Nestroy-Spiele 2021: Pressestimmen: Online Merker, 26. Juni 2021
Charivari

Charivari

Wenn jemand wie Johann Nestroy über 70 Theaterstücke hinterlassen hat, dann finden sich auch nach einem halben Jahrhundert noch „Novitäten“: Tatsächlich werden die von Peter Gruber unerschütterlich verantworteten Nestroy Spiele Schwechat nächstes Jahr 50 (!!!), was möglicherweise dann auch ihr Ende bedeutet. In all den Jahren hat man neben dem Bekannten immer wieder sehr viel Unbekanntes hervorgezaubert. Vor dem Abschied gibt es nun eine komplette Rarität, denn mit einiger Sicherheit ist „Charivari“ seit der Uraufführung am 1. April 1850 nie wieder gespielt worden.

Damit steht dieses Stück unter Nestroys Misserfolgen (und er hatte viele) an der Spitze – es kam über die Premiere nicht hinaus. Die Kritiken waren vernichtend, als wollte man den Autor zu Tode knüppeln. Das bedeutet allerdings nicht, dass dieses „Karrikaturen-Charivari mit Heurathszweck“, wie es im Original heißt, für uns nicht ganz amüsant sein kann. Sicher, die karikierten Figuren aus den satirischen Zeitschriften der damaligen Zeit, die Nestroy hier seinerseits satirisch auf die Bühne brachte, können wir nicht mehr in ihrem einstigen Zusammenhang erkennen. Aber Peter Gruber erweist einmal mehr, wie viel in Nestroys Stücken thematisch und in den Figuren zu finden ist.

In diesem Nach-Revolutionsstück gibt es griffige Gestalten und Situationen, vor allem den versatilen Helden Finkl, von Nestroy mit keinem Beruf versehen, sondern als „Pfiffikus“ charakterisiert. Der Proletarier, dem die Revolution nichts gebracht hat, der aber auf hohem Niveau zu räsonieren versteht. Beruflich bekommt er mit innovativen wirtschaftlichen „Ideen“ keinen Boden unter den Füßen, seine Frau muss sich als Köchin verdingen, darf aber nicht zugeben, verheiratet zu sein, denn natürlich muss sie ein Objekt der Begierde für die Herren des Haushalts darstellen – und das sind die Kapitalisten, die sich (einst wie heute) nicht verändert haben, immer noch glauben, alles stünde ihnen zu und alles sei mit Geld zu kaufen. Logisch, dass Nestroy Lust hat, ihnen den „Prozeß“ zu machen (er tut’s im letzten Akt), eine Lust, die Regisseur Peter Gruber mit Nestroy’schem Groll im Bauch offensichtlich teilt und mit aller Schärfe zugreift.

Neben den Armen, die keine Chance haben, den Reichen, denen doch nichts passiert, neben der absoluten Selbstverständlichkeit der sexuellen Belästigung (eigentlich Ausbeutung), geht es natürlich wie immer und ewig ums Geld. Wenn der Kapitalist ein reiches Mündel hat, wird er gegen den Willen beider versuchen, seinen Sohn mit ihr zu verheiraten, um die Verfügung über ihr Vermögen zu behalten – das sind Zwangsehen, die es auch in Europa immer gab. Das Motiv der Flucht, das bei Nestroy hier humoristisch eine Rolle spielt, muss man in Bezug auf heute nicht überbewerten, der Rest der Motive gibt genügend her.

Und doch ist das Stück die übliche turbulente Verwechslungs-Posse mit Gesang, nur toller als meist, weil der Held Finkl gleich in sechs Verkleidungen auftritt, davon zweimal in Frauenkleidern. Das erfordert einen souveränen Komödianten, und die Aufführung in Schwechat hat diesen in Gestalt von Oliver Baier gefunden, der nach eigener Aussage zwischen Moderation und Kabarett immer zu wenig zum Theaterspielen gekommen ist. Das kann er hier nun reichlich nachholen – als der mit der Welt, den Menschen und den Zuständen hadernde Zeitgenosse, der außerdem noch Eifersuchtsanfälle bezüglich seiner herzigen (und treuen) Köchin-Gattin zu bewältigen hat. Die drolligsten Verkleidungen sind natürlich jene, wenn er als Linzer Köchin auftaucht und wenn er eine verfolgte Schöne spielt, bei Nestroy „Romanheldin“ genannt und hier eine zusätzliche Parodie auf die wohl schon halb vergessene Dagmar Koller. Als angeblich aufgeregter Vater (seinen originalen Glatzkopf zeigend, der sonst unter der Proletarier-Mütze des Finkl steckt), als Waldbauer, der hier zum wahren Wurzelsepp übersteigert ist, und als „Actuarius“, der Alptraum eines selbstgerechten Beamten, liefert er präzise verblödelte Studien. Es ist ein Vergnügen, einem körperlich und geistig so gelenkigen Schauspieler zuzusehen.

Nur bei einer Figur hat sich Peter Gruber verfahren. Gewiß, wenn Finkl als „Wühlhuber“ Radau macht, hat man es mit dem Prototyp des damaligen Bürgerschrecks zu tun, der rücksichtslos an Revolution denkt. Und ein ähnlicher Schreck ist für ein braves Theaterpublikum von heute sicher der islamische Terrorist, den Gruber auf die Bühne bringt. Trotzdem kann man die Parallele einfach nicht ziehen, weil eine solche Figur zu ernst und bedrohlich ist, um lustig zu sein – da wird das Stück für einige Zeit regelrecht gesprengt, bevor es wieder in die komödiantische Schiene einbiegt. Baier meistert auch das, er ist großartig in den Verwandlungen, den Differenzierungen, in der sprachlichen Ausleuchtung der Figuren.

Auch der Rest der Besetzung ist nicht nur glänzend, sie alle agieren, als stünden sie unter Strom, und das ist nötig, um das Stück weiter zu treiben. Brillant ist Rainer Doppler als der Kapitalist Muffinger in seinem unerschütterlichen Selbstbewusstsein, komisch zappelt Marc Illich seinen Sohn Isidor, der auch zu wissen meint, dass ein Reicher Anspruch auf alles hat. Eine prachtvolle Studie liefert Robert Herret als Hausknecht / Faktotum, der sich genau ausrechnet, wie er sich zu verhalten hat, um bestmöglich über die Runden zu kommen.

Der Rest sind die armen Leut’, die bei Nestroy ganz selten bemitleidenswert sind, weil er ihnen meist die Kraft gibt, sich selbst zu helfen. Das gilt für die Frauen – Michelle Haydn als geplagte Köchin Kathi und Ines Cihal als keinesfalls dumme reiche Erbin, die in ihrer Abhängigkeit von gierigen Männern auch arm ist. Lukas Aschenreiter ist ein Liebhaber ohne Geld, und die haben es immer schwer. Unter dem flankierenden „Personal“ ragt Erwin Leder als Wirt hervor. Auch die Nebenrollen fügen sich in ein prächtiges Ensemble.

Der Musikanteil (Otmar Binder) ist gering gehalten, die Ausstattung (gestrige Räume, heutige Kostüme: Andrea Költringer) gibt dem Abend Atmosphäre, und Gruber und Baier haben die aktuellen Zusatzstrophen verfasst – Mangel an Themen gibt es in der österreichischen Innenpolitik ja wahrlich nicht. Genau so hätte Nestroy nach allen Seiten ausgeteilt, aber der hatte ja die Zensur im Nacken…

Welch traurige Idee, dass dies das vorletzte Nestroy-Jahr in Schwechat sein soll. Aber jede vorzeitige Melancholie wird durch den absolut nicht oberflächlichen Spaß vertrieben, den man hier vorgesetzt bekommt. (Renate Wagner)