnte man demnach die Stücke Nestroys als Zerrbilder eines unsicheren Humoristen charakterisieren?
Marc Lacheny
Vom „Verschwender“ (1834) zu „Le Prodigue“ (1992). Ein Beispiel Raimund’schen Überlebens in Frankreich
Die Grundlage für dieses Referat bildet die Untersuchung der wiederentdeckten französischen Übersetzung von Raimunds Verschwender (1834) durch Sylvie Muller in Zusammenarbeit mit Dominique Venard im Jahre 1992.
Schon als „historisches Objekt“ ist diese Raimund-Übersetzung insofern interessant, als es (nicht nur in Frankreich) nur wenige gibt: Im französischen Sprachraum wurde zwar Der Bauer als Millionär 1992 in Yerres (südlich von Paris) in Dieter Welkes Übersetzung durch die Compagnie des quatre vents zur Aufführung gebracht, doch ist diese Übersetzung heute nicht zugänglich; ähnliches gilt übrigens auch für Benoît Journiacs Übersetzungen von Raimunds Gefesselter Phantasie 2000 und Bauer als Millionär 2007. Überdies erschienen alle drei nicht im Druck.
Mullers und Venards Übersetzung von Raimunds Verschwender, die auf Ersuchen der Maison Antoine Vitez in Montpellier (eines bedeutenden Zentrums für Theaterübersetzung aus der ganzen Welt) Wirklichkeit wurde, wurde 5 Jahre nach ihrer Entstehung, also 1997, von Heinz Schwarzinger ins Programm seiner 11. Pariser „Woche des österreichischen Theaters“, die dem Thema „Österreichischen Komödien“ gewidmet war, aufgenommen, so dass diese Übersetzung zum Glück nicht ganz in der Schublade blieb, sondern – wenn auch nur sehr kurz – eine konkrete Bühnenexistenz aufweisen konnte. Auf die Unterschiede zwischen Mullers/Venards Übersetzung und Schwarzingers Darstellung auf der Bühne wird am Ende des Vortrags ein kurzer Blick geworfen werden.
Was nun speziell Mullers/Venards Übersetzung anbelangt, so bedeutet die Tatsache, dass sie unveröffentlicht geblieben ist, natürlich nicht, dass sie als völlig uninteressant oder als wertlos einzustufen ist, sondern sie verdient insofern Achtung, als sie zuerst die Spuren einer intensiven Arbeit der Übersetzer an Raimunds Text trägt. Aufschlussreich sind auch immer wieder die Probleme, vor allem sprachlicher Natur, auf die sie unvermeidlich stoßen mussten, und die Art und Weise, wie sie diese zu lösen oder zu überwinden versuchten. Hier stellen sich Fragen, die auch bei Nestroy-Übersetzungen anzutreffen sind, wie etwa Nähe oder Ferne dem Original gegenüber, Notwendigkeit einer zumindest partiellen sprachlichen Neuschöpfung, sprachlicher Verlust und Neugewinn, Arbeit an den Sprachniveaus. Aus dem Verhältnis zwischen Original und Übersetzung entsteht nicht selten ein höchst intensiver Dialog, der uns auch über die Tiefen, Vielfalt und Subtilität der Raimund’schen Sprache informiert.
In Schwarzingers punktueller Distanzierung von Mullers und Venards Übersetzung spiegeln sich schließlich Bühnenansprüche, die nicht unbedingt denen der „schriftlichen“ Übersetzung entsprechen, es sei denn, man erwartet von der Übersetzung eines Theaterstückes, dass sie das Theatralische bzw. Szenische schon stark mit in den Übersetzungsprozess integriert, wobei dieser dann dem Regisseur vielleicht den Wind aus den Segeln nimmt.
Allerdings stellen Mullers/Venards Übersetzung und Schwarzingers Bühnenbearbeitung ein lebendiges Beispiel Raimund’schen Überlebens in Frankreich dar, das zweifellos auch in anderen Ländern untersucht werden könnte.
Marion Linhardt
„der dritte Act dagegen, wo Raimund dem Wahnsinn verfällt und auf der Scene stirbt, ist […] nur für Theaterbesucher von besonders starken Nerven berechnet.“ Lebens- und Todesdeutungen in den Raimund-Stücken von Carl Elmar, Julius Reuper und Heinrich Jantsch/Alexander Calliano
Wolfgang Hildesheimer hat 1981 berichtet, dass während des Mozartfestes in Hamburg 1978 im Rahmen einer Diskussion ein Herr zu Wort gekommen sei, der „sich […] als offiziellen Vertreter des Mozarteums Salzburg [erklärte] und sagte, er wolle hiermit dokumentieren, daß das Mozarteum mein Buch [Mozart, 1977] einmütig ablehne.“ Die kontroversen Reaktionen auf Hildesheimers Mozart-Biografie veranschaulichen die Spannbreite von Deutungen hinsichtlich des Lebens einer historischen Künstlerpersönlichkeit und zeigen zugleich, welche Wirkmächtigkeit tradierte Deutungsmuster besitzen. Solche Deutungsmuster werden nicht selten durch populäre biografische Darstellungen festgeschrieben, die weite Rezipientenkreise ansprechen und häufig zu Legendenbildungen beitragen.
Für den Fall Ferdinand Raimunds hat Arnold Klaffenböck nachgezeichnet, wie Künstlerromane und Romanbiografien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entsprechende Deutungsmuster generiert bzw. weitertransportiert haben. Ein zentraler Topos ist dabei die Überblendung Raimunds mit einer Vorstellung von „Alt-Wien“, die im Selbst- und Fremdbild Wiens vor allem ab dem späten 19. Jahrhundert eine wesentliche Rolle spielte. Für die Raimund-Dramatik des 19. Jahrhunderts besaß die „Alt-Wien“-Thematik (noch) kaum Relevanz. An den Raimund-Stücken von Carl Elmar (1851), Julius Reuper (1869) und Heinrich Jantsch/Alexander Calliano (1890/92) lässt sich vielmehr nachvollziehen, wie die Person Raimunds unterschiedlichen Genres – dem Charakterbild, dem Trauerspiel und dem Volksstück – „angepasst“ wurde und wie durch eine je spezifische Zusammenstellung von historischen Fakten, Umdeutungen und frei erfundenen Episoden ganz eigene „Wissensbestände“ zu Raimund etabliert wurden.
Matthias J. Pernerstorfer
„Hier liegt nun die saubre Frau …“ Zu Ende und Nachleben der versoffenen Gouvernante
„Ein gantz neues auf Französische Art eingerichtetes DIVERTISSEMENT“ mit dem Titel BERNARDON Die Gouvernante [Prag 1761] steht im Zentrum des Vortags unter der Rubrik „Funde – Fragen – Berichte“.
Dieses Stück, in dem sich eine Gouvernante im Kreise ihrer Schülerinnen und Schüler so lange betrinkt, bis sie nicht mehr stehen kann und mit einem Schubkarren von der Bühne transportiert wird, war in den 1760er und 1770er Jahren weit verbreitet. Mehrere Drucke sind erhalten, in welchen es zum Singspiel Bernardon Die versoffene Guvernante [Prag 1761], zur „Opera Comique mit einem pantomimischen Ballet“ Die Gouvernante (Brünn 1763), zum „musicalischen Lustspiel mit Tänzen von Kindern“ Die Hofmeisterinn (Wien [1764]) oder zur „comischen Operette“ Die Gubernante (s. l. 1776) wird. Aufgrund seiner Popularität hat das Stück vielerorts Spuren hinterlassen, und es konnte etwa der bislang nur mit Titel nachgewiesene Druck zur Prager Uraufführung am 28. März 1761 in der Schlossbibliothek von Manjetin gefunden werden.
Diese zahlreichen, meist regional verbreiteten und insgesamt nur teilweise erschlossenen Quellen zur Rezeption von BERNARDON Die Gouvernante werfen die Frage auf, wie vollständig die Theaterproduktion des 18. Jahrhunderts durch Reinhart Meyers Bibliographia Dramatica et Damaticorum dokumentiert wird und wo – nach Gattungen aber auch geografisch gesehen – es Bedarf gibt, die Arbeit nach dem Abschluss der gedruckten Fassung dieser bibliografischen Großleistung fortzusetzen.
Eine weitere, vor allem im Kontext des Lexikons Theater in Böhmen, Mähren und Schlesien. Von den Anfängen bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts (hg. von Alena Jakubcová und M. J. P., im Layout) diskutierte Frage, ist jene der Autorschaft: Der Verfasser ist, trotz des prominent genannten Bernardon nicht J. J. F. v. Kurz, denn es ist, wie auf dem Titelblatt explizit gesagt wird: „Auf Angebung des Impressarii [d. i. Kurz] Durch ein Mitglied der Pragerischen Schaubühne In gebundenen Reden verfertigt worden.“ Wer ist der Autor? Und wem ist dieses Werk nun zuzuschreiben, dessen Konzeption auf ein, dessen textliche Ausführung auf ein anderes Mitglied der Truppe zurückgeführt wird?
Alessandra Schininà
„Bei uns stirbt man im Ernst …“ Schwarzer Humor und Entlarvung der alltäglichen Brutalität in „Häuptling Abendwind“
Nestroys Burleske Häuptling Abendwind oder Das greuliche Festmahl wird oft als Zivilisationskritik und bitterböse Satire gegen den Nationalismus interpretiert. Der Beitrag konzentriert sich vielmehr auf die Frage wie Nestroy ein Tabu-Thema, wie das des Kannibalismus, so reich an anthropologischen, religiösen, erotischen und psychologischen Implikationen behandelt. In Häuptling Abendwind hat der schwarze Humor neben der sozialkritischen auch eine existenzielle Funktion. Durch ihn versucht Nestroy einerseits alltägliche menschenvernichtende Mechanismen zu entlarven, andererseits die Angst des Todes zu überwinden, eine Angst die er besonders stark fühlte und eben durch Witz und Humor zu vertreiben suchte. In der sarkastischen Darstellung einer Kannibalengemeinschaft nimmt das Spiel mit der Sprache eine zentrale Rolle ein. Der Unterschied zwischen den zivilisierten Menschen und den Menschenfressern entspricht dem zwischen metaphorisch Gesagtem und tatsächlich Ausgeführtem. Durch die Entlarvung der Sprache kommt hier zum Vorschein, wie manch unbedachte Redewendung ein Potential an Gewalt und Zerstörung besitzt. Trotz aller Komik der Sprache und der Situationen teilen die Kannibalen und die Kolonialisten einen gnadenlosen Kampf ums Überleben. Beide verschlingen Menschen und Ressourcen, verstecken Tierisches und Barbarisches hinter den Deckmantel der Kultur und weisen auf ein enges Verhältnis zwischen Eros und Thanatos hin. Die groteske „unappetitliche“ Farce enthüllt sich tiefgehender als vermutet und es ergibt sich eine erbarmungslose Überlegung über die Zersetzungsprozesse des menschlichen Körpers, das allgemeine Verschlingen, die Vergänglichkeit des Lebens. Nestroy kündigt somit einige Aspekte des „literarischen Kannibalismus“ im modernen Theater an (siehe Jelinek, Tabori, W. Schwab, Heiner Müller). Einige Autoren haben sich sogar direkt auf Nestroys Stück bezogen. Das Übertreiben des theatralischen und fiktiven Charakters des Bühnengeschehens in Häuptling Abendwind dient also ebenso zur Austreibung von Ängsten, als zur Demaskierung der Verschönerung einer brutalen Realität. Erst in der Theaterwelt dieser Faschings-Burleske, in der die Sprache zugleich Missstände entlarvt und Distanz schafft, ist es möglich, ein Kannibalen-Festmahl zu ertragen, d.h. über die Tragik des Lebens, das sich als ein nie endender Prozess von allgemeiner Verschlingung erweist, lachen zu können und sich dadurch erhaben zu fühlen.
W. Edgar Yates
Freuden und Leiden eines Biographen
Siehe: W. Edgar Yates: „Bin Dichter nur der Posse“ Johann Nepomuk Nestroy, Versuch einer Biographie.