Von Jürgen Hein
1. Stationen der Lebens- und Rollengeschichte
Trotz älterer und neuerer monographischer Arbeiten, unter denen an erster Stelle wiederum Rommel zu nennen ist, muß die Biographie Nestroys als Privatmann, Familienvater, Opernsänger, Schauspieler, Theaterdichter und Theaterdirektor noch geschrieben werden, ist das schillernde Rollenspiel im Leben wie auf der Bühne vor dem Hintergrund der Tradition des Wiener Volkstheaters sowie der Real-, Sozial- und Mentalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts sichtbar zu machen. Wieviel Biographie in den Bühnenfiguren steckt, wie sich Alltagshandeln in theatrales und auch theatralisches verwandelt, welche Bezüge Sprechen und Handeln auf der Bühne zur persönlichen Biographie wie zur sozialen Wirklichkeit hat, darüber wissen wir noch wenig. Die äußere Biographie, von Irrtümern und Anekdotischem befreit, ist quellen-, daten- und faktenmäßig erforscht, vermittelt aber nur ein oberflächliches Bild vom Menschen und Künstler Nestroy.
Johann Nepomuk Eduard Ambrosius Nestroy wurde am 7. Dezember 1801 in Wien (Bräunerstr. 3) als zweites von acht Kindern des aus Komorau stammenden Hof- und Gerichtsadvokaten Dr. jur. Johannes Nestroy und seiner Frau Maria Magdalena, geb. Konstantin, geboren. 1808 bis 1810 besuchte er die angesehene Volksschule von St. Anna, 1810 bis 1813 die ersten drei Grammatikklassen des Akademischen Gymnasiums und von 1813 bis 1816 im Schottenstift die zwei Humanitätsklassen (Latein, Griechisch, Religion, Geschichte, Mathematik). Das von Benediktinern geleitete Schottengymnasium hatte einen guten Ruf. 1814 stirbt seine Mutter.
Der junge Nestroy soll wie sein Vater Jurist werden. Dazu sind die drei dem eigentlichen Studium an der Universität vorgeschalteten Philosophie-Klassen zu absolvieren, die eine propädeutische Funktion haben. Bis 1820 wird Nestroy u. a. in Latein, Philosophie, Naturwissenschaften, Religion, Weltgeschichte unterrichtet und wächst besonders auch in die Tradition der Rhetorik hinein (zum Bildungshintergrund vgl. R. Bauer 1966, Berghaus 1982, Neuber). Schon während der mit wechselndem Erfolg absolvierten Schulzeit (vgl. SW Bd. 15, S. 520f.) und der Vorbereitung auf das Studium vom blühenden Hauskonzert- und Haustheaterwesen in den gut situierten Familien angeregt, scheinen Nestroys künstlerische Talente so stark geweckt zu werden, daß er das ihm vorgegebene Berufsziel vernachlässigt und die Gesangsausbildung bevorzugt. Am 8. Dezember 1818 gibt er sein Debüt im Redoutensaal der Wiener Hofburg mit der Baßpartie in G. Fr. Händels Oratorium Timotheus. 1820 wird er an der juristischen Fakultät der Wiener Universität immatrikuliert, doch zieht es ihn immer stärker zum Gesang und zum Theater. 1822 bricht er das Studium ohne Abschluß ab und erhält am 24. August desselben Jahres die Gelegenheit, am k. k. Hoftheater nächst dem Kärntnertor den Sarastro in Mozarts/Schikaneders Die Zauberflöte zu singen. Die Kritik ist überaus wohlwollend, lobt das vorteilhafte Äußere des Sängers, die angenehme Stimme und die Disposition zu Spiel und Darstellung. Die berühmte Hallen-Arie muß er wiederholen, eine zweite Aufführung findet am 31. August statt; Nestroy debütiert in weiteren Rollen seines Opernfaches und erhält am 8. Oktober 1822 einen Vertrag an der Hofoper für zwei Jahre (600 Gulden Gage). Vgl. das Rollen-Verzeichnis in SW Bd. 15, S. 431f. sowie Deutsch und Orel.
In dem Jahr, in dem er seine Juristen-Karriere dem Durchbruch als Opernsänger opfert, lernt Nestroy bei Haustheaterveranstaltungen des Notariatssekretärs Franz Wilhelm Zwettlinger Maria Wilhelmine von Nespiesny (* 12. April 1804) kenne, die er am 7. September 1823 heiratet (über die Herkunft informiert Hampel). Die (Rollen-)Tagebuch-Eintragungen dieser Zeit, die auch Aufführungen auf dem Zwettlingerschen Haustheater verzeichnen, dokumentieren das Nebeneinander von komischen Sprechrollen und den bedeutendsten Baßpartien der zeitgenössischen Opernwelt. Die angesichts der Konkurrenz in Wien weniger guten Aussichten auf Karriere einerseits und der Wunsch, Wilhelmine Niespiesny zu ehelichen, andererseits bestimmen ihn, um vorzeitige Entlassung aus dem Vertrag mit dem Kärntnertortheater zu bitten und ein besser dotiertes Engagement am Deutschen Theater in Amsterdam (im ersten Jahr mit 1600 Gulden) anzunehmen. Vom 24. August 1822 bis zum Tage des letzten Auftritts in Wien am 29. August 1823 hat Nestroy über 50 Opern- und Schauspielauftritte gehabt.
Zwei Tage nach der Hochzeit (7. September 1823) verläßt das Ehepaar Wien, am 21. September ist man in Amsterdam, am 18. Oktober gibt Nestroy sein Debüt als Kaspar in C. M. v. Webers Der Freischütz. Sein (Rollen-)Tagebuch kündet von der Vielzahl der Auftritte in den verschiedensten Rollen, zu denen auch das komische Fach gehört. Auch Privates notiert er darin, z. B. daß ihm am 21. April 1824 sein Sohn Gustav Johann Wilhelm (✝ 29. April 1869) geboren wurde. Am 9. Juni verlängert er das Engagement bei besseren Bedingungen (2500 Gulden) für ein weiteres Jahr. Eine Amsterdamer Stimme kritisiert Nestroys hanswurstmäßig(es) Auftreten (Hein 1988, S. 65).
Das Tagebuch dokumentiert neben dem erweiterten Rollenrepertoire Theaterskandale und ihre Folgen, deren Ursachen und Gründe immer noch im Dunkeln liegen. Spekulationen darüber, daß Nestroy selbst auch Anlaß der Unruhen am Deutschen Theater gewesen sein könnte, entbehren bisher quellenmäßiger Grundlage (vgl. Hein 1988). Nestroy ist im ersten Amsterdamer Jahr 80mal und im zweiten trotz längerer Krankheit (Juni/Juli 1825) 108mal aufgetreten; dabei hat er nach eigenen Angaben 204 Rollen in 42 verschiedenen Partien und dazu 9 Sprechrollen gegeben. Jedenfalls muß er aus Amsterdam einen guten Ruf mitgebracht haben, der 1826 anläßlich des Grazer Engagements hervorgehoben wird. Am 13. August 1825 steht er in Amsterdam zum letzten Mal auf der Bühne, Anfang September tritt er über Hamburg, Leipzig und Prag die Rückreise an. Frau und Sohn waren schon früher nach Wien gereist.
Die erste Station ist Brünn. Die Provinzbühnen (u. a. Graz, Brünn, Preßburg) galten als Sprungbrett für eine Karriere in Wien. Am 23. Oktober 1825 in Brünn angekommen, unterzeichnet Nestroy am 26. Oktober den Vorvertrag am Nationaltheater und tritt bereits am 31. mit großem Erfolg auf, so daß er mit einer Gage von 2800 Gulden für die Zeit bis Ostern 1827 fest angestellt wird. Sein Repertoire u. a. an noch heute berühmten Opernpartien umfaßt den Leporello (Don Giovanni), Arminius (Titus), Papageno (Zauberflöte), Figaro (Barbier von Sevilla), daneben Sprechrollen, z. B. in Schillers Dramen (Geßler in Wilhelm Tell) oder Ifflands und Kotzebues Stücken (vgl. Rollenverzeichnis, SW Bd. 15, S. 434ff.). Die Auftritte in den komischen Sperrbolzen nehmen mit der Zeit zu, ebenso zeigen sich Übergänge vom hochdeutschen ins lokalkomische Fach. In Brünn erntet Nestroy Erfolg, zieht sich aber auch wegen verbotenen Extemporierens und zensurwidriger Texte den Unmut der Polizei zu und legt sich überdies mit dem Publikum an, dessen Nachzischen ihn ärgert. Die Verstöße gegen die Theaterzensur und die Geringschätzung gegenüber dem Publikum bringen ihm im Dezember 1825 Arreststrafen ein (Rommel, SW Bd. 15, S. 21). Im April 1826 wird er abermals auf die Polizei zitiert, sein Vertrag wird annulliert, weil er erklärt, sich das Extemporieren nicht verbieten zu lassen (ebd. S. 22). Bis zu diesem Zeitpunkt hat er an 38 Abenden in 15 Opern mitgewirkt und 32 Auftritte in 20 Sprechstücken gehabt, darunter auch solche mit lokaler Färbung.
Das nächst Engagement führt Nestroy, nachdem sich in Wien keine Möglichkeit bietet, nach Graz. Der dortige Theaterdirektor Johann August Stöger leitet auch das Theater in Preßburg. Er bietet ihm 3000 Gulden Gage und Zusatzeinnahmen. Ab Juni 1826 tritt Nestroy in Graz, später in Preßburg auf. Mehr und mehr wächst er ins komische Rollenfach, spielt z. B. den Longimanus in Raimunds Der Diamant des Geisterkönigs, Staberl in Bäuerles Die Bürger in Wien, Mißmut in Gleichs Der Berggeist oder Die drei Wünsche. Daneben gibt er den Gottschalk in H. von Kleists Käthchen von Heilbronn, Just in G. E. Lessings Minna von Barnhelm, singt Opernpartien von Rossini, Auber, Boieldieu, Isouard, Meyerbeer und spielt in Stücken Ifflands und Kotzebues. Für 1826 lassen sich in Nestroys akribisch geführtem Rollenverzeichnis 63 Opernpartien und 49 Sprechrollen nachweisen; für 1830 hat sich das Verhältnis auf 7 zu 226 umgekehrt. Der Wandel zum Lokalkomiker vollzieht sich in der Graz-Preßburger Zeit, in die auch Nestroys dramatische Anfänge fallen. Trotz wachsenden Repertoires bedeutet das Grazer Engagement das Ende der Laufbahn Nestroys als Opernsänger (vgl. Orel S. 104 mit Übersicht und Analyse, S. 106–113). Das Resümee für sechs Spieljahre sieht beachtlich aus: In 66 Stücken stand der Opernsänger Nestroy mit 86 Rollen 368mal auf der Bühne, ein Beweis für seinen Fleiß und seine Verwendbarkeit innerhalb des Theaterensembles (Orel, S. 105), um so mehr, wenn man die 174 Schauspiel-Rollen in dieser Zeit hinzuzählt. Nach Orel bietet sich unverkennbar eine Entwicklungslinie dar, die vom ambitionierten Anwärter auf große Opernpartien (…) zum überaus verwendbaren Vertreter besonders komischer Rollen im Alltagsspielplan absinkt, der aber besonders in den Opern Rossinis seinen angestammten Platz in vorderster Linie wohl zu wahren weiß, endlich anscheinend das Nachlassen der stimmlichen Fähigkeiten ihn dazu zwang, völlig zur Sprechbühne überzugehen. Der Traum von der großen Opernkarriere war ausgeträumt. Nestroy war wohl viel zu hellsichtig, als daß er nicht erkannt hätte, daß das Erwachen daraus ihm den Weg zu einem großen Komiker und Theaterdichter frei machte (…) (S. 113).
Die Rollenerfahrungen als Sänger kommen dem späteren Autor zugute, die gesanglichen Qualitäten seiner Couplet-Darstellung. Rollenkarikatur und parodierend angelegtes Spiel, das dem Publikum Situationen als Zitate in besonderer Sprech-, Sing- und Darstellungsweise interpretiert, haben hier ihren Ursprung.
Für die Grazer Aufführung von Angelys Zwölf Mädchen in Uniform 1827 schreibt er ein Vorspiel Der Zettelträger Papp, dabei auf eine Bearbeitung einer populären Posse Herzenkrons durch Raimund zurückgreifend. Satirisch-parodistische Akzente deuten schon seine Originalität in der Textbearbeitung an und korrespondieren einem im Wiener Volkstheater neuen Spielstil, den er u. a. in der Rolle des Sansquartier vorstellt, eine Lebensrolle, die er noch in seinem Todesjahr spielte. Nestroys groteskkomischer, antiillusionistischer Spielstil machte den Kritikern Probleme; sie tadeln, er sei nur auf Effekte aus, betone zu stark die eigene Rolle, vernachlässige die Charakterdarstellung, er spiele gemein. Sansquartier (in der Nestroy-Bearbeitung Sieben Mädchen in Uniform) ist eine zwischen Alltag und Fiktion angesiedelte Rolle, die das Nestroybild des gemeinen Zynikers prägen wird.
Mit dem Durchbruch als Schauspieler im komischen Fach gehen der Bruch seiner Ehe und die Trennung von Wilhelmine einher, die ihn 1827 eines mit einem damals in Graz befindlichen Grafen Batthyany unterhaltenen Liebesverhältnisses wegen (SW Bd. 15, S. 524; Erklärung der Wilhelmine Nestroy vom 7. September 1841) verläßt. Die Scheidung wird im Februar 1845, die Entmündigung einen Monat später ausgesprochen, die Kuratel-Verfügung galt noch über Nestroys Tod hinaus bis 1870. Wilhelmine Nestroy starb am 16. November 1870. Die Desillusionierung seiner romantischen Jugendliebe hat Nestroys Verhältnis zum anderen Geschlecht geprägt und ihren Niederschlag in der Possenwelt gefunden.
In Graz lernt er 1827/28 die Schauspielerin Maria Antonia Cäcilia Lacher, genannt Weiler (* 13. September 1809, ✝ 31. Oktober 1864) kennen, die seine Lebensgefährtin – die Frau genannt – wird. Mit ihr hat er zwei Kinder: Karl Johann Anton (* 8. Oktober 1831, ✝ 30. Juli 1880), Maria Cäcilia (* 2. April 1840, ✝ 18. April 1873), die 1858 legitimiert werden. Marie Weiler spielte nach Rommel unbedeutende Rollen, ist ab 1844 seltener auf der Bühne zu sehen und tritt 1851 ab (SW Bd. 15, S. 36–40). Dafür beginnt sie, im Privatleben Nestroys und im Theatergeschäft eine um so bedeutendere Rolle zu spielen.
Nestroy lotet in Graz und Preßburg die Möglichkeiten aus, unterschiedliche Publikumsschichten mit seinem Spiel anzusprechen (vgl. Mendel, S. 5–22) und schreibt Ende 1828 sein erstes abendfüllendes Stück, das Zauberspiel Dreißig Jahre aus dem Leben eines Lumpen. Nach diesem Erfolg wird der verschollene Schwank Der Einsylbige oder Ein dummer Diener seines Herrn ein Mißerfolg. Im August 1829 gibt Nestroy ein Gastspiel im Theater in der Josefstadt in Wien, u. a. im eigenen Zauberspiel Der Tod am Hochzeitstage. In Graz und Preßburg tritt er in dramatischen Quodlibets auf und beweist seine Verwandlungsfähigkeit in vielen Rollen. Die Nähe Preßburgs zu Wien gibt ihm die Chance zu Gastspielen. Aber erst nach einem Gastspiel im März 1831 im Theater in der Josefstadt und einem kurzfristigen Engagement in Lemberg kommt es in Wien zu einem festen Vertrag zwischen ihm, Marie Weiler und dem ebenso berühmt wie berüchtigten Theaterdirektor Karl Carl (d. i. Karl Andreas von Bernbrunn, 1787–1854), und zwar am Theater an der Wien (ab August) mit einer Jahresgage von 2000 Gulden).
Nestroys Repertoire umfaßte inzwischen mehr als 450 Rollen, und er brauchte für seine künstlerische Entwicklung mehr als eine Provinzbühne mit gemischtem Spielplan. Eine Karriere bei dem Talent war nur in Wien möglich. Dies hatte wohl auch Carl erkannt, der alle Register des Theaterbetriebes kannte, durch neue Talente geschäftlichen Erfolg mehrte, dabei seine Angestellten – Schauspieler, Autoren, Komponisten, Musiker u. a. – mit z. T. knebelnden Verträgen an seine Theater (zunächst Theater in der Josefstadt und Theater an der Wien, später Theater an der Wien und Theater in der Leopoldstadt) band. Er bemerkte auch die Veränderungen der Volkskomik im Kontext der Theaterunterhaltung ebenso wie den Geschmackswandel des Publikums und seiner sich verändernden Zusammensetzung. So förderte er auf seine Weise das Wiener Volkstheater und gab der Tradition neue Impulse, indem er die Talente erkannte. Für Nestroy bedeutete der Vertrag Aufstieg und Sicherung der bürgerlichen Existenz, die er in den nächsten Jahrzehnten zur Wohlhabenheit ausbaute (vgl. Vertragsdokumente SW Bd. 15, S. 561 und 563f., ferner Koch, S. 106ff. und vor allem die Arbeiten Hüttners; vgl. auch Kap. III.).
Wie schon gesagt, vollzieht sich der Übergang vom Opernfach ins Sprechtheater und vom Darsteller zum Schauspieler-Dichter u. a. durch die Parodie: als Darstellungsstil, als theatralische Gattung und als Möglichkeit der Stoffbearbeitung. Als Nestroy auf den Wiener Vorstadtbühnen erscheint, hatte man sich dort gerade an die gegenüber der Kongreßzeit-Posse subtileren Formen der Komik Raimunds gewöhnt. Nestroys grotesker und parodistisch übertreibender Stil war neu; Zeitgenossen (z. B. Costenoble, Hebbel, Vischer, Bauernfeld, Gutzkow, Hoffmann von Fallersleben, Schlögl) beschreiben das alles andere als harmlose Lachen, das er beim Publikum auslöst. Seine Parodie-Erfolge im Jahr 1832 bereiten den Boden für das bis heute meistgespielte Stück Der böse Geist Lumpazivagabundus (UA 1833), mit dem ihm als Theaterdichter, vor allem als Darsteller (Knieriem) der Durchbruch in Wien gelingt. Die Verbindung von groteskkomischem Spiel mit satirischen Reflexionen auf die soziale Wirklichkeit, die Konfrontation biedermeierlich geordneter Welt mit ihrer gemeinen Karikatur war neu auf den Brettern des Wiener Volkstheaters.
Das Jahr 1834 bringt Mißerfolge. Am 5. März stirbt der Vater verarmt und hinterläßt Schulden. Das mag den Sohn beeinflußt haben, zielstrebig an seiner Karriere zu arbeiten. Mitte März gibt Nestroy ein Gastspiel in Wiener Neustadt am Nachmittag und spielt abends jeweils wieder in Wien; im Sommer spielt er in Karlsbad. Auch in den Jahren 1835/36 gibt er Gastspiele in Wiener Neustadt, Graz und Preßburg. Anläßlich der Fortsetzung des Lumpazivagabundus gibt es einen Verweis vom Kaiser persönlich, die Klagen über Nestroys Darstellung des Unmoralischen häufen sich. Fortan hat er auch in Wien Schwierigkeiten mit dem Publikum, der Theaterpolizei und der Zensur, z. B. 1835 bei Zu ebener Erde und erster Stock: Nestroy wird wegen Extemporierens zu fünf Tagen Arrest verurteilt, den er im Jänner antritt (vgl. Brief vom 17.1. 1836; HKA Briefe, S. 35–37). Mit Wenzel Scholz (1787/1857), dem Kollegen und Freund, dem er die Rollen auf den Leib schreibt (vgl. Deck), brilliert er als Komiker in einer Eulenspiegel-Bearbeitung. Zur Beurteilung der schauspielerischen Leistung Nestroys ist diejenige der Scholz-Rollen mitzusehen (vgl. SW Bd. 15, S. 159–171, Koch, S. 82–87, 91–102, 225ff. und Deck); auch der Hintergrund der Carlschen Theaterproduktionen und die Zusammensetzung des Ensembles sind zu berücksichtigen. Nestroys herausfordernder Stil fand ungeachtet moralischer und ästhetischer Entrüstungen von bestimmten Seiten bald ein begeistertes Publikum.
Biographische Züge scheinen in den Stücken der 30er Jahre durch Spielrollen und Possenwelt hindurch: Ehebruch- und Treue-Motiv, Familien-Problematik, Aspekte der Künstlerexistenz, vor allem in Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab (UA 1835), bilden den Untergrund einer sich aus der Biographie entwickelnden Rollengeschichte. Zeit seines Lebens schwankt Nestroy zwischen einem soliden bürgerlichen Leben als Ehemann, Familienvater und galanten Abenteuern, die er nach der Dramaturgie ablaufen läßt, die der seiner Stücke ganz ähnlich ist, welche gerade die Verlogenheit des bürgerlichen Liebes- und Ehelebens in immer neuen Variationen darstellen.
1836 soll Nestroy für zwei Jahre Direktor des Theaters in der Josefstadt werden, läßt sich aber auf das Provisorium nicht ein. Er experimentiert – erfolglos – mit ernsten Formen (Der Treulose), gerät in eine Krise, nicht zuletzt auch dadurch, daß Carl als Komiker-Konkurrenz Louis Grois (1809–1874) engagiert. Im Mai steht er wieder auf der Bühne und genießt mit Die beiden Nachtwandler (UA 1836) die Gunst des Publikums. Der Aufführung von Affe und Bräutigam wohnt gar die kaiserliche Familie bei. Gastspiele führen ihn im September nach Graz, Ofen, Pest, Brünn.
Das Jahr 1837 bringt mit Eine Wohnung ist zu vermieten (…) einen Theaterskandal; das Publikum fühlte sich getroffen und reagierte verstimmt. Im Mai und im September setzte sich der Erfolg mit Moppels Abenteuer und Das Haus der Temperamente, 1838 mit Glück, Mißbrauch und Rückkehr und einer Feenballett-Parodie mit Staberl fort. Gastspiele gibt Nestroy im Mai 1837 in Ofen und Pest, 1839 im Juni in Brünn, im Juli in Lemberg. Bis zur Mitte der 30er Jahre ist es ihm gelungen, durch Zunahme der eigenen Rollen das Repertoire zu beherrschen. Von 1832 bis 1836 steigt die Zahl der Rollen in eigenen Stücken von 82 auf 137, die Auftritte in fremden Stücken nehmen ab: 134 zu 87; der Prozentsatz der eigenen Stücke im Spielplan steigt von 23% auf 40%. 1837/38 sinkt der Anteil auf 25–27%. Den tieferen Gründen für diese Krise (?) in der Entwicklung (vgl. Kap. IV.) wäre nachzugehen. – Für die Zeitgenossen war 1836 mit dem Tod Raimunds eine Epoche des Wiener Volkstheaters endgültig vorbei.
Carl hatte für die Spielzeit 1838/39 das Theater an der Wien umbauen lassen, die Eintrittspreise erhöht und dazu im Dezember 1838 das Theater in der Leopoldstadt übernommen. Für Nestroy bedeutete das, für ein anderes Publikum schreiben zu müssen, das sich mehr und mehr als gutbürgerliches nach unten abgrenzte, und er mußte in beiden Theatern auftreten. Das sind mit die Gründe dafür, daß in dieser Zeit nur ein Stück fertiggestellt wird, die erfolgreiche Holtei-Parodie Die verhängnisvolle Faschingsnacht (UA 1839). In diese Zeit des allgemeinen Wandels auf den Vorstadtbühnen fallen auch die Veränderungen in der schauspielerischen wie in der dramaturgischen Entwicklung Nestroys (vgl. Gutt, Koch). Ob, wie von der zeitgenössischen Kritik und auch späteren Interpreten bemerkt wird, sich Schauspieler und Dichter Nestroy dabei gegenseitig Niederlagen bereitet haben, müssen gründliche Analysen erweisen.
Die Stücke der frühen vierziger Jahre, darunter die bedeutenden Erfolge Der Talisman, Das Mädl aus der Vorstadt, Einen Jux will er sich machen, Der Zerrissene, zeigen Nestroy als meisterhaften Bearbeiter fremder Vorlagen, die er mit theatralischen Einfällen, Bezug zur Wiener Wirklichkeit und satirischer Sprachdurchdringung zu eigenen Werken transformiert. Seine verschlüsselten bis offenen Stellungnahmen zur Vormärz-Realität, im Kommunikationssystem der Posse mit Gesang dargeboten, passen in das Bild der oppositionellen literarischen Strömungen der Metternich-Ära. Im Umgang mit literarischen Stoffen, bedrängender zeitgenössischer Wirklichkeit, Forderungen im Konkurrenzkampf der Vorstadttheater und der Theaterkritik sowie der Zensur ist Nestroy durchaus selbstbewußt und souverän. Mißerfolge beweisen, daß sich sein Publikum z. T. nicht mitveränderte. Es hing nach wie vor anderer Unterhaltung, z. B. dem pompös ausgestatteten Zauberspiel nach, wie der beispiellose Erfolg F. X. Tolds Der Zauberschleier (1842) zeigt, Gegenüber solcher Entrückung und Flucht in die Illusion zeigen Nestroys Possen den sensiblen Umgang mit Zeitproblemen, z. B. in Liebesgeschichten und Heiratssachen (Satire auf Adel und Pervenüs), Nur Ruhe! (spießiges Bürgertum), Eisenbahnheiraten (Technik).
Gastspiele 1840 in Prag und Brünn (Juni/Juli), 1841 in Prag (Juni), Hamburg (Juli), 1842 in Prag und Brünn (Juli/August), 1843 in Linz und Breslau (Juni/Juli), 1844 in Prag (Juli), Berlin (August) und Frankfurt/O., 1845 in Berlin (Juli/August), Prag (August), München (September) machen ihn, seine Rollen und Stücke über Österreich hinaus populär.
Die für eine Wohltätigkeitsveranstaltung in Eile geschriebene und in Anwesenheit der kaiserlichen Familie aufgeführte Posse Unverhofft (UA 1845) scheint ein theatralischer Reflex auf die im Februar vollzogene Scheidung von Wilhelmine zu sein. Als Herr von Ledig betritt Nestroy zum letzten Mal die Bretter des Theaters an der Wien, das Carl an Franz Pokorny (1797–1850) verliert, dem er 1832 das Theater in der Josefstadt überlassen hatte. Die Gründe, weshalb Nestroy erst ein Jahr später ein neues Stück präsentiert, können u. a. in der Reaktion auf die Kritik (vor allem durch M. G. Saphir) an seinem gemeinen Darstellungsstil und der sittenzersetzenden Tendenz der Stücke gesucht werden.
Der Unbedeutende (UA 1846) überzeugte alle Parteien, die Posse wird als Volksstück und Beginn einer neuen Ära gefeiert. Nestroy ergreift in diesem Zeitbild wie in Der Schützling (UA 1847) Partei für die Unterpriviligierten. Auch die Burleske Die schlimmen Buben in der Schule (UA 1847) spielt untergründig auf das zum Untergang bestimmte Zopfensystem Metternichs an, das das Volk in Unmündigkeit und Abhängigkeit hält. – Gastspiele 1846 in Pest (Juli/August), Prag und Graz (August), 1847 in Prag (Mai), Brünn (Mai/Juni), Graz (Juni), Berlin (Juli/August), Hamburg (August), Frankfurt/M., Mainz und Wiesbaden (September) zeigen Nestroy neben bewährten auch in den neuen Rollen. Carl hatte in der verlängerten Sommerpause 1847, die Nestroy zu ausgiebigen Gastspielen nutzte, das Theater in der Leopoldstadt niederreißen und an seiner Stelle ein größeres, den Ansprüchen eines besseren Publikums entsprechendes Theater – das Carl-Theater erbauen lassen, das am 10. Dezember mit der UA der Schlimmen Buben eröffnet wurde. Von Mitte September bis zu diesem Tag spielte man in einem Interimstheater im Odeon.
Die Revolution von 1848 und Reaktion hinterlassen vielfältige Spuren in Nestroys Werk. Zeitzeuge einerseits, vom Spiel besessener Theatermensch andererseits, sucht er die Verbindung von Theater und Straße, gelingt ihm in der kurzen Zeit der Zensurfreiheit die Posse von der Revolution Freiheit in Krähwinkel (UA 1848). Die Kritik wirft ihm Gesinnungslosigkeit vor, er habe die Sache der Freiheit ins Lächerliche und Gemeine verzerrt. Mit wechselndem Erfolg bringt er das Stück auch bei seinen Gastspielen im August/September in Graz, Ofen/Pest, Brünn, Prag, Leipzig, Hamburg und Linz. Jeweils ein anderer Nestroy zeigt sich in den Stücken des Jahres 1849. Seine Aussagen zur Revolution und ihren Folgen bis zur oktroyierten Verfassung sind Meinungen von Possenfiguren. Die Possen (Lady und Schneider, Höllenangst, Der alte Mann mit der jungen Frau) und die Travestie (Judith und Holofernes) sind mehr oder weniger verschlüsselte Zeitbilder, lassen zugleich Nestroys persönliche Auseinandersetzung durchscheinen, die aber in der Vielfalt der Meinungen und sprachlichen Reflexionen aufgehoben ist. Ein offener Brief an Saphir (HKA Briefe, S. 84–87) und andere Briefe dieser Zeit fordern zusammen mit den Botschaften der Posse zu einer differenzierteren Beurteilung des politischen Nestroy als Künstler und Zeitgenosse heraus. Besonders an der – unaufgeführten – Posse Der alte Mann mit der jungen Frau kann die komplexe Bewältigung von Zeit- und privater Lebensgeschichte studiert werden (vgl. H. Weiss).
Das Jahr 1850 bringt ausschließlich Mißerfolge. Nestroy erholt sich auf Gastspielreisen Juli/August in Ofen/Pest, Lemberg und Linz. Die Krise hält an, zumal als Carl 1852 den Komikerkonkurrenten Carl Treumann (1823–1877) unter Vertrag nimmt. Mit Mein Freund (UA 1852) gelingt ein Erfolg in der Rolle des von beginnender Altersweisheit (?) und abgeklärter Kritik gezeichneten Schlicht. Bei Gastspielen in Triest (Mai), Ofen/Pest, Brünn (Juli), 1852 in Prag, Ofen/Pest (Juli/August) kombiniert er alte mit neuen Rollen, darunter vor allem die des Kampl im gleichnamigen Stück (UA 1852), mit dem er in Berlin (Juli/August 1853 und Juli 1854) Kritik und Publikum begeistert. Kampl setzt die mit Schlicht und Kern begonnene Linie eines gegenüber dem Vormärz neuen Typus von Volksgestalt fort.
Nach anfänglichem Weigern, mit dem jüngeren Carl Treumann (1823–1877) aufzutreten, erkennt Nestroy die sein eigenes Spiel nicht beeinträchtigende, sondern ergänzende Darstellung des Kollegen, dem er in Theaterg’schichten (UA 1854) eine Rolle auf den Leib schreibt.
Auch dieses Stück, das u. a. den dem Kommerz vorgeschriebenen Kulturbetrieb und das Dilettantenleben parodierend aufs Korn nimmt, wird mit Erfolg dem Berliner Publikum vorgestellt. Theaterdirektor Schofel ist eine – ungewollte (?) – Karikatur des als Abenteurer verschrieenen Carl (vgl. Rommel SW Bd. 15, S. 43–59 und Schrenker), der am 8. August 1854 an den Folgen eines Schlaganfalls stirbt. Auf Bitten der Erben übernimmt Nestroy am 1. November das Carl-Theater, nachdem ihm am 28. Oktober die k. k. Oberste Polizeibehörde die Konzession gewährt hatte. Das ausführliche Gutachten hebt Nestroys Eignung und besondere Qualifikation hervor (vgl. SW Bd. 15, S. 607–611). Bei der Übernahme der Direktion hatte er knapp 19.000 Gulden für die Pacht aufnehmen müssen, dem stand am Ende der ersten Spielzeit bereits ein Gewinn von knapp 30.000 Gulden gegenüber, der sich in den folgenden Jahren auf etwa 45.000 Gulden erhöhte. Der Polizeibericht von 1857 (SW Bd. 15, S. 391–394) hebt den wohlgeordneten ökonomischen Zustand des Theaters hervor, Nestroy bezahlte sein Personal besser als Carl, Stücke setzte er mit Aufwand und Geschmack in Szene, überall herrsche Ordnung und Reinlichkeit, er mache gute Geschäfte, und der Bericht betont, daß Maria Weiler einen wesentlichen Anteil an dieser guten Ökonomie habe. Es scheint, als habe Nestroy die zusätzliche Rolle des Theaterdirektors in Theaterg’schichten schon antizipiert; sein Alterswerk greift immer wieder auf Themen und Milieu dieses ihm bestens bekannten Metiers zurück. Die Theaterwelt – seine Welt, auch als Direktor steht er wöchentlich vier- bis fünfmal auf der Bühne – wird zur szenischen Metapher, die Biographie, Realität und Fiktion, gesellschaftliches und künstlerisches Rollenspiel übergangslos verbindet.
Der Vertrag für die Direktion läuft über 10 Jahre mit einer Kündigungsmöglichkeit nach 5 Jahren. Zusammen mit Marie Weiler und dem Freund Ernst Stainhauser führt Nestroy die Geschäfte und erneuert – zu besseren Bedingungen – die Verträge mit Scholz, Grois und Treumann (vgl. Vertrag mit Scholz, SW Bd. 15, S. 611–614). Das erste in dieser Zeit geschriebene Stück (Nur keck!) bleibt unaufgeführt. Die Gastspieltätigkeit nimmt ab; in den Jahren 1855–1858 weilt Nestroy zu kürzeren Gastspielen in Bad Ischl, Pest, Ödenburg und zu einem längeren in Triest. Auch die Auftritts- und Schreibtätigkeit ist eingeschränkt, wie sich am Rollenverzeichnis (SW Bd. 15, S. 506ff.) ablesen läßt. Von den letzten sechs Stücken, von denen allein drei in das Jahr 1857 fallen, haben sich Umsonst, die Tannhäuser-Parodie und die beiden Einakter aus dem Todesjahr Frühere Verhältnisse und Häuptling Abendwind im Spielplan gehalten. Nestroy scheint sich in den letzten Jahren stärker als früher dem Privatleben gewidmet zu haben. Nicht unbeträchtliche Summen zweigt er – mit Wissen des Freundes und Kassenkontrolleurs Stainhauser – für seine Spielleidenschaft und Liebesaffären ab. Marie Weiler fürchtet, sein Verhalten gefährde Privat- und Geschäftsleben. Die erhaltenen Briefe sprechen eine deutliche Sprache.
Insbesondere ist es die Beziehung zu Caroline Köfer, die zur ernsten Krise führt, in deren Verlauf die Frau 1856 die gemeinsame Wohnung verläßt. Während Nestroy mit seiner Tochter nach Norddeutschland auf Reisen geht, schlichtet Stainhauser den Streit. In einem Brief vom 18. Juli 1856 an Stainhauser (HKA Briefe, S. 134–136) hatte Nestroy die Bedingung für einen Friedensschluß (…) von Dauer genannt, die u. a. die vollkommene Freygebung seiner Person, freie Verfügung über Gewinne aus dem Theatergeschäft und thunliche Separierung der Wohnung in der Wohnung umfassen. Nachdem er das Verhältnis mit der Köfer gelöst hatte, deren Intrigen gegen Marie Weiler keinen Erfolg haben, überträgt er die Verwaltung des Theaters seiner Frau (vgl. SW Bd. 15, S. 614). Bis zum Sommer 1857 scheint man sich arrangiert zu haben, Nestroy, Marie Weiler und Tochter reisen nach Paris und Amsterdam. 1858 steht bereits die nächste Krise ins Haus (u. a. eine Vaterschaftsklage); es geht immer wieder um Liebe und heimliches Geld und um die Nachspioniererei der Weiler. Nestroy, der offenbar immer weniger Gefallen an der Rolle des Theaterdirektors findet, dem Repertoire kaum neue Impulse zu geben vermag, als Autor nicht mehr so erfolgreich ist wie früher, vielleicht zu wenig Zeit zum Theaterspielen findet, sieht sich mit dem Entschluß seiner Frau konfrontiert, sich aus dem Theatergeschäft zurückzuziehen. Sie wirft, wie Stainhauser schreibt, Nestroy, der Anfang Juli 1858 nach Helgoland aufgebrochen ist, Verschwendungssucht und Verantwortungslosigkeit vor. Sie will sich von ihm trennen und als einen Fremden betrachten. Der Brief Nestroys an Stainhauser (HKA Briefe, S. 176f.) macht deutlich, daß er es nicht zum endgültigen Bruch kommen lassen will; in einem Brief vom 19. Juni 1858 aus Paris an Stainhauser hatte er die Verdienste der Frau gewürdigt, zugleich ihr an die spanische Inquisition mahnendes Spionieren ihrerseits (Briefe, S. 169) getadelt. Für eine Versöhnung ohne Gesichtsverlust will er alles tun und beschwört die wahre, auf dreißigjähriges Zusammensein gegründete Anhänglichkeit des Herzens und das frohe Alter an der Seite des Wesens, mit welchem man das Leben in allen seinen Wechselfällen durchgemacht (S. 170).
Nestroy kehrt vom Kuraufenthalt auf Helgoland, das er auch 1859 und 1860 besucht, zurück, die Versöhnung gelingt, und Marie Weiler führt die Geschäfte des Carl-Theaters weiter. Durch die Gnade des allerhöchsten Landesfürsten werden die beiden Kinder 1858 legitimiert und tragen fortan den Namen Nestroy. Dies unterstreicht die bürgerliche, familienväterliche Seite des Menschen Nestroy, der 1859 in Graz und Ischl Haus bzw. Sommerhaus zur Ausgestaltung seines Lebensabends kauft. Theaterwelt und Verführerrolle lassen ihn jedoch nicht los. In Graz sieht man ihn abends im Theater – als Zuschauer, Treumann sagt er Auftritte in dessen Theater Franz-Josefs-Kai zu, er spielt den Jupiter in J. Offenbachs Operette Orpheus in der Unterwelt, die er wohl auch bearbeitete, und – vom Rollenspiel auf der Bühne zu dem des Privatlebens – über seinen Tod hinaus ist eine Vaterschaftsklage anhängig.
In all diesen Jahren war Stainhauser der einzige Freund, den er in die innersten Falten seines Herzens blicken ließ (vgl. HKA Briefe, S. 131); er spielt für Nestroy im Theater- wie im Privatleben eine wichtige Rolle und ist Gegenbild zu den vielen falschen Freunden, die er in seinen Possen darstellte (vgl. Obermaier 1985).
Die Direktion Johann Nestroys am Carl-Theater endet mit dem 31. Oktober 1860. Am 30. Oktober wird er in einer glanzvollen Abschiedsvorstellung gefeiert, in der er in einem Quodlibet seine berühmtesten Rollen spielt. Zur Erinnerung wird er mit einem simbolografischen Lebensbild geehrt, das ihn in mehr als 25 Rollen zeigt und – heraldistisch hervorgehoben – seine Generosität und Humanität betont. Nestroys Kommentar zu diesem Bild (Es ist eine Apotheose; so ehrt man einen verstorbenen Erzbischof, aber keinen lebendigen Mimerer, HKA Briefe, S. 212) drückt sein Selbstverständnis aus. Als Mimerer tritt der nach Graz übersiedelte Schauspieler 1861 und 1862 als Gast in Treumanns Theater auf, spielt u. a. seine Jugendrollen, macht zugleich ein neues Genre in Wien populär, die Operette, und vollzieht damit den sich ankündigenden Wandel im Wiener Volkstheater. In der vielgespielten Knieriem-Rolle hat er am 4. März 1862 seinen letzten Auftritt in Wien, am 29. April steht er bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung in Graz zum letztenmal auf der Bühne. Johann Nestroy stirbt an den Folgen eines Schlaganfalls am 25. Mai 1862 in Graz. In seinem Testament (SW Bd. 15, S. 618–622), das ein seine Psyche erhellendes Dokument ist, in dem er die Furcht vor der Möglichkeit des Lebendigbegrabenwerdens äußert, setzt er Marie Weiler zur Universalerbin ein, die er treue Freundin meiner Tage nennt und ihr aufopferndes Wirken hervorhebt. Nach Wien überführt, wird sein Leichnam auf dem Währinger Ortsfriedhof beigesetzt und findet 1881 zusammen mit den sterblichen Überresten seiner Lebensgefährtin in einem Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof (Gruppe 32 A Nr. 6) seine letzte Ruhestätte.
Innerhalb einer 40jährigen Bühnentätigkeit spielte Nestroy ungefähr 880 Rollen (vgl. Verzeichnis SW Bd. 15, S. 428–516 mit Korrekturen von Koch u. a.), von denen vielleicht ein Fünfzehntel bildlich dokumentiert ist (vgl. Ikonographie); vom Opernsänger Nestroy kennen wir kein Bild. Am häufigsten wurde er als Sansquartier, Knieriem und Jupiter dargestellt; die erhaltenen Photographien zeigen den alten Nestroy, die Aquarelle Schoellers – Hüttner nennt sie typisierte und putzige Arbeiten (Katalog 1987, S. 13) – haben das Nestroybild mitgeprägt. Inwieweit diese und später entstandene Bilder sowie die posierten Rollen-Fotos etwas von der Mimik, Gestik, ja der gesamten Darstellungskunst vermitteln, sei zumindest mit kritischen Fragezeichen versehen. Ob sie hinter dem üblichen Theaterkult etwas vom Menschen und Charakter zeigen, ist ebenso fraglich.
Eines der schwierigsten Probleme im Zusammenhang von theatralem und Alltagshandeln und in der Personalunion von Autor und Akteur ist die Identifikation des biographischen Ich in der Rollengestaltung, besonders auch beim Heraustreten aus der Rolle. Münz meint, ohne ein Verständnis für das Verhältnis zwischen Theater (als Kunst), Theater (des realen Alltags) und Theater in Nestroys Sinn ließen sich seine politische Haltung, Weltsicht und Philosophie, besonders in der Zeit um 1848, kaum begreifen (S. 207). Und man muß im Blick auf die zeitgenössische Rezeption fragen, wann und wo das Publikum Nestroy als Person oder als Rolle verstanden hat.
Die Rollengeschichte vermittelt Einblicke in die Spiel- und Schreibtraditionen des Wiener Volkstheaters, die Nestroy beeinflußt haben, die er teils erneuert, umlenkt, innovativ weiterführt. Aus den Texten lassen sich nur einige Momente rekonstruieren, z. B. die sich von den Vorgängern abhebende intellektuelle Konzeption der komischen Figur als Räsoneur, seine Definition durch soziale Merkmale, seine Mittlerfunktion zwischen Spielwelt der Posse und Wirklichkeit des Publikums, das bisweilen aggressive Spiel, auch die Neigung zu grotesker oder parodistischer Übertreibung und damit Distanzierung. Freilich bleibt das Defizit, daß auditiver und visueller Eindruck nicht zu rekonstruieren und durch Theaterkritiken nur dürftig zu kompensieren sind, deren Quellenwert ohnehin umstritten ist. Eine kritische Auswertung der Quellen (u. a. Berichte von Zeitgenossen, Stellungnahmen der Theaterpolizei, Tagebücher) wäre notwendig, in die auch Nestroys Rollen-Darstellungen in fremden Stücken (z. B. Raimund, F. Kaiser) und bei Gastspielen einzubeziehen ist. Auch über die wechselseitige Beeinflussung von Schauspieler und Sänger, vor allem in Zusammenarbeit mit dem kongenialen Komponisten Adolf Müller, wissen wir zu wenig. Hüttner 1982 faßt zusammen:
Aus den üblicherweise herangezogenen Quellen steht der Schauspieler Nestroy vor uns als ein schlanker, hochgewachsener Mann, in der Haltung etwas vorgebeugt und eingeknickt, überaus beweglich, von unerreichter Wortgewandtheit, beredter Gestik, aggressiv und von großer Suggestionskraft. Wie immer man im Detail sein schauspielerisches Talent beschreiben will: für seine Zeitgenossen war Nestroy wohl der Repräsentant einer neuen Schauspielkunst, mitreißend und doch irgendwie distanzierend (S. 104)
Er weist auf die Notwendigkeit quellenkritischer Überprüfung hin und auf die Tatsache, daß es in den Beschreibungen oft nicht möglich ist, die schauspielerischen von den schriftstellerischen zu isolieren. Auch Nestroys Selbstverständnis als Theaterschaffender ist aus den vorhandenen Quellen schwer zu erschließen. Lebens- und Rollengeschichte, Selbstverständnis des Theatermannes und die jeweils über seine Stück-Horizonte hinausreichende Weltanschauung hängen eng zusammen, lassen sich schwer voneinander lösen. Rollen sind z. T. gemeinsamer Fundus für Leben und Werk, oft aber stehen sich Lebensrolle und Spielrolle diametral gegenüber, und es führt kaum ein Weg vom Handeln der Possenfigur zur Deutung der Weltanschauung ihres Schöpfers.
2. Aspekte der Persönlichkeit und Weltanschauung
Nestroys innere Biographie macht der Forschung nach wie vor große Probleme. Die älteren Monographien (u. a. Necker, Rommel 1930, Forst de Battaglia, Rommel 1948) erklären Persönlichkeit und Werk zumeist aus psychologischer Perspektive, stellen Nestroys neurotische Grundstruktur mit Neigung zum Exhibitionismus heraus, betonen Schüchternheit und Angst vor dem Tod; aus seiner Handschrift las man neben Unrast einen Mangel an Mut und Konsequenz (Pokorny). Neue und ganz verschiedene Wege gehen Preisner, Mautner und Sengle, indem sie Nestroys Spielsucht, Intellektualität und Gebundenheit an die bürgerliche Herkunft betonen. Vereinzelt wird auch nach dem spezifisch Österreichischen in Leben und Werk gefragt. Durch die Forschung insgesamt zieht sich das widerspruchsvolle Bild einer schwachen Persönlichkeit im Leben mit starker, intellektuell geprägter Spiel- und Darstellungskraft auf der Bühne.
Einer der frühen Versuche, auf die sich spätere Verstehensmodelle bewußt oder unbewußt beziehen, ist Kochs Psychogramm aufgrund z. T. unsicherer oder anekdotischer Quellen. Er führt den befreienden Witz und die Spielleidenschaft Nestroys auf eine Kompensation des Mangels an Selbstbewußtsein zurück. Er habe sein mimosenhaftes Ich vor der Umwelt dadurch geschützt, daß er sich hinter Höflichkeit und Bescheidenheit verbarg, im Maskenbild des Schauspiels habe er dies dann demaskierend kompensiert. Sein wahres Inneres habe er hinter der Maske des guten Bürgers verborgen, in den Theaterrollen erreichten die dämonischen Kräfte seines Inneren diejenige Bewegungsfreiheit, die sich dann im Aktivismus und hemmungsloser Aggressionslust äußerten (S. 160). Auf diesem Hintergrund sieht Koch in Titus Feuerfuchs (Der Talisman) eine der tiefsten psychologischen Selbstdarstellungen Nestroys, in welcher der Wechsel von Aggression und ängstlicher Passivität intellektuell-spielerisch bewältigt werde, in Der Färber und sein Zwillingsbruder werde die Ambivalenz als Doppelrolle in zwei gegensätzliche Charaktere zerlegt, und auch in Die Papiere des Teufels und Kampl findet er dieses Maskenspiel des Menschen Nestroy. Nestroy spreche in der Bühnenrolle gerade als Ich, nur als Ich (S. 163). Koch verknüpft seine Interpretation mit der These von K. Kraus, Nestroy sei der kostümierte Anwalt seiner satirischen Berechtigung (1912, S. 8); Beweise für das Sprechen des Ichs in Masken findet er, unabhängig von den dargestellten Figuren, u. a. in den Monologen und Couplets. Triebleben, Schüchternheit, Angst vor dem Tod, die im Spiel kompensiert würden, paßten gut in das Bild eines aus Extremen zusammengesetzten Charakters, der durch einen überragenden Intellekt zur Künstlerpersönlichkeit werden konnte. Auch neuere Arbeiten heben, den einseitigen Psychologismus relativierend, bestimmte Zusammenhänge zwischen Theater und Leben in der Biographie hervor (u. a. E. Fischer, Hüttner, v. Matt, Hannemann, Sengle); Nestroy habe Trieb und Angst ästhetisiert, das Ausspielen von Theaterklischees im bürgerlichen Leben könnten Überlebenstechniken (Hüttner 1982, S. 109) gewesen sein, sein Witz entstehe aus dem Zusammenstoß eines schüchternen, aber leidenschaftlichen Menschen mit mächtiger Intelligenz mit dem System.
Daß die Spielleidenschaft ein Schlüssel zu Leben und Werk ist, darüber ist sich die Forschung einig. Nestroys Theaterbesessenheit geht nach Brill weit über das Berufliche hinaus, totale Spiellust bestimme sein Leben, das er inszeniere, wie die Köfer-Affäre deutlich mache. Auf der Bühne und in der Liebe zeige er keine Schüchternheit (vgl. S. 199ff.). Das Sprachspiel durchzieht auch die Briefe und manifestiert sich selbst in Formulierungen des Testamentes. Für Brill zeigen sich Umrisse einer Deutung der Person, die mit psychoanalytischen Methoden auszufüllen wären (S. 200, vgl. auch v. Matt). Er vermutet, daß die Spielmanier Verdrängung und Sublimierung aggressiver Triebregungen ist (ebd.), und zwar in der Komödie als Sprachspiel. Die Bindung zwischen Person und Werk sowie zwischen psychischer Struktur und Realität sei enger, als man bisher gesehen, aber das Werk lasse sich nicht einfach aus der Biographie erklären, die Zusammenhänge seien komplexer (S. 201).
Zwirns (Lumpazivagabundus) Herzensbangigkeit und Ich halt’s nicht aus kann man auf Nestroy selbst beziehen; die Leben und Theater verbindenden Geld und Liebe, das Theater als Arbeitsplatz und Stätte des Sich-Auslebens, Häuslichkeit und Liebesfreiheit, Kontrolle durch die Frau und heimliches Geld, Erfüllung bürgerlicher Normen und ästhetische, aggressive Befreiung in Witz und Spiel, Schüchternheit und narzißtische Ichbezogenheit, Planbarkeit des Lebens und Rolle des Zufalls (vgl. HKA, Briefe, S 136) sind immer wieder genannte Aspekte zur Beschreibung der Persönlichkeit. Auch seine Todesfurcht wird aus dem Persönlichkeitsbild erklärt (vgl. Rommel, SW Bd. 15, S. 212–218). Schick kritisiert die charakterologische Ableitung und bringt die Einstellung zum Tod mit der Haltung des Satirikers und vitalen Komikers zur Welt zusammen. Vor dem zersetzenden Verstand des Satirikers halte der religiöse Trost eines besseren Jenseits nicht stand; der Tod sei Feind des Satirikers, weil er ihn an der Erfüllung seiner Sendung hindere. Eine tiefere Dimension deckt v. Matt auf. Er erkennt auf dem Bild, das Nestroys seelischen Kollaps auslöste und seine Todesfurcht verstärkte, Ähnlichkeiten mit den dargestellten Personen und seiner Familiensituation. Die heftige Identifikation (Panik), in der er sich als Schauspieler und Mensch betroffen erkennt, bringe die tieferen Schichtungen seiner Seele in unkontrollierbare Bewegung und sein Bewußtsein vorübergehend zum Einsturz (S. 16). Es gelingt für den Interpreten ein tieferer Einblick in den Zusammenhang von Leben und Werk, die gleichermaßen von Angst und Panik bestimmt seien. Am Beispiel der Köfer-Affäre werde klar (vgl. HKA Briefe, S. 114–117):
In den intimsten Zonen seines Lebens reproduziert er dergestalt das Polizeisystem, unter dem seine öffentliche Arbeit steht. Die politische Verfolgung der Sexualität hat zuletzt zur Sexualisierung der Verfolgungsmechanismen selber geführt. Die Panik ist zu einem Element der Liebe geworden (S. 20).
Die Gleichzeitigkeit von Lust und Terror läßt sich nach v. Matt in den Stücken studieren (z. B. Der Zerrissene, Höllenangst). Die Angstzustände in den Stücken dürften nicht allein auf privatpsychologische Gegebenheiten zurückgeführt werden, sondern es werde deutlich, daß der Autor mit diesen von den Zeitgenossen zum Instrument gewählt und geformt wird, mit dessen Hilfe sie sich die wahre Beschaffenheit ihres Daseins handgreiflich vor Augen führen – anästhesiert in der Narkose eines unablässigen Gelächters (S.22). Nestroys Todesfurcht kann einerseits auf dem Hintergrund einer Kollektivneurose gesehen werden (z. B. E. A. Poe, G. Keller), der er hilflos ausgeliefert war, andererseits und im Unterschied zu Raimunds Todeserfahrung spiegle die Todesangst einen Scharfblick für die in Bewegung geratene gesellschaftliche Ordnung:
Für Raimund ist das gesellschaftliche Gefüge solid und unbewegt. Das spiegelt sich in seinem Glauben an den guten Tod mit einem festen Ort im Ganzen. Wenn demgegenüber Nestroy den Tod als etwas empfinde, was er nicht einzuordnen, nicht zu bewältigen, nur zu verdrängen ist […], so bricht sich darin, genau konträr, die Erschütterung aller verläßlichen gesellschaftlichen Strukturen (S. 27).
Und noch eine weitere Nestroy existentiell betreffende Dimension werde sichtbar. Er erkennt die ökonomische Katastrophe der kleinen Gewerbetreibenden, beobachte die rücksichtslosen Karrieristen; sein Blick werde an einem Ort geschärft, an dem er selber ökonomisch angesiedelt war. Im Umbruch der Volkstheater zu hart kalkulierenden Unternehmen entdeckte er Theaterschaffende, die um ihre Existenz bangen. Durch Erfahrungen in der Jugend (finanzieller Niedergang des Vaters und soziale Ächtung) gewarnt, kapitalisiere Nestroy sein Talent, stets sitze ihm das Gespenst sinkender Popularität im Nacken, sei er an die Leiter seiner eigenen Karriere gefesselt, von seiner Frau daran festgehalten und gehindert, alles zu vertun und ins soziale Nichts zu fahren (S. 29). Diese Gefahr sei ihm als Spieler vertraut, schon früh habe er sie im Lumpazivagabundus dargestellt. Die Angst vor dem Selbstverspielen der bürgerlichen Existenz bilde auch die Grundlage seines sozialpsychologischen Scharfblicks.
Weitere Bausteine und Verstehensmodelle der Biographie wären aus Briefen und anderen Quellen zu gewinnen, z. B. zum Verhältnis Nestroys zu Freunden, Zeitgenossen und Konkurrenten (etwa F. Kaiser), zur Obrigkeit, insbesondere auch zu Frauen (von der Kollegin bis zum Lustobjekt im Unterhaltungs-Ambiente des Theaters) auf dem Hintergrund der beginnenden Bemühungen um Emanzipation.
Am ausführlichsten in der neueren Forschung hat man sich mit weltanschaulichen Grundpositionen Nestroys und seines Gesellschaftsbildes beschäftigt (u. a. R. Bauer, Corriher, Berghaus, Hannemann, Preisner, Sengle) und verschiedene Komponenten sichtbar gemacht: barocke und aufklärerische Einflüsse auf die Geisteshaltung in der Biedermeierzeit, Zusammenhänge zwischen Katholizismus, Josephinismus und Quietismus einerseits und liberalen bis oppositionelle Strömungen im Vormärz andererseits. Die politische Standortbestimmung – er wird in die Nähe des aufgeklärt-konservativen Bürgertums gerückt – macht Schwierigkeiten, wie besonders Preisners Interpretation zeigt.
Für Berghaus 1982 sind eine Reihe von Lücken in der Kenntnis der Sozialisation zu schließen, u. a. seien Untersuchungen notwendig zur gesellschaftlichen Erlebniswelt und sozialen Anschauungen der aufstrebenden Juristenschicht, zu Bildung und Ausbildung (zu einem Teilaspekt vgl. Neuber), zur Wiener Salon- und Kaffeehauskultur und deren politisch-gesellschaftlicher Struktur, zu Nestroys früherem Freundeskreis (S. 5). Er stellt dazu einige spekulative, vielleicht aber doch weiterführende Überlegungen an (z. B. mögliche Begegnung Nestroys mit der Sozialethik B. Bolzanos, die seine Schicksalsphilosophie und sozialen Standpunkt verändert haben könnte).
Nach Berghaus 1977 geriet Nestroys ganzheitliche, dem barocken Ordo-Gedanken verpflichtete Weltauffassung in den 30er Jahren mit dem kapitalistischen Durchbruch ins Wanken. Die Position zwischen den beiden Zeitaltern bewirke eine Zerrissenheit, die sich auch auf das Werk auswirke (vgl. auch Olles). Das dort ausgebreitete Ideenmaterial lasse sich nicht eindeutig einer dieser beiden Welten zuordnen. Er diagnostizierte die Unmenschlichkeit des Kapitalismus und sehnte sich nach den vergangenen Zeiten einer geordneten Welt (S. 337). Auf diesem Hintergrund ließen sich Nestroys Schicksalsphilosophie und die Fortschritts-Skepsis ebenso verstehen wie die politische oder metaphysische Haltung zur Welt. Berghaus spricht von konservativer Ontologie (vgl. auch Preisner): Wo der Politiker Nestroy mit schonungsloser Härte analysierte, ontologisierte der Metaphysiker die bestehende Ungerechtigkeit […] (S. 340). Nach 1848 habe der Fatalismus die Oberhand gewonnen, der sich in Resignation und Pessimismus auf humanistischer Grundlage ausdrücke, niemals aber als Nihilismus.
Im Zusammenhang solcher Zuschreibungen, ideen- und stilgeschichtlicher Fragen sowie der Perspektiven des Wirklichkeitsbezuges und der Satire werden u.a. folgende Positionen Nestroys betont: Nihilismus (Höllerer, Preisendanz, Hannemann, Preisner u.a., dagegen: Sengle), Skeptizismus (Corriher); die pessimistische Weltsicht des an die Unverbesserlichkeit des Menschen glaubenden Satirikers wird in den meisten Arbeiten konstatiert, ebenso die Implikationen des Schicksalsbegriffs, dem mit der Ratio nicht beizukommen ist (vgl. Kuhn, Corriher u. a.). Kuhn arbeitet die verschiedenen Perspektiven der Weltbetrachtung heraus, für Corriher ist der skeptische Rationalismus Antwort auf eine von macht- und Sinnlosigkeit geprägte Lebenserfahrung. In der Freiheit des Geistes gelinge die Bewahrung der Identität und der Schutz vor den verschlingenden Kräften von Zeit, Schicksal und Tod. Die Possenhelden agieren komplementär zu dem Nestroy nachgesagten Verhalten im Alltag; sie erkennen die Fremdbestimmung, durchschauen die Hoffnung als Illusion, setzen sie aber als Überlebenstechnik gegen die Verzweiflung ein. Allein der Verstand garantiere Bestand und Leben des selbstgewissen Ich, meint Corriher. Sengle sieht hinter der satirischen Negation ein positives Wertsystem, das sich in sozialer Haltung, Humanismus artikuliere, letzterer basiere freilich weniger auf christlich-religiöser Grundlage. Nestroys Atheismus sei kein moderner, sondern hänge – wie die Skepsis – mit der Witz- und Spielkultur des 18. Jahrhunderts zusammen.
Die Suche nach weiteren Klammern zwischen Stil- und Geistesgeschichte, Persönlichkeit und Rollenaussagen muß weitergehen, z. B. in der Frage nach Nestroys Verhältnis zum Volk, auf dessen Seite er stand, das er aber nicht verklärte, sondern mit Skepsis betrachtete. Seine Reflexion sozialen und politischen Wandels ist vielschichtig, sein Werk ist mehr als eine Quelle für den Historiker, es ist selbst historische Analyse einer Epoche des Umbruchs, deren Dialektik nur von wenigen so verstanden wurde wie von ihm. Er erkannte den durch die Niederwerfung der Revolution 1848 reduzierten Fortschrittsbegriff des Bürgertums, das die historische Chance seiner Emanzipation versäumt hatte, auf den materiellen, ökonomischen und technischen Aspekt. Nestroy sah solchen Fortschritt, die Zerstörung der Natur und Menschennatur, mit einer auf Wittgenstein vorausweisenden Skepsis (vgl. Barker, Häusler 1989). In dieses Bild paßt die theatralische Bestandsaufnahme der sozialen Veränderungen in der Posse (Darstellung von Elend und Proletarisierung, Genußsucht und primitive Lebenslust, das rücksichtslose Tempo der neuen Zeit; vgl. Leib, Häusler, Berghaus) und die Spiegelung von Emanzipationsbestrebungen (vgl. Berghaus, Neck, Rett, Yates). Zwar lassen sich nach Berghaus 1985 die Figuren der Frühzeit in ein soziologischen Klassenschema einordnen, doch habe Nestroy dramaturgisch nur mit dem Gegensatz von Arm und Reich gearbeitet mit positivem Akzent auf den Unterprivilegierten, später (z. B. im Schützling) stelle er den antagonistischen Klassenwiderspruch zwischen Arbeitern und Kapitalisten dar. In den Stücken der mittleren Phase falle die unrealistische Darstellung des Elends der Unterschichten auf. Nestroy entwickele Problembewußtsein, werde realistischer, versuche die Kleinbürger von falschen Illusionen zu befreien; die Ausbruchsversuche der Figuren der frühen vierziger Jahre mit ihren phantastischen Aufstiegswünschen erhielten einen tragischen Zug. (Zur Gesellschaftskritik vgl. Kap. V. 4.) In den Possen im Umkreis der Revolution läßt er keinen Zweifel, daß er die gesellschaftlichen Veränderungen befürwortet, aber er sieht seine Kritik am unfähigen Bürgertum bestätigt, das nicht in der Lage war, ein zum Wandel führendes politisches Bewußtsein (Wir sind das Volk) zu entwickeln. Satirisch geißelt er jene Revolutionäre, die das Geschehen in einem Ulk, Freiheitspathos in lächerliche Phrasendrescherei verkommen ließen (vgl. u. a. Berghaus, Häusler, Rett, Schmieder).
Nestroys schwankender Heroismus wird von v. Matt charakterisiert. Er habe wie Heine keine Neigung zum politischen Märtyrertum gehabt, mehr habe ihm am persönlichen Wohlergehen und an Theatergeschäften gelegen. Nestroy sicherte sich ab, er lieferte den politischen Funktionären die eindimensionalen Sätze innerhalb vielschichtiger Gebilde, besonders nach 1848 (vgl. S. 22–24). Ein prägender Zug dieser Vielschichtigkeit, hinter der die Person Nestroy schwer auszumachen ist, ist der sich verstärkende Schicksals-Pessimismus, der einerseits satirisch die Unveränderbarkeit des Menschen und des Sozialen hervorhebt, andererseits Werte des Herzens und humanistische Positionen in reflektierter Skepsis freilegt. In der Mischung von Theaterroutine, Intellektualismus und persönlichen Charakterzügen haben wir auch Nestroys Selbstverständnis als Autor zu suchen.
Daß er sein Handwerk verstand, zeigen Blicke in die dramatische Werkstatt, die planende Komisierung und Sprachkunst. Ebenso wissen wir, daß er sich den Spielregeln des Theatergeschäfts zu unterwerfen hatte (vgl. Rollen-Aussagen des Dichters Leicht in Weder Lorbeerbaum […], ferner in Der Talisman, Theaterg’schichten u. a.) und auf Erfolg hin arbeitete unter den institutionellen Bedingungen (vgl. Kap. III. 1.). Vielleicht war ihm seine Genialität unbewußt, die sich u. a. in der Dialektik von Absicht und Absichtslosigkeit, von Naivität und Reflexion im Werk zeigt (vgl. Brill, S. 204).