„Viel lernen und nacher viel wissen, das ist keine Kunst“
Raimund und Nestroy: Korrespondenzen, theatrale Räume und Traditionen
Jürgen Hein: Einführung
Die Beiträge des heurigen Symposiums wollen Hintergründe ausleuchten, Traditionen (wieder)entdecken, Korrespondenzen erkennen; einen besonderen Schwerpunkt bildet dabei der erlebte und dargestellte „theatrale Raum“ im weitesten Sinne des Wortes.
Mit Umsonst (1857) betreten wir die Welt des Theaters im sog. Spätwerk Johann Nestroys und bemerken die Spannung der Provinzstadt Steyr mit ihrem theaterbegeisterten Publikum (Gschlader: „Ohne Theater können wir nicht sein“) und Braunau sowie der (in der Posse unausgesprochenen) Metropole Wien.
In etwa einem Drittel der Nestroyschen Possen kommt ‚Theater‘ vor, in Anspielungen, Zitaten, Figuren und Strukturen, Couplets und Quodlibets, als Stoff, Motiv und Thema. Zitate, Anspielungen und Szenen, ja ganze Stücke, die die Theaterwelt thematisieren und potenzieren, darüber hinaus künden die Parodien und der karikierende Spielstil von der Selbstthematik des Theaters, die auch Umsonst trägt. Die Posse erzielte bis zu Nestroys Tod fast 50 Aufführungen, gehört aber nicht zu den bekannten Stücken. In der Rolle des Pitzl stand er zum letzten Mal „auf den Brettern […], die die Welt bedeuten“ (Umsonst I,6), und sein letztes Wort dort war demnach „Umsonst“ (III,34). [1] Wie viel von Nestroy als Mensch und Künstler in dieser Rolle steckt, besonders vom alternden Schauspieler, wird ebenso zu diskutieren sein wie der Zusammenhang mit der „Vanitas“-Thematik (Mathias Spohr).
Die Welt als Bühne und die Bühne als Welt finden bei Ferdinand Raimund und Nestroy ganz unterschiedliche Ausprägung.
Unterschiedlich ist auch ihr Blick auf die Stadt und städtische Kultur.
Theaterwelt und bürgerliche Theaterkultur bestimmen auch das Schaffen von Margaretha Carl (1788-1861), der „talentvolle[n] Gattin des Directors“ Carl Carl (W. Edgar Yates), von Betty Paoli (1814-1894) (Karin Wozonig) und Marie von Ebner-Eschenbach (1830-1916) (Ulrike Tanzer).
Weiter zurück wird der Blick gelenkt auf die hanswurstischen Ursprüngen des Wiener Volkstheaters, die nicht selten mit der Stadt-Land-Opposition zu tun haben (Beatrix Müller-Kampel, Eszter Kocsis, Matthias Johannes Pernerstorfer), und zur Frage, welche Rolle dem Theater zwischen Unterhaltungs- und Erziehungsauftrag in einer sich stetig verbürgerlichenden Welt zukommt (Matthias Mansky über Gebler, 1726-1786), schließlich auch, wie dies für das 19. Jahrhundert und für die heutige Medienkonsumgesellschaft zu diskutieren ist. Zudem stellt sich die Frage nach dem Fortleben des Volkstheaters, auch des Artistischen und Clownesken in der Moderne: Ist es einerseits in der Literaturkomödie, andererseits im „Bürgerschocktheater“ aufgegangen? [2] Gibt es Neubelebungen? Etwa bei Oskar Kokoschka (Marina Gorbatenko), der bekanntlich Theaterentwürfe zu Raimund gemacht hat, [3] oder im Schwierigen (1921) Hugo von Hofmannsthals (Maximilian Aue) und bei Franzobel (Bettina Rabelhofer)?
Die Entdeckung und Beschreibung, ja „Inszenierung“ der „großen Stadt“, eines städtischen Bewusstseins, in der Literatur und auf dem Theater ist reich an Perspektiven. Wien erscheint u.a. als „Spinnegewebe“ (Willibald Alexis). [4] Die „massenweise“ Publikation gerade von „Wiener Lebensbildern“ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist ein Indiz für das neue Sujet – und mehr als das. [5] Zu beachten ist auch die sich verändernde Relation zur „Vorstadt“ und zum „Umland“ (hier wird die Exkursion mit Wolfgang Häusler neue Einblicke vermitteln). Regionalgeschichte und Geographie („Landschaft“; Otmar Nestroy) bieten neue Aspekte für die Interpretation. Je nach „Gebrauch“ und „Wahrnehmung“ (Walter Benjamin) entwickeln sich andere Wahrnehmungsmuster. [6] Für Richard Reichensperger hat Nestroy „das literarisch Werk selbst in der Oppositionen der Stadtstruktur aufgebaut“, besonders bei der „Umkodierung“ französischer Vorlagen. [7] Wie erscheint die ‚zitierte’ Stadt aus der Sicht theatraler Beobachter und Satiriker?
Welche Topographien ‚schreibt‘ das Theater? – Inszenierte Räume und dargestellte „Bilder“: wie erscheinen Realitäten und Lokalitäten: Lokales und Ideales, wirkliche und imaginäre Räume (Thomas Markwart), Topisches? [8] Wie verhalten sich Bühnenraum und „Textraum“ (Cornelia Ortlieb)? Welche Texttopographien ‚schreibt‘ die Bühne? [9]
Ferner geht es um Raumgestaltung bei Nestroy (Wendelin Schmidt-Dengler) und allgemein um eine noch ungeschriebene „Poetik des Komödienraums“ mit ‚Bausteinen‘ für entsprechende Lokale drinnen und draußen, ergänzt um den Vergleich mit Londoner Perspektiven (Marion Linhardt und Arnold Klaffenböck).
Die Polarität von Stadt und Land spielt eine besondere Rolle. Bei Raimund ist besonders die Naturdarstellung in den Blick zu nehmen, z. B. in Der Alpenkönig und der Menschenfeind (1828) (Franz Schüppen).
Raimund und Nestroy als Briefschreiber werden von Roman Lach, Sigurd Paul Scheichl und Fred Walla untersucht. Dabei geht es u.a. um unterschiedliche private und öffentliche Schreibstile und die Frage, welchen Wert die Dokumente für biographische Annäherungen haben können.
Auch der Blick auf zeitgenössische „Briefsteller“ und auf die Funktion von Briefen und die Rolle der (Brief-)Schreiber in Nestroys Possen dürfte interessante Einblicke bieten. [10]
Schließlich geht es – wie auch bei früheren Gesprächen – um Fragen der Rezeption: Friedrich Torbergs Nestroy-Rezeption (Matthias Schleifer) und Nestroy auf französischen Bühnen vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis heute (Marc Lacheny).
1 Vgl. Johann Nestroy, Umsonst, hg. von Peter Branscombe (HKA Stücke 35), Wien 1998, S. 1.
2 Vgl. Volker Klotz, Bürgerliches Lachtheater. Komödie, Posse, Schwank, Operette, 4. akt. u. erw. Aufl., Heidelberg 2007.
3 Oskar Kokoschka, Theaterentwürfe zu Ferdinand Raimund (1790–1836), Graphische Sammlung Albertina, 344. Ausstellung, Wien 1990.
4 Vgl. Jürgen Hein, „Wien […] ist wie ein Spinnegewebe“ – Willibald Alexis’ Wiener Bilder (1833), in: Willibald Alexis (1798–1871). Ein Autor des Vor- und Nachmärz, hg. von Wolfgang Beutin und Peter Stein, Bielefeld 2000, S. 275–290.
5 Vgl. Kai Kauffmann, „Es ist nur ein Wien!“, Stadtbeschreibungen von Wien 1700 bis 1873, Geschichte eines literarischen Genres der Wiener Publizistik, Wien, Köln, Weimar 1994.
6 Vgl. Heiz Brüggemann, Heinz, Das andere Fenster: Einblicke in Häuser und Menschen. Zur Literaturgeschichte einer urbanen Wahrnehmungsform, Frankfurt a. M. 1989; Konstanze Mittendorfer, Biedermeier oder: Das Glück im Haus. Bauen und Wohnen in Wien und Berlin 1800–1850, Wien 1991.
7 Richard Reichensperger, Zur Wiener Stadtsemiotik von Adalbert Stifter bis H. C. Artmann, in: Literatur als Text der Kultur, hg. von Moritz Csáky und Richard Reichensperger, Wien 1999, S. 159–185, hier S. 162 und 169–176; ders., Johann Nestroy und die französische Moderne 1830–1860, in: Ambivalenz des kulturellen Erbes. Paradigma: Österreich, hg. von Moritz Csáky und Klaus Zeyringer, Innsbruck, Wien, München 2000, S. 113–134.
8 Vgl. Dorothy Prohaska, Raimund and Vienna. A Critical Study of Raimund’s Plays in their Viennese Setting. London 1970.
9 Vgl. auch Urs Helmensdorfer, Rechts und links auf der Bühne, Nestroyana 20 (2000), S. 5–22.
10 Vgl. Volker Klotz, Bühnen-Briefe, Kritiken und Essays zum Theater, Davor eine Abhandlung über Briefszenen in Schauspiel und Oper, Frankfurt a.M. 1972.
Maximilian Aue
Inszenierte Absichtslosigkeit
Zur Funktion des Furlani in Hugo von Hofmannsthals „Der Schwierige“
Die Wichtigkeit des Clowns Furlani in Hugo v. Hofmannsthals Schwierigem ist ein Gemeinplatz der einschlägigen Literatur. Zwar wird sie nicht durchgehend so hoch eingeschätzt wie z.B. bei Hans Weigel, der meint, Hans Karl sage mit seinem Bericht über den Clown „indirekt alles, was er über sich – und über seine Welt – und was der Autor des ‚Schwierigen‘ über sein Lustspiel und seine Welt und sich – und über die Manier, in der er seine Welt anschaut, zu sagen ha[be]“ (Weigel, 1963, S. 44) oder wie bei Wolfram Mauser, für den die Beschreibung Furlanis durch Hans Karl in seinem ersten Gespräch mit Helene Altenwyl der „geistige Mittelpunkt des ganzen Stückes“ ist (Mauser, 1961, S. 70–75). Ausgehend von dieser seiner zweiten Erwähnung im Stück weist man aber übereinstimmend darauf hin, dass in dieser Beschreibung eine Identifizierung Hans Karls mit Furlani stattfinde: mit dessen mimischer Sprachlosigkeit, Nonchalance, Diskretion und Eleganz. Vor allem werde aber Furlani wegen seiner Absichtslosigkeit für Hans Karl zum Vor-, Spiegel- oder Wunschbild. Wie Furlani stelle auch Hans Karl auf der Soiree seine eigenen Absichten hintan und gehe nur auf die der anderen ein. Gerade durch sein Furlanisches völlig absichtsloses Sich-Öffnen den anderen gegenüber (Greiner, 1986, S. 233), durch seine wirkliche „psychische Ungeschütztheit“ (Bergengruen, 2006, S. 232) komme er aber dann – gewissermaßen als Belohnung und mit Helenes Hilfe – zum Ziel seiner unterdrückten Wünsche.
Dabei wird aber – mit ganz wenigen Ausnahmen (Meister, 1987, S. 192; McKenzie, 1992, S. 46–48; Yates, 2002, S. 151–52) – übersehen, dass die Furlanische Absichtslosigkeit im Schwierigen eine inszenierte Absichtslosigkeit ist und dass sich Hans Karl der Rollenhaftigkeit dieser Absichtslosigkeit durchaus bewusst ist. Er berichtet ja Helene, dass Furlani „scheinbar“ nichts mit Absicht tut und dass zu dessen scheinbar absichtsloser Nonchalance die doppelte Anstrengung nötig ist wie zu den absichtsvollen Kunststücken der anderen Zirkuskünstler (II, 1).
Im folgenden möchte ich zeigen, dass auch die Absichtslosigkeit Hans Karls nicht ‚naiv‘, nicht naturhaft gegeben ist, sondern einen wesentlichen Aspekt einer Rolle darstellt, die er auf der Altenwylschen Soiree auf sich nimmt. Der erste Teil des Aufsatzes führt im Rückgriff auf die erste Erwähnung Furlanis (I, 18) aus, wie diese Rolle durch eine kunstvoll angeordnete Reihe von Begegnungen im ersten Akt vorgegeben wird und inwiefern gerade die in der Zirkusnummer des Dummen August praktizierte Methode für diese Rolle bestimmend wird. Im zweiten Teil meiner Arbeit zeige ich dann, wie diese Methode im Verlauf der Soiree zur Anwendung kommt und in welchem Sinn sie sich auf das ‚Happy End‘ der Komödie auswirkt.
Marina B. Gorbatenko
Dramaturgische Experimente von Oskar Kokoschka und ihr Ursprung in der Wiener Volkskomödie
Die Theaterexperimente von Oskar Kokoschka in den Jahren nach 1907 (nach der Premiere von „Mörder Hoffnung der Frauen“) empfand das zeitgenössische Publikum als Provokation: das Inhaltliche seiner Dramen begrenzte sich auf die der Jahrhundertwende immanenten Themen des Geschlechterkampfes und der Identitätskrise, im Formalen vollzog sich die Auflösung der Sprache in assoziativ verbundene, ekstatische Ausrufe und ins Deklamieren rhythmischer Rede-Fragmente anstatt eines konventionellen Dialogs. Dabei gewann das Nonverbale an Bedeutung: Kokoschkas Stücke überschritten die Grenzen einer Wortkunst und entwickelten sich als Polystruktur, die aus Licht, Farbsymbolik, Pantomime und Tanz auf der Bühne entstand. Auch wenn Kokoschkas dramaturgische Phase nur kurz war, werden seine Stücke als Vorläufer des expressionistischen Theaters anerkannt. Es wird aber oft außer Acht gelassen, dass mit der Hervorhebung des Visuellen und des Improvisatorischen, mit der Vorliebe für das theatralisch Groteske, Kokoschka in einer engen Verbindung zur Wiener Volkskomödie steht.
Die Rolle der „stummen“ Sprache, der Gestik und Mimik bei Nestroy, ist bisher wenig beachtet worden, obwohl die Zuflucht in gestisch-mimische Ausdrucksformen bzw. die Erweiterung der Wirkungsmittel durch nicht sprachliche Formen Nestroy vom Beginn seiner Laufbahn an, auch in fremden Stücken, nahe gelegen war. Laut W. Neuber (Universität Wien), ist schon 1825 in einem Polizeibericht zu lesen, Nestroy habe sich erlaubt, „bei der Darstellung der Operette ‚Der Dorfbarbier‛ nicht nur die unzensurierten Zusätze zu lesen, sondern auch sogar die zensurierten mit einem sittenwidrigen Gesang zu verwechseln und solchen noch sittenwidriger vorzutragen“. Der Dramatiker und Schauspieler Nestroy entwickelte ein eigenes Zeichensystem von Gebärden und Tonschattierungen, mit deren Hilfe er soziale und politische Konstellationen in einer „zensurbestimmten Zeit“ enthüllte, den puritanisch gereinigten Stücken ihre erotische Resonanz zurückgab, ohne die es nie eine große Komödie, nie ein komisches Theater gegeben hat. Er hatte eine unerreichte Gabe: durch eine einzige Mundfalte, ein einziges Augenzucken die ganze geistreiche, ironische Höhe neben der scheinbar tiefdümmsten Rede anzudeuten.
Schon zu Nestroys Zeit erkannte man zum Teil das Neue an seiner Dramaturgie, erst aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts, also zu der Zeit, als das spezifisch moderne Drama zu entstehen begann, hat Karl Kraus, dessen Kreis auch Kokoschka nahe stand, auf Nestroys Bedeutung aufmerksam gemacht. Die Stücke von Oskar Kokoschka zu lesen, hat wenig Sinn, wenn die visuelle und musikalisch-theatralische Vorstellung des Lesers nicht mitspielt. Kokoschka wollte den Text als eine Partitur verstanden wissen. Für ihn war der Text keine fertige, sondern eine dynamische Vorlage, die jeder anders liest und versteht (die Ausführungen seiner Stücke sind ein Beweis dafür). Indem Kokoschka alle dem Medium Theater innewohnenden Mittel aktiviert, und kein Element unterordnet, nähert er sich dem Ideal der Epoche – dem Ausdruck des Unausdrückbaren – an. Die nonverbalen Mittel der Bühne – Gestik, Mimik, Tanz, Licht und Raumgestaltung – ermöglichten dem Maler, einen Blick hinter das Rationale, das Logische, zu werfen. Wie viele andere europäische Avantgardisten (auch manche russische!) fand Kokoschka im Visuellen gerade die beim Wort verloren gegangene Suggestivität und Eindringlichkeit wieder. Die sinnliche Wahrnehmbarkeit des Bildes gewährte die unmittelbarste Kommunikation zwischen dem Geschehen auf der Bühne und dem Publikum. Das Wort muss erst aus Klang in Inhalt übersetzt werden, während das Bild den Zuschauer ohne Zwischenschaltung des Gehirns direkt anspricht.
Im Referat geht es um die wichtigsten Stilmittel, die Kokoschka in seinen Dramen benutzt.
Eszter Kocsis
Die Figur des Spaßmachers bei Stranitzky und Perinet
1. Charakterisierung der Lustigen Figur von Stranitzky. Behandlung der wichtigsten Eigenschaften, „Aufgaben“ und Funktionen bzw. der bedeutenden Erneuerungen der Figur, in Hinblick auf ihre Vorgänger. Erläuterung der Zweideutigkeit der Bezeichnung des „Narren“ und die Resultate dieser Zweideutigkeit.
„Zu Stranitzkys Leistungen gehört, dass er die lustige Figur, den Narren, in die ernste Handlung der Staatsaktionen eingeführt, und seine Rolle vergrößert hat. Die Figur ist allerdings auch in dieser Situation ihrer Aufgabe, das Adelige dem Gelächter preiszugeben, treu geblieben. Die Erneuerungen Stranitzkys haben dazu geführt, dass die Staatstragödie im herkömmlichen Sinn zerstört wurde.“
„Die Bezeichnung „Narr“ bedeutet bei Stranitzky gleichzeitig den dummen Menschen und den Spaßmacher. […] Ein Narr zu sein, hat also für den Hanswurst einerseits eine Isolierung von den anderen Personen zur Folge, andererseits gewährt ihm diese Rolle aber Rechte beim Handeln und Sprechen […]“
2. Charakterisierung der Lustigen Figur bei Perinet. Darlegung der relevanten Unterschiede und Übereinstimmungen zum Stranitzkys Hanswurst. Versuch, kurz der Ursachen der Veränderungen der Figur auf den Grund zu gehen.
„Die Gründe für die Veränderungen, die sich an der Figur vollzogen, sind einerseits mit den jeweiligen zeitgenössischen sozial-politischen Entwicklungen verbunden. […]Andererseits liegen die Gründe für die Veränderungen der Hanswurst-Figur in den persönlichen Vorstellungen und Eigeninitiativen der Autoren und Schauspieler.“
3. Veranschaulichung der erörterten Thesen anhand der Analyse von selbstgewählten Dramen: Joseph Anton Stranitzky: Der Großmütige Überwinder Seiner selbst, Joachim Perinet: Kaspar, der Fagottist.
4. Vergleich der zwei Werke hinsichtlich Hanswurst und Kasperl.
„Kasperl kann als Nachfahre des Hanswurst betrachtet werden. Er weist neben zahlreichen, von Hanswurst übernommenen traditionellen Zügen natürlich auch neue, für den früheren Hanswurst nicht charakteristische Eigenschaften auf. Eine solche ist z. B. Kaspars Naivität oder Kindlichkeit.“
5. Resümee
Roman Lach
Raimunds Briefe an Antonie Wagner
Die Forschung schwankt in ihrer Bewertung von Ferdinand Raimunds Verhältnis zu Antonie Wagner zwischen „Lebenslüge“ (Castle) und „im Metaphysischen verwurzeltem Verhältnis“ (Rommel). So gegensätzlich die Bewertungen hier sein mögen, treffen sie in dem Punkt zusammen, dass Raimund in seinen Briefen in der Tat einer enthusiastischen Beschwörungsrhetorik zuneigt, die der Instabilität des nicht kirchlich sanktionierten Verhältnisses eine Absicherung geben soll. Dabei haben die häufigen Anrufungen von Himmel und Hölle jedoch nur bedingt den Charakter idealistischer Formeln, vielmehr zeugen sie von einer permanenten Unsicherheit, die ihn immer wieder neue Beteuerungen bzw. Vorwürfe gegenüber der Geliebten hervorbringen lässt. Als ein unendlicher Monolog stellen sich Raimunds Briefe dar, nicht nur, weil ihnen die Gegenstimme der (verschollenen) Antwortschreiben fehlt, sondern auch, weil in ihnen kein eigentlicher Dialog angestrebt wird. Die unausgesetzt umkreisten Themen des Misstrauens und der Sehnsucht nach der Nähe der Partnerin werden in kaum variierten, immer allgemein und prinzipiell gehaltenen Formeln aufgeführt.
An die Stelle der äußerlich nicht gegebenen Gewissheit soll der Brief selbst treten. In diesem Sinne kommt ihm tatsächlich eine metaphysische Funktion zu:
„O möchte meine Toni nie anders denken als Sie gedacht und gefühlt als sie diese Briefe schrieb. Möchten unsere Briefe, die Zeugen unserer Leiden und unserer edlen Liebe nie gleichgültig aus unserer Hand gelegt werden.“ (Werke 4, S. 47)
Im Brief soll die Augenblicksgebundenheit der Empfindung transzendiert werden zur immer gültigen Tatsache. Der hohe Ton, in dem Raimund die meisten seiner Briefe verfasst, hat hierfür einzustehen.
Diese Liebe, die weder institutionell verankert ist, noch auf gegenseitigem Vertrauen beruht, sondern – durchaus komödienhaft – permanent in Zweifel gezogen und erneut beteuert wird, bedarf des Briefes als wiederholt durchexerzierte rituelle Bekämpfung der Ungewissheit:
„Ich habe mir vorgenommen, einen Plan zu schmieden, der unsere Herzen immer in Einigkeit erhält, und dir einen Beweis liefert, daß zwei Menschen durch die Übereinstimmung ihrer Seelen einen bedeutenden Grad von Zufriedenheit erlangen können“ (4, S. 50)
So wie in diesem Zitat eine Sprache des Kalküls auf eine Sprache der Emotion trifft, wie in der „Zauberflöte“ individuelle Liebe als Menschheitsexperiment durchgeführt wird, zeigt sich dieser Briefwechsel als Medium einer (Selbst-) Erziehung im aufklärerischen Sinne: das Individuelle muss sich am Allgemeinen überprüfen. Raimunds Sprachformeln beschwören stets aufs Neue das – zu beweisende – Weltgesetz, in dem diese Liebe verankert sein muss, weil sie vor der Welt (in den Briefen immer wieder als „Publikum“ desavouiert) keine Legitimität hat.
Der befremdlich unindividuell bleibende, „hohe“, Ton – Gellerts empfindsames Konzept des Briefs als schriftlich geführtes Gespräch hinterlässt hier keine Spuren – scheint Nähe unmöglich zu machen und stellt hier doch die einzig verfügbare Sprache einer Liebe dar, die in ihrem Anspruch empfindsam und zugleich allgemeingültig ist.
Es wäre zu fragen, ob das in Raimunds Briefen formulierte Konzept nicht so auch in seinen Zauber- und Besserungsstücken in Anspruch genommen wird. Zauber und hoher Ton gehören in Raimunds Welt zusammen.
Gerade in diesen Briefen zeigt sich, dass das Modell gesellschaftlichen Ausgleichs für Raimund nicht Phrase, sondern Voraussetzung der eigenen Kunstwelt ist: Als Ausgleich zwischen Enthusiasmus und Enttäuschung.
Marc Lacheny
Nestroy in Frankreich
Zur Rezeption seiner Stücke auf den französischen Bühnen vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis heute
Hier sollen die Aufführungen Nestroy’scher Stücke auf den französischen Bühnen von dem Anfang des 20. Jahrhunderts bis heute besprochen werden.
Mit Ausnahme der Bedeutung als „Kulturwaffe“ im annektierten Lothringen (1871–1918), die den Aufführungen der Stücke Nestroys am Metzer Stadttheater innewohnten und auf die Jeanne Benay in einem bedeutenden Beitrag hingewiesen hat, fand Nestroy bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, ja bis in die 60er Jahre hinein gar keinen Zugang zu den französischen Bühnen.
Diese „gespenstische“ Lage Nestroys in den französischen Theatern änderte sich erst, als einige seiner Werke auf die Bretter gingen und übersetzt wurden. Die Aufführungen mancher Possen Nestroys und ihre Rezeption in der französischen Presse werden hier chronologisch dargestellt werden, um herauszuarbeiten, ob eine gewisse Entwicklung in der französischen Bühnenrezeption der Nestroy’schen Stücke festzustellen ist. Dabei stechen drei Hauptmomente hervor, die – v. a. was die ersten zwei Phasen angeht – auch wichtige Etappen des Kulturtauschs zwischen Österreich und Frankreich bilden:
1) 1967 fand die einzige Tournee des Burgtheaters in Frankreich (genauer: in der Comédie Française) statt, die Nestroy im Programm hatte. Die Veröffentlichung der ersten Übersetzungen Nestroys ins Französische im 20. Jahrhundert, Der Zerrissene und Einen Jux will er sich machen (1985), ist übrigens als Konsequenz des erfolgreichen Gastspiels des Burgtheaters in Frankreich zu verstehen.
2) Von 1991 bis 1997 wurden Nestroy’sche Stücke im Rahmen der 1986 von Heinz Schwarzinger gegründeten „Wochen des österreichischen Theaters“ („Semaines du théâtre autrichien“) in Paris drei Mal zur Darstellung gebracht. Nestroy wurde in diesem Programm der kulturellen Förderung des österreichischen Theaters in Frankreich also eine lehrreiche Stelle zugewiesen.
3) Von 2002 bis 2004 bot der Regisseur Stéphane Verrue ebenfalls außerhalb von Paris eine nicht unbedeutende Anzahl von Aufführungen des Talisman: die meisten in Nordfrankreich, manche aber auch in anderen französischen Regionen.
Daraus geht hervor, dass Nestroy mindestens bei den „ernsten“ französischen Regisseuren nicht mehr der große Unbekannte ist, der er noch vor zwanzig Jahren war. Nun ist diese Behauptung dadurch zu relativieren, dass Nestroy bei der französischen Öffentlichkeit hingegen noch lange nicht den Ruf genießt, der ihm gebühren sollte.
Marion Linhardt | Arnold Klaffenböck
„Stadt“ – „Vorstadt“ – „Land“: Wiener und Londoner Perspektiven
Wien Zwischen Kongress- und Ringstraßenzeit sind zahllose Prosatexte entstanden, die Wien zum Handlungsort des Geschehens bestimmen oder diese Stadt selbst zum Gegenstand des Erzählens machen. Novellen und Skizzen, satirische und humoristische Erzählungen, Reiseberichte oder Briefe in recht unterschiedlicher Qualität geben meist in distanziert-stilisierter, seltener in unmittelbarer Weise urbane Eindrücke wieder, die ganz bestimmte Bilder und Vorstellungen beschwören. Die Wahrnehmung Wiens als biedermeierlicher Erlebnisraum erfolgt hauptsächlich unter ästhetisch-städtebaulichen und/oder soziologischen Gesichtspunkten, wobei der selektive Blick des Erzählers als Filter wirkt. Die Visualisierung des urbanen Raumes geschieht trotz unterschiedlicher Gewichtung oder Interessen unter Benützung erzählerischer Topoi, die als Formenkanon für die erzählende Wiener Literatur bis ins 20. Jh. beibehalten und emotional verstärkt wurden. Zu diesem Raumrepertoire gehören Begriffe wie „Stadt“ (als „Die Stadt“ = heutige Innenstadt, City), „Vorstadt“ (zwischen Glacis und Linienwall) und „Land“ im Sinne der die Stadt umgebenden und sie durchdringenden Kultur- bzw. Naturlandschaft, des Nichturbanen.
Für die literarische Auseinandersetzung mit Wien charakteristisch ist das das facettenreiche Spektrum von Blickpunkten und Positionen, von denen aus sich die genannten Bereiche erschließen und dem Beobachter durch Perspektivenwechsel vielfältige Raumerlebnisse zuteil werden, die vom gewählten Betrachterstandpunkt abhängen. Die Erzähler-Autoren erweisen sich teilweise als Spezialisten bei der Vermittlung der mit dem urbanen Raum zusammenhängenden Impressionen.
Anhand ausgewählter Prosatexte, u. a. von Adami, Alexis, Castelli, Forstmann, Gräffer, Laube, Märzroth, Realis, Seidl oder Stifter, werden einige Sehmodelle vorgestellt, verbunden mit der Frage nach Authentizität oder „Inszenierung“ der Raumeindrücke.
London Der Blick der Prosa des 19. Jhs. auf Wien und die in den betreffenden Texten entfalteten Vorstellungen von „Stadt“, „Vorstadt“ und „Land“ sollen kommentiert werden durch Überlegungen zu Stadt-Bildern, die zeitgleich in London in der dramatischen Literatur entworfen wurden. Auch in ihr wurden Fragen des Stadtkörpers, also des gebauten Raumes, soziale Formationen und deren Verschiebungen sowie Vorstellungskomplexe bzw. Stadt-Images verhandelt. Lebenssituationen und städtische Strukturen in London und Wien waren im 19. Jh. in vielerlei Hinsicht – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Stadtausdehnungen – kaum zu vergleichen. Sehr wohl vergleichbar war jedoch die Wahrnehmung von Veränderung, die hier wie dort die Grundlage für literarische Reflexionen über das Thema „Stadt“ bildete; und hier wie dort wurde Stadtwahrnehmung ganz wesentlich durch den Faktor Zuwanderung bestimmt, und zwar sowohl für die Ortsansässigen wie für die Zuwanderer, die vom umgebenden Land oder von weiter her in die Stadt zogen. Für eine Kommentierung der historischen Wien-Reflexionen durch die London-Reflexion bieten sich drei hauptsächliche Fragestellungen an:
1. Welche Bilder verbinden sich mit den Begriffen „Stadt“, „Vorstadt“ und „Land“? Das räumliche und politische Gebilde „London“ lässt eine Übertragung der für Wien gültigen Begriffe „Stadt“ und „Vorstadt“ nicht ohne Weiteres zu, obzwar auch London eine „City“ aufweist und mit der „City of Westminster“ sogar eine Art „Zwilling“ zur „City“ besitzt. Zu fragen wäre daher, ob es Bezirke im Großraum London gab, deren Bedeutung für den Vorstellungskomplex „London“ demjenigen der Wiener „Stadt“ und „Vorstadt“ entsprach. Während „Land“ in Texten über Wien auch und vor allem das war, was den Stadtkörper unmittelbar umschloss, war „Land“ in Londoner Theaterstücken das weit Entfernte, das ganz andere, auf das man sehnsüchtig blickte, weil es „Heimat“ war, oder belustigt, weil es Provinz“ war.
2. Wie veränderte sich das Bild von London, das im Theater gezeigt wurde, im Laufe des 19. Jhs.? Wann und warum fungierte London auf der Bühne als Gegenstand der Selbstvergewisserung, wann wurde es als feindlicher Raum gezeigt, wann als Ort, der die Erfüllung von Sehnsüchten zu gewähren versprach?
3. Weisen die Wien-Reflexionen und London-Reflexionen medienspezifische Besonderheiten auf? Hier geht es um die Frage, an welches Publikum sich die Prosatexte in Wien und die Theatertexte in London wandten. Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem sozialen Status des Publikums, das mit den betreffenden Arbeiten angesprochen werden sollte, und der jeweiligen Aussage über „Stadt“?
Matthias Mansky
Tobias Philipp von Gebler: Ein Staatsmann als Dramatiker
Der vorzüglich von Gerhard Tanzer geschilderte Prozess einer gesellschaftlichen Transformation im mariatheresianischen bzw. josephinischen Wien verpflichtet in seiner „Verbürgerlichung“ (E. Rebling) des Alltags und der Künste auch das Theater zu einem ständigen Nützlichkeitsnachweis. Durch einen von staatlicher Hand geförderten asketischen Lebensstil, eine Selbstdisziplinierung ganz im Sinne eines neuen merkantilistischen Arbeitsethos, eine strengere Trennung von Arbeits- und Freizeit, und eine Nivellierung des Festkreislaufes sollte eine erhöhte Kontrollierbarkeit des Vergnügens und der Freizeit gelingen. Bei den Literaten, die sich im Dienste eines aufgeklärten, absolutistischen Staates für eine Sitten- und Geschmacksverbesserung in allen Lebensbereichen stark machen, handelt es sich größtenteils um Mitglieder eines neu aufkommenden bürgerlichen Beamtentums. Besonders literarische Genres mit gesellschaftlicher Breitenwirkung, wie Wochenschriften oder das Theater, werden für ihre Aufklärungsbestrebungen genutzt. Die österreichische Literatur orientiert sich zunehmend an der modernen Literatur des nördlichen Deutschlands, auch wenn es, wie Roger Bauer betont, nie zu einer „Subordination oder baren Nachahmung“ kommt, sondern man stets darauf bedacht ist, passende literarische Modelle mit Berücksichtigung der lokalen Begebenheiten für Wien zu adaptieren. Dem Theater kommt innerhalb des intendierten Erziehungsprozesses eine Schlüsselrolle zu. Durch den öffentlichen Vortrag und die gesellschaftliche Reichweite werden ihm sogar die Möglichkeit zugeschrieben, Predigten zu ersetzen, wird die Schaubühne zur Kanzel umfunktioniert. Die Bestrebungen einer Theaterreform, die in Wien in der von Hilde Haider-Pregler analysierten journalistischen Theaterdebatte kulminieren, werden somit auch zu einer Diskussion um die Modernisierung der Gesellschaft, zu der eben das Theater seinen Teil beizutragen hätte.
Im Kontext einer Verbürgerlichung des Theaters sind die Dramen des prominenten Staatsmannes Tobias Philipp von Gebler zu sehen. Seine steile politische Karriere veranschaulicht nicht zuletzt die Aufstiegsmöglichkeiten innerhalb des mariatheresianisch-josephinischen Verwaltungsapparats. In seiner Funktion im Staatsrat bzw. als Vizekanzler der vereinigten böhmisch-österreichischen Hofkanzlei unterstützt er die Bemühungen der österreichischen Aufklärer um ein regelmäßiges, deutschsprachiges Theater. In seinen Dramen schlägt er den Weg zum rührenden Lustspiel ein, das sich an Diderot und Lessing orientiert. Auffallend ist Geblers Vorliebe für tugendhafte Staatsdiener auf der Bühne. In seinem bekanntesten Stück Der Minister wird ein exemplarischer und edler Staatsmann ins Zentrum der Handlung gerückt. Durch diese positive Bezugsfigur soll dem Publikum ein erstrebenswertes bürgerliches Wertesystem kommuniziert werden.
Thomas Markwart
Die imaginäre Stadt – Toposveränderungen in Nestroys „Einen Jux will er sich machen“
Folgt Nestroys Posse „Einen Jux will er sich machen“ von 1842 der Vorlage John Oxenfords „A day well spent“ lebt, so rekapituliert er zugleich eine Tradition, die von der Comedy of manners bis zu Molière zurückreicht; eine Tradition des Komischen, die als eine unangemessene Begegnung, als Gegenüberstellung von Vorstädter und Städter sich definiert. Einerseits stellt die Fallhöhe zwischen der städtischen, gesellschaftlich-repräsentativen und damit theatralischen, d. h. auf Verstellung und Anpassung basierenden Stadt, die immer auch die Perspektive ausrichtet, den naiven Provinzler mit seiner Unfähigkeit zum Durchschauen der Masken bloß, und lässt ihn scheitern. Andererseits gerät die städtische Kulisse zur Initiation des ländlichen Besuchers, an der Erfahrung von Urbanität vor allem als Selbsterkenntnis scheidet sich nicht zuletzt der neue Städter vom einfältigen Provinzler, ist das Personal differenziert in Handelnde und Behandelte, Herr und Knecht. Aus diesem Unterschied gewinnt sich das Komische stets neu. Jenseits ihrer Topografie erweist sich die Stadt in der traditionellen Komödie als Bewährungsraum, in dem nicht konkret Städtisches, sondern das Bewusstsein die Hauptrolle spielt.
Nestroys Posse „Einen Jux will er sich machen“ steht zum einen ganz in der Tradition der klassischen Komödie, zum anderen aber beweist sie exemplarisch Nestroys originellen Umgang mit der Stadt als eigentlichen und imaginären Komödienraum. Denn gewinnt die alte Komödie Position, ihre komische ‚Fallhöhe‘ aus der Stadt; ihre Perspektive, ihr Blick auf Differenzen, ist gewonnen aus dem heterogenen, sozial sichtbar unterschiedenen Stadtraum, so misst sich zugleich ihr moralischer Verhaltenskodex zunächst an höfische, dann an stadtbürgerliche Repräsentations- und Zivilisierungsnormen.
Die Besonderheit der Nestroyschen Posse zeigt sich dagegen im Verschwinden der Stadt, in der Auflösung eines konkreten Stadtraums und des entsprechenden Personals und somit in der Preisgabe jenes städtischen Blickpunkts, von dem aus der Provinzler verlacht wird. Die Verwirrung, die hieraus resultiert, ist so abgründig wie heillos. Die Stadt existiert zunächst als schwankende Projektion, als stereotypes kleinbürgerliches Wunschbildpanorama, zusammengesetzt aus überkommenen romantischen wie aristokratisch-libertären Vorstellungen. Sie ist aus den vorstädtischen, gewissermaßen literarischen Erwartungen konstruiert, ihr Anlass und Grund besteht in den engen Grenzen der kleinbürgerlichen Lebensweise; sie gerät zum Fluchtpunkt eines anderen möglichen Lebens, das aber von vornherein als Klischee desavouiert ist. Denn in der Stadt trifft der vorstädtische Kleinbürger nicht nur auf das entgegengesetzte starre Gegenbild der eigenen normierten Lebenswelt, nicht bloß immer wieder auf sich selbst maskiert als vorgebliche Großstädter (Eingeborene scheinen nicht zu existieren), sondern vor allem auf seine Imaginationen. Den Bildern der Großstadt entkommt das vorstädtische Personal nicht. Die Stadt bleibt stets Bühne, sie ist eng verschränkt mit der realen theatralen Situation und sichtbar situiert auf der Bühnenrampe – ist nur Theater. Nestroy beschränkt sich nicht auf eine Kritik der ihre Standesgrenzen überschreitenden, sich selbst überhebenden Kleinbürger, wie es noch die hergebrachte Komödie sich selbst vorsetzt. Er verlässt dieses alte komödiantische Verfahren der sozialen Auslese und hierarchischen Harmonie und steigert den konstitutiven Kontrast von Stadt und Vorstadt zu einer allgemeinen Parabel von der Unmöglichkeit, den konventionalisierten Lebensbildern zu entkommen. Die Stadt verwandelt sich in der Nestroyschen Posse in einen symbolischen Raum, wo jenseits konkreter Topografie (Nestroy belässt bewusst die Stadt im Anomymen, Perspektivlosen) das theatralische und ausweglose Spiel von Täuschungen, Bilder und Identitäten sich als einzig städtische Wirklichkeit erweist. Die abstrakte Stadt manifestiert ihre Unübersichtlichkeit, ihre aufgelösten Sozialbeziehungen etc im Theater- und vor allem im Sprachspiel der Protagonisten. Die moderne Stadterfahrung eilt hier gewissermaßen der biedermeierlichen Realität voraus. Die Unsichtbarkeit der konkreten historisch bestimmten Stadt zielt auf die imaginäre Sichtbarkeit der Moderne, auf die Bewusstseins-Konstruktionen, die Urbanität in traumhafter Theatralität verkennt (z.B. in Italo Calvinos „Unsichtbare Städte“).
Beatrix Müller-Kampel
Kasperl
Eine kleine Soziologie der Lustigen Figur im 19. Jahrhundert
Norbert Elias beschreibt den Prozess der Zivilisation als einen Prozess, der auf die Zähmung und Dämpfung von Trieben, die Disziplinierung wie Mäßigung von Affekten abzielt und in der der Fremdzwang, den Gesellschaft und Gemeinschaft auf das Subjekt ausüben, durch Selbstzwang zurückgedrängt wird. In die Pädagogik und politische Korrektheit des Kasperlspiels übersetzt, hieße dies, dass geschaute Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit nicht mehr Funktion des Lachens und schon gar nicht der Didaktik sein dürften. Unter dem Vorzeichen eines zumindest vagen bzw. fragmentarischen Realismus auf der Bühne (conditio sine qua non jeden Lachens, ja jeder „Intention“) unterstehen auch die Figuren auf der Bühne einem im doppelten Sinne „fiktiven“ Zivilisationsprozess. Ob und wie weit ein Zivilisationsprozess auch bei einem mitunter veränderungsrestistent anmutenden Typus wie dem Kasperl auszumachen ist und welcherart er vom historischen abweicht, wird anhand eines bislang unbekannten Textcorpus vorgeführt: einem nach den Prinzipien der repräsentativen Stichprobe ausgewählten Sample von Kasperl-Rollenbüchern aus der mehr als 1.000 Puppentheater-Handschriften umfassenden Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität zu Köln auf Schloss Wahn.
Othmar Nestroy
Zum Landschaftsbegriff und „Raumerlebnis“ aus geographischer Sicht, oder. Was ist eine Landschaft – was nicht, oder: Landschaft – was ist da wirklich?
Da es meist bei häufig und von jedermann verwendeten Begriffen an der erforderlichen definitorischen Schärfe mangelt, deshalb oft nur vage Vorstellungen und eine Vielzahl von Definitionen das Feld beherrschen, wird eingangs versucht, die Breites dieses Begriffes anhand einer raschen Bildfolge abzustecken.
Die (vielleicht) eingetretene Konfusion erfährt noch durch Zitate aus zwei Lexika eine Verstärkung, da die kaum überschaubare Fülle von Teilbegriffen gerade nicht zu einer Klärung beiträgt.
Der nächste logische Schritt liegt demnach in einer Bündelung der in Betracht kommenden Definitionen.
Hilfe findet man bei diesem Unterfangen – um nur einige Beispiele zu nennen – zunächst in der Malerei des 15. und 16. Jahrhunderts (Übergang vom Goldhintergrund zu einem gegenständlichen Hintergrund), ferner auf dem Gebiet der Kartographie (Formen der Geländedarstellung) ab Beginn des 16. Jahrhunderts sowie schließlich im Sprechtheater des 19. und der Musiktheaters des 20. Jahrhunderts.
Nach diesen Vorbetrachtungen wird in einem ersten Integrationsschritt eine definitorische Abgrenzung aus drei sehr unterschiedlichen Bereichen vorgenommen, zugleich aber auch die Frage von Natur- und Kulturlandschaft andiskutiert. Auffassungsunterschiede wie auch große Überschneidungen sind zu erwarten und werden auch nicht ausbleiben.
In einem zweiten und letzten Integrationsschritt wird schließlich eine möglichst knappe wie auch umfassende Definition des Landschaftsbegriffs vorgestellt – als Basis und Anregung für weitere Diskussionen wie auch als Bezugsebene zum Rahmenthema „Inszenierte Natur und ‚Raumerlebnis’“.
Cornelia Ortlieb
Im Zwischenraum des Textes
Nestroys „Zu ebener Erde und erster Stock“ und die Kunst des Kommentars
Johann Nestroys in zwei Räumen eines Wohnhauses spielende Lokalposse mit Gesang inszeniert nicht nur soziale Gegensätze und komische Liebesverwicklungen, sondern gleichermaßen virtuos und radikal den Bühnenraum selbst. Zu Recht wird daher seit jeher die Besonderheit der simultanen Darstellung im Raum gerühmt, die es ermöglicht, die verschiedenen offenen Handlungslinien aus der Perspektive des Zuschauers jeweils neu zu kombinieren.
Weniger berücksichtigt wurde allerdings bislang, dass diese inszenierte Simultaneität des Geschehens auf der Bühne bereits im zugrunde liegenden Text in spezifischer Weise angelegt ist. Denn die berühmte Regieanweisung, die erläutert, dass „die Handlung zugleich in der Wohnung des Herrn von Goldfuchs im ersten Stocke und in Schluckers Wohnung zu ebener Erde in einem und demselben Haus [spielt]“ ist um eine entscheidende „Anmerkung“ ergänzt: „Alle links Stehende wird zu ebener Erde gespielt, so wie alles rechts Stehende im ersten Stocke.“ Schon die erste Druckausgabe realisiert, den Handschriften folgend, dieses ‚links‘ und ‚rechts‘, von dem das ‚unten‘ und ‚oben‘ des Bühnenraums abgelesen werden wird, in einem Spaltendruck, der die unmögliche Simultaneität der Schrift durch ein geläufiges Abbildungsverfahren ersetzt: Es ist der Kommentar, der als buchstäblich ‚fortlaufender‘ seinen Platz in gelehrten und literarischen Texten ursprünglich im leeren Raum zwischen den Zeilen hatte. Die zweite Medienrevolution um 1800, die das Druckverfahren perfektionierte und die massenhafte Verbreitung gedruckten Schrifttums bewirkte, hat dem Kommentar einen neuen Ort am nun frei bleibenden Seitenrand des Drucktextes zugewiesen. Die kolumnenartig nebeneinander stehenden Sprechtexte und Regieanweisungen lassen somit durch die räumliche Nachordnung der rechten gegenüber der linken Seite, die bei der üblichen Lektüre von links nach rechts in westlichen Schriften entsteht, den zweiten Passus als Kommentar des ersten erscheinen; im Zickzackgang der Lektüre, den der Versuch, die Simultaneität der Handlung nachzuvollziehen, erfordert, kommentieren sich wiederum ‚Haupttext‘ und ‚Kommentar‘ wechselseitig.
Die Analyse dieser Arbeit am und im Zwischenraum der Texte kann also die vielfältigen Implikationen der Gegenüberstellung von ‚oben‘ und ‚unten‘ im Stück erhellen und zudem, über die Grenze des Textes hinaus, auch die Bezugnahme auf Raimunds Verschwender als eine weitere Variante solch souveräner Kommentartechnik ausweisen.
Matthias Johannes Pernerstorfer
„Hanns=Wurst, der lächerliche Instructor, und Bernardon, das narrische Studentel“ und die so genannte „Ariensammlung“
Ein Editionsprojekt des Don Juan Archivs
Ziel des Vortrages ist die Präsentation eines Editionsprojektes des Don Juan Archivs zur so genannten „Ariensammlung“. Anhand der Comoedie „Hanns=Wurst, der lächerliche Instructor, und Bernardon, das narrische Studentel“ (Nr. 66, Band II, S. 127-135) werden das Material, die Arbeit daran sowie zu erwartende Ergebnisse vorgestellt.
Einleitend werden die theaterhistorisch bedeutenden, doch von der Wissenschaft stiefmütterlich behandelten „Teutsche[n] Arien, Welche auf dem Kaÿserlich-privilegirt-Wiennerischen Theatro in unterschiedlich producirten Comoedien (…) gesungen worden“ kurz charakterisiert und der Quellenwert der zwei je vierbändigen Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek (Cod. 12706-12709) und der Anna Amalia Bibliothek in Weimar (HAAB Q 592 c [1-4]) diskutiert. Im Zuge dessen ist ein kritischer Blick auf M. Pirkers Edition der ersten beiden Bände aus den Jahren 1927 und 1929 zu werfen (der dritte und vierte Band sind bislang nicht ediert). [1]
Im Hauptteil wird die Comoedie „Hanns=Wurst, der lächerliche Instructor, und Bernardon, das narrische Studentel“ behandelt, da sie sich für eine exemplarische Präsentation des Editionsprojektes in mehrerlei Hinsicht eignet:
(a.) Das Stück wurde von Pirker, da es sich im zweiten Band der „Ariensammlung“ befindet, ediert und kommentiert. So kann auf diesen umfangreichen Kommentar zurückgegriffen und gleichzeitig gezeigt werden, dass selbst mit Blick auf Vorlagen sowie Dokumente der Rezeption Neufunde zu erwarten sind (etwa durch Berücksichtigung großer, für Pirker nicht zugänglicher Sammlungen). Zumindest ein Arienheftchen mit dem Titel „Arien, welche in der Comoedie, betitelt das Stadtgut zu Wienn, oder Hannswurst, der lächerliche Instructor, und Jackerl das närrische Studentel gesungen werden“ ist zu erwähnen.
(b.) Das Material zu diesem Stück ist vielfältig: Von einigen der Arien sind Vorlagen bekannt, der Arienbestand, wie er in der „Ariensammlung“ vorkommt, ist in dem genannten Arienheftchen abgedruckt, und mehrere Arien wurden laut dem Szenar „Der Spaziergang im Brader oder Casperle, das närrische Studentl, und Hannswurst, der einfältige Hofmeister“ (ÖNB Cod. 13.608) in einem neuen Kontext noch um 1770 gesungen.
(c.) Das Szenar, das seinerseits von großem Interesse ist und, wie nicht zuletzt durch einen Handschriftenvergleich gezeigt werden kann, mit großer Wahrscheinlichkeit von Karl Marinelli stammt, führt deutlich vor Augen, was es bedeutet, die „Ariensammlung“ wirklich umfassend kommentieren zu wollen.
1 Teutsche Arien, Welche auf dem Kayserlich=privilegirten Wienerischen Theatro in unterschiedlich producirten Comoedien, deren Titul hier jedesmahl beygerucket, gesungen worden. Cod.ms. 12706-12709 der Wiener Nationalbibliothek. Mit Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Max Pirker. Band 1-2. Wien, Prag, Leipzig: Ed. Strache, 1927-1929.
Bettina Rabelhofer
„Die Liebe ist ein Monstrum“
Die groteske Poetik in Franzobels Stück „Wir wollen den Messias jetzt oder Die beschleunigte Familie“
Franzobel, der sich in „hunt“, das 2005 mit dem Nestroy-Preis prämiert wurde, der Zeitgeschichte (das Stück spielt im Jahr 1934) angenommen hat, arbeitet sich in „Wir wollen den Messias jetzt oder Die beschleunigte Familie“ (Uraufführung 8. Oktober 2005 am Wiener Akademietheater) in grotesk-skurriler Weise an den zeitgenössischen Auswüchsen des Neoliberalismus und der Globalisierung ab. Sein ‚Messias‘ hockt fettleibig und in Nazistiefeln – am „Vorabend des Krieges zwischen den Realisten und den Abstrakten“ – mitten in Wien, eingepfercht zwischen bürgerlicher Familialität und globalisiertem Terror. Ganz und gar unerwartet wird er von der Erleuchtung heimgesucht.
Franzobel, darin versiert, die Verweislinien im kulturellen Symbolnetz der Gesellschaft aufzubrechen und durcheinanderzuwirbeln, irritiert seine Leserschaft durch Sprach- und Handlungsanarchie, die den Rezeptionsprozess mitunter einen Hindernisparcours aus Phantastischem, Skurrilem, Komischem, Tragischem, Unheimlichem, Satirischem, Absurdem und Banalem durchlaufen lässt. Die Irritation besteht vor allem darin, dass die emotionale Orientierung des Lesers im Chaos des Franzobelschen Kosmos zwischen befreiender Komik und deprimierendem Sinnentzug irreläuft. Selbst Sexualität, vormals Ort und Hort des Authentischen, kann letztendlich nicht mehr als „die große Metapher der Lust und des Glücks“ [1] herhalten.
Mich interessiert in diesem Zusammenhang die Desavouierung des Lachens und seiner befreienden Wirkung durch Franzobels literarisches Maskentreiben. Wenn das apollinische Prinzip Stabilisation gewährleistet, so führen die anamorphotischen Verfahrensweisen der Verkehrung, Verzerrung und Vermischung nach Peter Fuß [2] zum grotesken Produkt dekompensierter symbolisch-kultureller Ordnungsstrukturen. Ich möchte der Frage nachgehen, ob das poetische Kalkül des Franzobelschen Sprachkosmos neben all der Destruktion vielleicht auch im Monströsen Kreativität freisetzt oder ob Lachen sich einzig in der Funktion einer Abwehrreaktion erschöpft.
1 Volkmar Sigusch: Die neosexuelle Revolution. Über gesellschaftliche Transformationen des Sexuellen in den letzten Jahrzehnten. In: Psyche 52(1998), H. 12, S. 1192–1234; hier S. 1203.
2 Vgl. Peter Fuß: Das Groteske: ein Medium des kulturellen Wandels. Köln [u.a.]: Böhlau 2001 (= Kölner Germanistische Studien. Neue Folge. 1.) S. 154.
Sigurd Paul Scheichl
Nestroy als Briefschreiber
Nestroys Briefe sind ‚anders’. Man würde sich gerade bei ihm erwarten, dass sein Sprachwitz und seine Formulierungskunst sich in solchen zu keiner Rücksichtnahme auf Zensur und dergleichen gezwungenen privaten Dokumenten selbst dort finden, wo es um Geschäftliches geht (wie in den meisten erhaltenen Briefen). In Wahrheit sind aber die Briefe so konventionell wie manche Verseinlagen in Stücken. Diesen Sachverhalt allein auf die Vernichtung des überwiegenden Teils der persönlichen Korrespondenz zurück zu führen, dürfte zu kurz greifen; diese Auffälligkeit muss auch mit Nestroys Auffassung von Form und Funktion des Briefs zu tun haben. Vielleicht war es für ihn wichtig, Gebrauchstext und Bühnentext streng auseinander zu halten?
Der stilistischen Spannung zwischen Briefen und Bühnenwerk möchte ich nachgehen, wobei ein Vergleich mit den ja ebenfalls zu einem guten Teil Geschäftliches enthaltenden, aber sehr viel stärker literarisch stilisierten Briefen von Direktor Carl und (vor allem) seiner Gattin an Charlotte Birch-Pfeiffer ins Auge gefasst wird.
Besondere Aufmerksamkeit wird selbstverständlich den wenigen wirklich persönlichen Briefen zu widmen sein – schreibt Nestroy sie ‚anders’? Bei erster Durchsicht scheint er in allen erhaltenen Briefen einen sehr ähnlichen Funktionalstil zu verwenden.
Der Schwerpunkt des Vortrags wird auf Stil- und Gattungsfragen liegen; auf die Briefe als werkgeschichtliche und biografische Dokumente – dass sie als solche von größter Bedeutung sind, steht selbstverständlich außer Frage – möchte ich in diesem Referat nicht eingehen, oder doch höchstens unter dem Aspekt, ob eine eingehende Berücksichtigung der Spezifik der Textsorte bei dem Autor zu Vorsicht bei der Deutung der Briefe als Dokumente zwingen könnte.
Matthias Schleifer
„Nestroy an der Sahnefront“
Zu einigen Aspekten von Friedrich Torbergs Nestroyrezeption
Von der Parteien Gunst und Hass verwirrt, schwankt Friedrich Torbergs Bild in der (Literatur-) Geschichte; der streitbare Publizist, der stets Freund und Feind beim Namen nannte, darf nicht erwarten, dass anlässlich seines 100. Geburtstags am 16.9.2008 seiner nur in Liebe und Bewunderung gedacht wird. Zu den Werten, für die er, in der Nachfolge von Karl Kraus, rückhaltlos eingetreten ist, gehört das „Wiener Volkstheater“. Insofern scheint es angebracht, dieses Jahr in Schwechat u.a. vier Fragen aufzuwerfen: die nach den Spuren zumal Nestroys in Torbergs erzählerischem Werk; die nach dem (Raimund- und) Nestroybild, das sich aus Torbergs Theaterkritiken gewinnen lässt; die nach Torbergs Vorstellung von „österreichischer Literatur“ und dem Platz, den Nestroy und Raimund darin einnehmen; und schließlich die nach dem Verhältnis von Torbergs „Witz“ – „Witwe bleibt Witwe. Außer in Indien.“ – zu dem Nestroys.
(Die grundsätzliche Sympathie des Referenten für Torberg wird sich nicht durchweg verhehlen lassen.)
Wendelin Schmidt-Dengler
Die Tiefe ist vorn
Aspekte der Raumgestaltung bei Nestroy
Die Bühnenbildbeschreibungen Nestroys sind von auffallender, mitunter auch durch Attribute betonten „Vordergründigkeit“. Von da aus ergeben sich aufschlussreiche Perspektiven für das Verständnis nicht nur der Dramaturgie, sondern auch für die „Hintergründigkeit“ der Texte, sowie wie für die „Vordergründigkeit“ mancher Verfahren anderer Autoren, die das Geschehen in den Hintergrund der Bühne verlagern.
Franz Schüppen
Die Inszenierung des Natürlichen bei Ferdinand Raimund
Europäische Spätromantik in „Der Alpenkönig und der Menschenfeind“
Geistesgeschichtliche Einordnungsversuche sind in der reichen Raimund- und speziell „Menschenfeindliteratur“ selten. Das Volkstheater schien für sie nicht recht geeignet. Thema und Variation wurden aber eigentlich immer als diskussionswürdige Literatur verstanden wie z.B. von dem Wissenschaftler Ernst Beutler oder dem Autor Karl Kraus und auch von Goethe oder Grillparzer freundlich kommentiert.
Raimunds Stück ordnet sich in den Rahmen einer Naturauffassung, die man in einem umfassenden Sinn „romantisch“ nennen kann, auf Rousseaus Thesen zurückführen und mit Goethes Straßburger Erweckungserlebnis beginnen lassen. Adäquat versetzt Raimund sein Stück in eine Naturkulisse vor den Alpen und zeigt eine Jagdgesellschaft wie Carl Maria von Webers Freischütz. (1786-1826; 1821) Hauptfigur ist ein Vertreter der Geister- und Naturwelt, der „Alpenkönig“, der sich im ersten Akt gegen einen Gesellschaftsflüchtling durchsetzt, der sich in traditioneller Theatermanier der Zeit „Menschenfeind“ nennt. Die Natur, in die er als Rappelkopf flieht, wird ihm als lebensgefährlich vorgeführt. Er kapituliert vor Sturm und Überschwemmung und wird in dem mit einer Huldigungsszene auf dem Schloss des Alpenkönigs einsetzenden zweiten Akt durch richtige Einsicht gebessert, nachdem er kräftig verspottet worden ist und sich zunächst äußerlich unterwirft. Die Besserung (ab Szene 6) läuft allerdings eigenartig ab: Er muss die Rolle seines Schwagers, der erst bei der Anreise ist, übernehmen, während der Alpenkönig Astragalus seine Rolle übernimmt. Vorgeführt wird so, wie unmöglich er war, was er langsam einsehen lernt, während die ihm in seiner fremden Rolle nun über ihn selbst berichtenden Familien- und Hausgenossen alle Illusionen über sich selbst nehmen und so zur Einsicht verhelfen. Humanität und speziell Mitmenschlichkeit, wie sie in der Weimarer Epoche in Deutschland wichtig geworden waren, werden auf diese Weise bedeutsam und treten als ein zweites Element neben das einfache Paradigma vom Natürlichen als konkrete Grundlage des Daseins. Kurz bevor der Schwager, der von den Helfern des Alpenkönigs aufgehalten wurde, das gerettete Vermögen überbringt, meldet ein fiktiver Brief dessen Verlust. Selbstmord liegt nahe, doch zeigt Rappelkopf Vorsicht, wird samt seinem Vermögen vom Alpenkönig gerettet und mit dem Schwager versöhnt und kann im Tempel der Erkenntnis, einer Art Befreiungshalle der besonderen Art, von den positiven Möglichkeiten der Erkenntnis und Aspekten der Kunst singen und sagen. Die menschlich-gesellschaftlichen Elemente eines natürlich-vernünftigen Verhaltens zeigen sich als besonders wichtig und das Wiener Volkstheater Raimunds in der Nachfolge der Weimarer Klassik und als Ausgangspunkt einer von ihr in wichtigen Punkten inspirierten europäischen Spätromantik, die Natur und Kunst verbindet, Menschenwelt als wichtigen,. ja wichtigsten Teil des Natürlichen versteht.
Solcher Haltung entsprechen die Gewichtungen bei Raimund. Goethe hatte das Thema ausdrücklich im Gedicht „Harzreise im Winter“ und einer Reihe eigener Kommentare und Erinnerungen dazu behandelt, die dem Werther-Problem galten, Schiller hat Szenen von einem allerdings nur im Titel „gebesserten Menschenfeind“ aus seiner Frühzeit publiziert. Das Thema war wichtiger Teil der Auseinandersetzung mit den Feinden der in ihrer gesellschaftlichen Ordnung unzulänglichen Menschen seit Rousseau und Autoren des Sturm und Drang, die sich ausdrücklich gegen ältere Anpassungsmodelle wandten. Ein persönlich-biographisches Problem kann kaum hinreichender Grund für Raimunds interessante Thematisierung des Menschenfeind-Motivs sein, mit dem in eine laufende Diskussion eingegriffen wurde und eine „biedermeierliche“, spätromantische Lösung vorgetragen, die sich aber nicht in einer auffälligen privat-familiären Gestaltung erschöpft, sondern – wie etwa Stifters Erzählung vom „Hagestolz“ (1845) mit ähnlicher familiärer Umwelt – belehrend wirken will und gebesserte Adressaten solcher Belehrung vorführt.
Mathias Spohr
„Umsonst“
Nestroy und die Vanitas-Thematik in der europäischen Kulturgeschichte
Ein klarer Paradigmenwechsel in der europäischen Kulturgeschichte ereignet sich in der Zeit zwischen etwa 1750 und 1800. Als Leitthema dieses Wechsels schlage ich den Begriff Vanitas vor.
Vanitas meint die Vergänglichkeit des Irdischen, aber auch die Verwerflichkeit des Mutwilligen. Eine Auflehnung gegen die alteuropäische Vanitas gipfelt in Georg Friedrich Hegels Definition von Kunst als „sinnlichem Scheinen der Idee“. Damit versuchte er, das Scheinen vom Vorwurf des bloßen Scheins zu befreien. Von diesem Moment an gibt es nicht mehr hohe und niedere, sondern gute und schlechte Kunst.
Vanitasmotive werden als etwas Selbstverständliches in Komödie und Posse kaum beachtet. Der betrogene Betrüger, die gestrafte Hochmut und andere Doppelungen nach dem Prinzip „Spiel im Spiel“ oder „Täuschung in der Täuschung“, Anspielungen auf Eitelkeit, verwerfliche Anonymität oder Vergänglichkeit gelten als zeitlos, ohne den Bruch zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert zu beachten. Konstanten ermöglichen jedoch den Blick auf feine Unterschiede: Im Gegensatz zur barocken Vanitasmotivik im Altwiener Besserungsstück, in dem Geld als etwas grundsätzlich Nichtiges erscheint oder die Auflehnung gegen den eigenen sozialen Stand als vergebliche Mühe abgetan wird, kann das „neureiche“ Publikum der Wiener Vorstadttheater nach 1850 mit solchen Botschaften nur noch durch den Schleier des Historischen konfrontiert werden.
Der Titel Umsonst bietet sich an, die Vanitasmotive in diesem späteren Nestroy-Stück zu untersuchen, um theatergeschichtliche Schlüsse daraus zu ziehen. Vor allem der erste Akt erweist sich als ergiebig.
Ulrike Tanzer
„Den wenigen Dramen […] fehlt nichts als – die Hand des Mannes.“ (Alexander von Weilen)
Die Dramatikerin Marie von Ebner-Eschenbach
Zum 70. Geburtstag Marie von Ebner-Eschenbachs im September 1900 ehrte sie das Wiener Burgtheater mit einer Feier und führte, eingeleitet von einem Festprolog Ferdinand von Saars, drei ihrer Stücke auf: das dramatische Gedicht Doktor Ritter (1869) und die beiden viel später entstandenen Dialognovellen Ohne Liebe (1888) und Am Ende (1897).
Diese Hommage mag für die gefeierte Schriftstellerin eine späte Genugtuung gewesen sein, denn wie viele ihrer Kollegen hatte auch Ebner-Eschenbach jahrelang vergeblich versucht, als Dramatikerin zu reüssieren. Von den hochfliegenden Plänen der jungen Komtesse, „der Shakespeare des 19. Jahrhunderts“ werden zu wollen, war wenig übrig geblieben. Kaum ein Stück kam über einen Achtungserfolg hinaus. Ihr fast dreißigjähriges vergebliches Bemühen auf dem Gebiet des Dramas wurde später meist nur auf eine Tatsache zurückgeführt – auf ihr Frausein. Die Rezeption hat die Dramatikerin Ebner-Eschenbach lange Zeit fast vollständig ausgeblendet. Erst in den letzten Jahren hat sich die Forschung in angemessener Weise mit dem dramatischen Oeuvre, das historische Tragödien, Künstlerdramen, Gesellschaftsstücke und Komödien umfasst, auseinandergesetzt. Von den 26 Dramen wurde die Hälfte zu Lebzeiten der Autorin gespielt, acht zu ihren Lebzeiten gedruckt.
Der Vortrag rückt die Dramatikerin Marie von Ebner-Eschenbach in den Mittelpunkt der Betrachtung und untersucht ihre literarische Sozialisation, ihre Produktions- und Rezeptionsbedingungen in der Theaterstadt Wien. An ausgewählten Texten soll gezeigt werden, dass Ebner-Eschenbach auch nach ihrem Durchbruch als Erzählerin nie aufgehört hat, mit dramatischen Formen zu experimentieren und Gattungsgrenzen auszuloten.
Fred Walla
„… keine persönlichen Bekenntnisse“
Bruno Hannemann bedauert die Tatsache, dass von Nestroy „keine persönlichen Bekenntnise oder ernsthafte Selbstbiographien vorliegen“ (Johann Nestroy. Nihilistisches Welttheater und verflixter Kerl, S. 2).
Der Vortrag untersucht einige Briefe Nestroys (und Raimunds), inwieweit ihre Aussagen als bare Münze genommen werden können.
Karin S. Wozonig
Betty Paoli und die schönen Frauen
Als die Journalistin und Dichterin Betty Paoli (i.e. Barbara Elisabeth Glück, geboren in Wien 1814, gestorben in Baden 1894) ihre besten Feuilletonbeiträge für eine posthume Publikation zusammenstellte, schloss sie unter dem Titel „Zwei Tragödinnen“ ihre Texte Frau Sophie Schröder. K.k. Hofburgtheater, 16. Mai 1854 und Julie Rettich. Ein Lebens- und Charakterbild ein. AlsTheaterreferentin für die Tageszeitung Lloyd hatte sie in den 1850er Jahren regen Anteil am Theatergeschehen der Zeit genommen. So nützte sie z.B. eine Reise nach Paris, um in mehreren Vorstellungen den Bühnenstar Rachel Felix zu sehen, und ihre Feuilletons über sie kamen gerade recht für die Gastspiele dieser Schauspielerin in Wien. Durch Übersetzungstätigkeit in der Zeit der Laube-Direktion und mehr noch durch Freundschaften mit Schauspielern und Schauspielerinnen, blieb Paoli dem Burgtheater bis zu ihrem Lebensende verbunden.
Paolis Feuilletons bieten eine für die Zeit ungewöhnliche öffentliche Perspektive auf den Zusammenhang von Bühnen- und Geschlechterrollen, nämlich eine weibliche. Durch ihre Feuilletons gewinnen wir einen Einblick in die zunehmende Verbürgerlichung und bürgerliche Normalisierung der Schauspielerinnen-Existenz im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts und in die daraus resultierende Verunsicherung in den Reihen der bürgerlichen Theaterbesucher(innen). Paolis Texte erhellen auch die außerbürgerlichen Projektionsflächen, auf die sich die gezähmte Phantasie der Zuschauer richtet – Erotisierung der Person abseits der Bühne eingeschlossen.
Das Interesse Betty Paolis und ihr subjektives Urteil vor dem Hintergrund der persönlichen Beziehungen treffen auf die professionelle Rezipientin und Journalistin und bringen Feuilletons hervor, die mehr als Theaterkritiken sind. In diesen Texten ist die Konstruktion der Schauspielerin als künstlerisch überhöhte, bürgerlich akzeptierte Gestalt männlicher Phantasien aus der Perspektive einer Frau enthalten. Diese Konstruktion ist nicht nur mit Erkenntnisgewinn für die kulturhistorische Forschung zu betrachten, neben dem dokumentarischen Wert sind die Texte Paolis durch Aufbau und Rhetorik auch ein vergnüglich zu lesendes Zeugnis der Wichtigkeit der Theaters für die bürgerliche Gesellschaft in der 2. Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts.
W. Edgar Yates
„Die talentvolle Gattin des Directors“:
Margaretha Carl zwischen Hugo und Vaudeville
Die Forschung über Margaretha Carl ist noch kaum über das Anfangsstadium hinausgekommen. Das Referat wird drei Aspekte der bisherigen Untersuchungen aufgreifen:
1. Zunächst wird auf ihre Rolle als unterstützende Kraft im Theater an der Wien anhand von Passagen aus zwei bisher unveröffentlichen Briefen von ihr und ihrem Mann, dem Direktor Carl Carl, eingegangen: einem Brief Carl Carls an Margaretha vom 19. November 1842, dem Tag nach der Urauführung von Nestroys Posse Die Papiere des Teufels (zu dieser Zeit trat Carl gern mit der Sängerin und Schauspielerin Ida Brüning-Wohlbrück in Bearbeitungen französischer Vaudevilles auf), und einem Brief Margaretha Carls an Bäuerle aus dem Revolutionsjahr 1848.
2. Es folgt ein Überblick über die Überlieferung der in der Bibliothek des Österreichischen Theatermuseums erhaltenen dramatischen Werke Margaretha Carls. Keines ihrer Stücke, die zumeist auf französischen Vorlagen beruhen, erschien im Druck, ihre Quellen reichen aber von den Versdramen Victor Hugos zur Vaudevillekomödie der Pariser Boulevards. Obwohl sie als Hofschauspielerin in München eher in ernsten Rollen aufgetreten war, scheute sie sich nicht, auch komische Szenen für Carls Theater zu schreiben; in drei ihrer Stücke ist Nestroy selbst in den frühen dreißiger Jahren aufgetreten, nur eines davonist aber erhalten.
3. Im Anschluß an Carola Hilmes’ Analyse des auf einem französischen Drama beruhenden „romantischen Schauspiels“ Das Abenteuer in Venedig oder Der Deutsche in Moskau (Referat Schwechat 2007, Druckfassung in Nestroyana, Jg. 28, H. 1–2) werden schließlich die zwei Fassungen ihrer Bearbeitung von Victor Hugos Versdrama Ruy Blas mit dem Original verglichen. Eines der erhaltenen Theatermanuskripte ist das Soufflierbuch zur Aufführung im Theater an der Wien (9. November 1839); das andere weist eine 1841 in Hermannstadt ausgestellte Zensurbewilligung auf. Aus dem Vergleich der Sprache der beiden Fassungen mit dem Original und aus Margaretha Carls Umstrukturierung des Schlusses lassen sich klare Schlüsse über ihre Intentionen als Stückeschreiberin für das Vorstadttheater ziehen.