Zusammenfassung von Jürgen Hein
Mehr als zwanzig Jahre gibt es in Schwechat „Theaterg’schichten“ mit und um Nestroy. Schloß Rothmühle ist zum Forum lebendiger Nestroy-Forschung und Theaterarbeit geworden.
Nestroys „vorstädtische“ Possenwelt ist gewissermaßen dorthin zurückgekehrt, wo man um die historische Gebundenheit weiß, zugleich um ein modernes Verständnis und um Aktualisierung bemüht ist. „Schloß“ und „Hütte“, gesellschaftliches „Oben“ und „Unten“ verbinden sich damals wie heute im theatralischen Spiel.
Während sich die „Burg“ um Nestroy mit wechselndem Erfolg bemüht, ist er in Schwechat längst „angekommen“, und das im doppelten Sinn des Wortes. – Eine kurze Chronik der Ergebnisse, Erkenntnisse, Perspektiven der letzten Jahrzehnte mag das bislang geleistete festhalten.
1975 Erste Bestandsaufnahme: Daß der österreichische Dramatiker und Satiriker unerschöpflichen Gesprächsstoff bietet, bewiesen schon die ersten Internationalen Nestroy-Gespräche 1975, die mit einer Bestandsaufnahme von Wesen und Wirkung des nestroyschen Possentheaters begannen und Fragen der Inszenierung zwischen „Werktreue“ und „restaurierender“, bzw. „aktualisierender“ Bearbeitung behandelten.
1976 boten die Gespräche zum Thema „Nestroy, ein Europäer“ den Teilnehmern aus Österreich, Polen, Frankreich, Italien, Großbritannien, der Schweiz, der CSSR, der DDR und der Bundesrepublik Deutschland die Möglichkeit eines anregenden Gedanken- und Meinungsaustausches über Nestroys „europäisches Format“, seine Übersetzbarkeit in fremde Sprachen und seine Bedeutung im Kontext des internationalen Lachtheaters.
1977 lenkte man den Blick auf das Thema „Nestroy und das Biedermeier“, wobei unter anderem Fragen der Zensur und Nestroys „Weltanschauung“ im Kontext oppositioneller Literaturströmungen behandelt wurden. Die theatralische Seite – Musik, Bühnenbild, Kostüm – kam ebenfalls nicht zu kurz. Überdies wurden „Entwicklungsphasen“ bei Nestroy und seine Stellung zum „Volksstück“ erörtert.
Die Gespräche der ersten Jahre gaben Stoff und Themen für die folgenden, die sich 1978 mit Inszenierungsfragen und 1979 – am Beispiel von „Einen Jux will er sich machen“ – mit Bearbeitungs- und Rezeptionsfragen beschäftigten. Nestroys Adaption fremder Vorlagen stand dabei ebenso zur Diskussion wie das Fortwirken seines Werkes, etwa von „Einen Jux will er sich machen“ in den USA durch Thornton Wildeer und das Musical „Hello Dolly“.
1980 rückte der „politische Nestroy“ in den Mittelpunkt. Sein künstlerisches Engagement für die Freiheit in allen Bereichen gesellschaftlichen Lebens wurde als die eigentlich politische Dimension seines Werkes erkannt. Nestroy war Bürger und zugleich Kritiker des Bürgertums. Das „Politische“ zeigt sich häufig gerade nicht im manifesten Inhalt der Possen, sonern in der sozialkritsche Akzente setzenden Vorlagenbearbeitung und in einer sezifischen Dramaturgie. Die Komplexität der satirischen und theatralischen Vorgänge auf der Bühne verbietet, Nestroy unreflektiert mit Etiketten wie „fortschrittlich“ oder „liberal“, „konservativ“, „opportunistisch“ zu verstehen. Ebenso darf aber die Allseitigkeit des Spiels nicht zu einer Entpolitisierung Nestroys zum zeitlosen Spaß´macher führen. Jede Zeit, das haben die Gespräche immer wieder deutlich gemacht, haben nach „ihrem“ und nach dem „authentischen“ Nestroy zugleich zu suchen.
Biographischen und geistesgeschichtlichen Aspekten ging man 1981 unter dem Motto „Nestroy, ein Philosoph und Denker“ nach. Sein Humanismus und seine skeptizistische „Philosophie des Schicksals“ standen ebenso zur Diskussion wie die Popularisierung philosophischer Grundhaltungen und Denkrichtungen. In den Possen werden „Weltanschauungsfragen“ in einer speziifischen Dramaturgie sinnlich veranschaulicht und zum Teil volksstückhaft aus der Alltagswelt entwickelt.
Insbesondere gesellschaftliche Rollen und Theater-Rollen bildeten 1982 den Mittelpunkt, woei die Rolle der Frau in Nestroys Stücken, in seinem Leben und in der Biedermeierzeit eigens thematisiert wurde.
Daß die Übergänge von der Alltagswelt in die Theaterwelt bei Nestroy vielfältig und fließend sind, bestätigte auch 1983 das Thema „Nestroy – Parodie und Operette“, wobei unter anderem Fragen des Volkstheaters als „Unterhaltungsindustrie“ diskutiert wurden.
1984 stand die Dialektik von Zeitbezogenheit und Zeitlosigkeit des nestroyschen Werks im Mittelpunkt, wurde unter anderem auch nach dem „Österreichischen“ und nach der utopischen Dimension gefragt.
„Nestroy und die Zeitgenossen“ hieß 1985 das Thema; es konnte bei weitem nicht ausgeschöpft werden. Immer wieder griff man in den folgenden Jahren Anregungen auf, so zum Beispiel die Vielfalt der – auch parodistischen – Bearbeitungsmöglichkeiten im Wiener Volkstheater vor und nach Nestroy.
1986 ging es um Nestroy, den Klassiker, und zwar im öffentlichen Bewußtsein, im Schulunterricht und auf dem Theater. Sowohl die Umdeutung seines Werkes in damaliger wie heutiger Theaterkritik als auch seine Trivialisierung und die Vereinnahmung unter verschiedenen aktuellen Tendenzen (z. B. Nestroy und die „österreichische Seele“) oder politisch-ideologischen Vorzeichen (z. B. Nestroy in der NS-Zeit) waren Thema der Diskussion.
1987 drehen sich die Gespräche um Motive der Posse „Der Färber und sein Zwillingsbruder“; ein Seitenblick galt der Thematik „Militär und Militanz“ im Volkstheater auf dem Hintergrund der Kommunikationsstruktur zwischen gesellschaftlicher Wirklichkeit und Possenwelt.
1988 standen anläßlich der Inszenierung von „Der Schützling“ die Fortschrittsthematik und die Wirklichkeitsbewältigung im Medium der Posse vor und nach 1848 im Vordergrund, u. a. die Dialektik von Poetisierung und Verdammung des technischen Fortschritts. Weitere Themen waren der Funktion der Musik (u. a. in der Bearbeitung der Offenbach-Operette „Häuptling Abendwind“) und dem „Realismus“ gewidmet. Die Betrachtung der Zensurverhältnisse deckte überraschende Bezüge zu Mechanismen der heutigen Mediengesellschaft auf.
1989 ging es – auf dem Hintergrund der gelungenen Inszenierung von „Einen Jux will er sich machen“ – um den komplexen Zusammenhang von Biographie, Rollen- und Sozialgeschichte, Realitätsbezug und Possenform. Unter anderem wurden Facetten der Geld-Thematik, von Essen und Trinken bei Nestroy im sozialen onext der Biedermeierzeit sichtbar. Die „Ökonomie“-Thematik im vormärzlichen Volkstheater, das „industrielle“ Schreiben zwischen „marktgerechter“ Produktion und „Originalität“ für ein sich zur Unterhaltungsindustrie entwickelndes Theater boten einen Vergleich mit den Bedingungen heutigen nicht-subventionierten Theaters.
1990 hieß das Rahmenthema „Das Böse, Magische und Irrationale bei Raimund und Nestroy“: es gab Einblicke in das literarische und theatralischen Teufelsbild und erhellt die Strellung Nestroys zu dieser Tradition, mit der er – psychologisierend und theatralisierend – in den verschiedenen Stücken vom Früh- bis Spätwerk in einen produktiven Dialog trat. Nestroys „Aberglaubologie“ löst Raimunds Festhalten an der Theodizee ab, woraus sich Konsequenzen für die Komödie als Korrektiv oder Utopie „zwischen Himmel und Hölle“ ergeben. Einige dieser „metaphysischen“ Momente aus nestroyscher Perspektive machte die Schwechater Inszenierung von „Robert der Teuxel“ sinnfällig.
1991 wurden die „Theater-Teufeleien“ fortgesetzt; die Gespräche drehten sich um die Posse „Die Papiere des Teufels oder Der Zufall“. Ein Schwerpunkt lag – mit Blick auf Mozart- und Grillparzer-Jahr – auf den musikalischen poetologischen Bezügen Nestroys zu beiden. Erhellt wurde Nestroys Spiel mit der Fiktion und die Verteidigung der Illusion, sein Beherrschtsein vom „Papier“ (Manuskripte, Briefe, Verträge, Testamente, Aktien, Wechsel, Zeitung, Theaterkritiken u. a.) und entsprechende Formen theateralischer Auseinandersetzung (z. B. Couplets). Man entdeckte – besonders für die Jahre 1848/49 – Affinitäten zwischen Posse und Journalismus, beleuchtete Aspekte des Spiels im Spiel und des „Theaters auf dem Theater“, sowie der Theater-Metapher überhaupt, u. a. die Doppelwertigkei des Theatervergnügens als „Bildung“ und Entlarvung falscher Ambitionen, das „Theatralische“ im Alltag und in der Kunst. Bei Nestroy tritt an die Stelle der alten Zauberwelt die Theaterwet und zeigt – geradezu modern – die mediale Verwertung: wie sich Leben in „Theater“ verwandelt und den Zusammenhang mit dem wirklichen Leben verliert.
1992 haben die Gespräche neben dem offensichtlich unausschöpfbaren Potential des „Bösen“ und „Teuflischen“ bei Nestroy – an „Der Zauberer Sulphurelectrimagneticophosphoratus und die Fee Walpurgiblockspergiseptemtrionalis oder Die Abentheuer in der Sclaverey“ demonstriert – bislang vernachlässigte Aspekte beleuchtet, z. B. „Theater, Zauberei und magische Künste“, „Sklaverei und Freiheit“, biedermeierlicher Exotismus bei Nestroy und im Vormärz. Wie schon früher blieben überraschende Einsichten in die Affinität Nestroyscher Welterkenntnis und heutiger Realität nicht aus. Hintergründe des Zusammenhangs von Theater und „magischen Künsten“ wurden sichtbar, z. B wie die „Zauberei“ die von Poetik und Rhetorik unterdrückten Kräfte der „niederen Natur“ (Affekte, Triebe, Machtgelüste, Phantasie) freisetzen, wie Zauberei und Magie vom politischen und sozialhistorischen Kontext überformt werden, was zur Entdämonisierung bei Raimund und zum planmäßigen Abbau der Zauber-Rolle bei Nestroy führt. Ein zweiter Themenkreis war dem Reisen und der Entdeckung der Landschaft, insbesondere des für Nestroys Possen wichtigen Übergangsgebietes zwischen Stadt und Land gewidmet; Aspekte des biedermeierlichen Exotismus („Wien und Asien“), das orientalische Milieu als Metapher für heimische Unfreiheit, kamen ebenso zur Sprache wie Parallelen zwischen Komödien-Motiv des Reisens und Nestroys dramatischen Schaffen.
1993 standen die Gespräche unter dem Motto „Alles ist möglich!“ mit dem Themenkreis „Oben und Unten“, „Herren und Diener“, „Geld und Glück“; gespielt wurde „Zu ebener Erde und erster Stock“. Man entdeckt ebenso neue Zusammenhänge zwischen dem sprachmächtigen und dem „sprachlosen“ Nestroy wie die Bedeutung des Karten-, Glücks- und Lotterie-Spiels in der Posse (u. a. Zusammenhang mit der „Schicksals“-Thematik), in der durch das Geld bestimmten Dynamik von „Oben und Unten“ und auf dem Hintergrund von Biographie und Zeitgeschichte. Traditionelle Diener-Konstellationen und ihre Veränderung bei Nestroys Konkurrent Friedrich Kaiser im gewandelten sozialen Gefüge zeigten den Zusammenhang von theatralischer und gesellschaftlicher Wirklichkeit. Parallelen in Geisteshaltung und Komödienauffassung wurden auch zu einem anderen Zeitgenossen Nestroys gezogen, zu Eduard von Bauernfeld; eine Kritik des Jahres 1840 nannte Nestroy übrigens den „Bauernfeld der Volksbühne“.
Besondere Erwähnung verdient die Exkursion, die von markanten Punkten im Umkreis Schwechats durch das Wiener Becken bis zu den „romantischen“ Naturszenarien im Gebirge führte. Barocke Welt (Wallfahrtskirche Maria Lanzendorf mit Kalvarienberg), sozialgeschichtliche Perspektiven (Vormärz-Fabriksiedlung Marienthal, Manufaktur und Schloß Pottendorf) und der Blick auf Formen der Naturwahrnehmung im Biedermeier (Mira-Wasserfälle bei Pernitz, Blick auf den Schneeberg), sowie Abstecher zu „Raimund-Orten“ (Villa bei Pernitz, Sterbeort in Pottenstein, Grab in Gutenstein, Mariahilfberg bei Gutenstein) vermittelten Eindrücke des kulturgeschichtlichen Umfeldes, in dem auch Nestroys Possenwelt steht.
Die 20. Nestroy-Gespräche hatten 1994 „Nestroy und die Geschichte“ zum Rahmenthema. „Theaterg’schichten“, „Lebensgeschichte“, Alltags- und Sozialgeschichte sind bei Nestroy eng ineinander verwoben und werden zum Teil dialektisch in Frage gestellt. Sein Geschichtsbewußtsein artikuliert sich in seinen Briefen und Werken. In den Possen begegnet uns Alltagsgeschichte in realitätsnaher Komödienform. Geschichte wird auf ihren „Sinn“ für den „Fortschritt“ befragt, oder mit Nestroys Worten: „Die Zukunft bietet Hoffnungen, aber wie zur Zukunft gelangen ohne sie?“
1995 Das Rahmenthema „Nestroys Wien und anderswo“ drehte sich rund um die Posse „Eine Wohnung ist zu vermieten“ (1837) in der Inszenierung von Peter Gruber. Mit der Frage nach Schauplätzen in den Possen und im alltäglichen Leben sowie nach Nestroys (Bühnen-)Wien griff das Rahmenthema Aspekte auf, die auch bei früheren Gesprächen mit im Raum standen. Der Referent nannte einleitend einige Aspekte der räumlichen Dimension in Nestroys Werk – „wirkliche Orte“ und „Theaterorte“, szenischer Raum und „Spielraum“ überhaupt zwischen Wirklichkeit und Fiktion –, die u. a. in die Fragen mündeten: Stimmt es, daß Nestroy Effekte und Ausstattung im Laufe der Zeit immer stärker reduziert und sich auf den „praktikablen“ Raum konzentriert? Verliert der Raum seine „symbolische“ Bedeutung, und geht damit ein Verlust an „lokaler Realität“ einher? Wie reagieren Publikum und Kritik auf den Wandel in der „Kunst der Scenik“? Welche Rolle spielen die Forderungen zeitgenössischer Dramenpoetik bzw. theaterpraktische Erwägungen? Durch die Betonung der Wachsfiguren- und Marionetten-Welt wurde das Wechselspiel von Erstarrung und Auflösung und die „Spießersatire“ in der Schwechater Aufführung von „Eine Wohnung ist zu vermieten“ anschaulich.
1996 Das hintergründige Rahmenthema „Wegen was tun s’ so G’schichten machen“ sollte die Vieldeutigkeit von „Geschichte“ im geschichtsträchtigen Jahr des Millenniums betonen. Das Motto entstammt der Ballett-Parodie „Der gefühlvolle Kerkermeister oder Adelheid, die verfolgte Wittib“ (1832), die in einer gelungenen, aktualisierenden Inszenierung von Peter Gruber gegeben wurde.
Im Rahmenprogramm brillierte Justus Neumann mit „Erschießen Sie sich und leben sie wohl!“ (Texte von Nestroy bis Altenberg „dem Österreicher aus seiner 1000-jährigen Seele undramatisch vorgelesen“). In das Jahr des Millenniums fallen auch der 160. Todestag Raimunds und der 195. Geburtstag Nestroys; der eine als der „österreichischste Mensch“ (H. E. Jacob) apostrophiert, der andere zugleich „deutscher Satiriker“ (Karl Kraus) und Schöpfer eines wienerischen Welttheaters.
Vom 2. bis 6. Juli 1997 fanden auf Schloß Rothmühle in Schwechat bei Wien die 23. Internationalen Nestroy-Gespräche unter dem Motto aus der Posse Mein Freund: „Das wär’ so ein Stoff jetzt, allein ich verschluck’s“ statt. Die Vorträge brachten Neues von und über Nestroy, Anregungen zu Gesprächen über Motive, Themen, Strukturen und Kontext von „Mein Freund“ und darüber hinaus.
Der Rückblick auf über zwanzig Jahre Nestroy-Gespräche zeigt – selbst in der hier gebotenen Kürze – beeindruckende Ergebnisse, die internationale Anerkennung gefunden haben. Die Vielfalt der Themen, die Hinweise auf noch Unentdecktes, die Anregungnen durch Inszenierungsbeispiele, die Demonstration von Theater als „lust-“ und „geistvolle“ Unterhaltung, als Fiktion und Wirklichkeit, als Spiel und „Geschäft“, fordern weitere Erforschung und inszenatorische Erprobung. Schloß Rothmühle in Schwechat, geradezu symbolisch „Hütte“ und „Schloß“ verbindend und sinnlich anschaulich machend, bietet dazu mit nestroyscher Atmosphäre beste Voraussetzungen.
In Abwandlung eines bekannten Brecht-Zitats sehen wir nicht „betroffen / den Vorhang zu und alle Fragen offen“, sondern diskutieren weiter offen Nestroys genialen Umgang mit den Stoffen.