Von Ulrike Tanzer
7. Dezember 2007
„Ich habe Glück gehabt in diesem Leben. Wie oft könnte ich schon tot sein! Hitler, Krieg und Herzinfarkt und immer bin ich noch da, 83 Jahre alt, und erzähle mein Leben.“
Diese Zeilen finden sich im Vorwort von Otto Tausigs Lebensgeschichte, die vor zwei Jahren unter dem Titel Kasperl, Kummerl, Jud (2005) im Wiener Mandelbaum Verlag erschienen ist. Mit Glück meint Tausig die Geburt in eine jüdische Familie hinein, die ihn davor bewahrt habe, auf dem Wiener Heldenplatz „Sieg Heil“ zu schreien und für den Führer in den Krieg ziehen zu müssen; das Geburtsdatum 13. Februar 1922, um gerade noch als Sechzehnjähriger in einem Kindertransport nach England entkommen zu können; das Überleben mehrerer Bombenangriffe in London und schließlich eine gesicherte Existenz als Burgschauspieler. „Und jetzt kommt das Allergrößte“, heißt es in dem Erinnerungsbuch, „nämlich, dass mir bewusst ist, was für ein mordsmäßiges Glück es ist, wenn man mit 83 nie mehr Hunger hat, ein Dach über dem Kopf, einen Wasserhahn, aus dem ständig sauberes Trinkwasser kommt, und wenn man weiß, dass man nicht im Straßengraben sterben wird oder in einer Gaskammer.“ (S. 10f.) Es ist das Glück, das wir nicht erzwingen können, das hier benannt wird, das Glück, das man hat, das einem zufällt, das unberechenbare Glück der Fortuna. Zugleich spiegelt sich in diesen wenigen Zeilen aber auch die Fähigkeit eines Menschen wider, der das Glück im Sinne von günstigen Fügungen herbeizurufen und mit ihnen umzugehen versteht, der von jenem „guten Geist“ innerlich so ausgefüllt ist, dass er sich von äußeren Glücksfällen relativ unabhängig machen und selbst bei deren Ausbleiben „dennoch im Innersten ,eudaimon‘, glücklich“ [1] sein kann.
Vielleicht liegt eine der Quellen für diese Fähigkeit, die Otto Tausig auszeichnet, in seiner Kindheit. Er wird 1922 als Sohn eines Juristen aus Temesvár in Wien geboren. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie muss sich sein Vater, versehrt aus dem Krieg zurückgekehrt, nach einer neuen Existenz umsehen und versucht sich – eher erfolglos – als Geschäftsmann. Otto ist der Mittelpunkt der Familie und früh vom Theater fasziniert. Mit vier ist er zum allerersten Mal im Theater und sieht Josephine Baker tanzen. Sie holt das Kind im Matrosenanzug auf die Bühne, das ganz verdutzt zu weinen beginnt. „Die Leute lachten“, heißt es in der Autobiographie, „Es war grauenhaft. Und doch konnte es mich nicht auf Dauer hindern, zur Bühne gehen zu wollen.“ (S. 16) Wie viele seiner Generation lernt Tausig in der Schule die klassische Literatur, Shakespeare, Goethe und Schiller, kennen. Ein faszinierender Deutschprofessor (mit dem schönen Namen Kurzweil) eröffnet ihm die Welt der Literatur. Er liest und liest und liest: Cervantes, Kleist und Dostojevski, Rilke und Axel Munthe, Knut Hamsun und Edgar Wallace. Nestroy aber wird nicht nur gelesen, sondern auch aufgeführt. Mit elf Jahren spielt Otto Tausig die Hauptrolle in Nestroys Posse Hinüber-Herüber, ein Jahr später inszeniert er den Lumpazivagabundus – und übernimmt auch gleich die Rolle des Knieriem dazu. Mit 13 Jahren geht er in zu großen Lederhosen und mit dem Wahnsinnsmonolog des König Lear in petto zur Aufnahmeprüfung in eine Schauspielschule in der Inneren Stadt. Er disponiert kurzfristig um, unterhält die Kommission mit einer heiteren Geschichte und wird, weil noch zu jung, nach Hause geschickt. Dennoch: die Weichen sind für Otto Tausig gestellt: „Sollte es auch noch Jahre dauern, der Weg war klar: Ich werde Schauspieler.“ (S. 22) Und es sollte noch Jahre dauern, bis sich dieser Wunsch realisieren ließ.
Mit dem Einmarsch Hitlers ist die unbeschwerte Zeit zu Ende. Es nützt nichts, sich in einen Elfenbeinturm der Literatur und Musik zurückzuziehen, die Tage mit Rilke und Rachmaninow zu verbringen. Die politische Wirklichkeit greift brutal in das Leben der einzelnen ein. Tausigs Vater wird inhaftiert, die Wohnung arisiert, die tatkräftige Mutter schafft es, ihren einzigen Sohn in einem Kindertransport nach England zu schicken. Die Eltern ergattern zwei Tickets für die Überfahrt nach Shanghai. Otto Tausig sollte seinen Vater nie mehr wieder sehen. Aladar Tausig hat die Strapazen der Flucht nicht überlebt und ist in der chinesischen Hafenstadt an Schwindsucht gestorben. In England erhält Tausig ein Stipendium für Nationalökonomie, wird aber wegen der drohenden Invasion Hitlers wie alle deutschsprachigen Emigranten interniert und kommt auf der Isle of Man mit dem Marxismus in Berührung. Er schließt sich den Kommunisten an, weil sie den aktivsten Widerstand gegen die Nationalsozialisten betrieben und konsequent für eine unabhängige österreichische Republik eintraten. In London tritt er in Kontakt mit dem „Austrian Centre“. Er verdient sich sein Geld mit Fabriksarbeit als Schlosser, Dreher und Schweißer – und er spielt in der Theatergruppe des Centres Raimund und Nestroy für seine Mitemigranten, um an die Heimat zu erinnern. Vor allem aber werden die Stücke Jura Soyfers zu einem Überlebensmittel.
Otto Tausig kehrt als verheirateter Mann nach Kriegsende nach Wien zurück, holt die lang aufgeschobene Aufnahmsprüfung im Reinhardt-Seminar nach und unterschreibt am 1. Mai 1948 seinen Vertrag am „Neuen Theater in der Scala“, das mit seinem Eröffnungsstück, der politischen Posse Höllenangst, mit Karl Paryla in der Hauptrolle neue Maßstäbe in der Nestroy-Interpretation setzen sollte. [2] Die Anfangsjahre des Theaters sind von großen Schwierigkeiten gekennzeichnet. Für die Presse ist oft weniger die künstlerische als die politische Ausrichtung ausschlaggebend. Tausig engagiert sich als Schauspieler, als Regisseur, Dramaturg, Betriebsrat und Stellvertreter des Direktors. Auf einer Tournee durch Ostdeutschland lernt er Bert Brecht und dessen Theaterkonzept kennen. Mit der Rolle des Fortunatus Wurzel in Raimunds Der Bauer als Millionär gelingt Tausig in Wien der Aufstieg in die Reihe der Hauptdarsteller. Nach acht Jahren wird das Theater in der Scala durch die KP aufgelöst und abgerissen. Die Zeit der zweiten Emigration beginnt. Otto Tausig, mittlerweile mit der Schauspielerin Lilly Schmuck verheiratet, geht zur Berliner Volksbühne, dann über Münster nach Zürich. Die Rückkehr nach Wien im Schatten des Kalten Krieges missglückt. Es folgen Inszenierungen in Wiesbaden, Frankfurt/Main, Berlin West, Hamburg, Köln, München, Zürich und Basel sowie Fernsehverfilmungen. In Wien bietet dem gefeierten Schauspieler nur das Theater der Jugend Auftrittsmöglichkeiten, bis endlich im Jahre 1970 durch Gerhard Klingenberg das Engagement ans Burgtheater gelingt. Die Antrittsrolle im Haus am Ring ist der Herr von Ledig in Nestroys Unverhofft.
Mit der Verleihung der Johann-Nestroy-Ehrenmedaille an Otto Tausig würdigt die Internationale Nestroy-Gesellschaft nicht nur einen herausragenden Schauspieler, Nestroy-Interpreten und Regisseur, sondern auch einen Vertreter jener Vertriebenen, die Nestroy „im Gepäck oder im Kopf“, um mit Horst Jarka zu sprechen, ins Exil mitgenommen hatten, „nach England, Schweden, in die Schweiz, über den Atlantik.“ [3] Ihnen ist es zu verdanken, dass Nestroy nach dem Krieg von deutscher Volkstümelei und lustiger Oberflächlichkeit befreit als ernstzunehmender Satiriker rezipiert wurde, der in seinen Stücken mit scharfem Blick gesellschaftliche Mechanismen und soziale Ungerechtigkeiten freilegt. Und es ist daran zu erinnern, dass die Frau an Otto Tausigs Seite über viele Jahre, Lilly Schmuck, in die Riege der außerordentlichen Nestroy-Schauspielerinnen gehört – als Salome Pockerl im Talisman und als Christopherl im Jux.
Otto Tausig blieb auch als Burgschauspieler ein gesellschaftskritischer Beobachter der Zeitläufte, ein wacher Bürger und Aktivist. Er, der immer mit dem Theater die Welt verändert wollte, gründete eine amnesty-Gruppe, setzte sich für iranische Schauspieler und Regisseure ein, engagierte sich in der Friedensbewegung und pflegte Kontakte zu tschechischen Dissidenten wie Václav Havel und Pavel Kohout, die in der Ära Achim Benning ans Burgtheater eingeladen wurden. Dreharbeiten in Indien veränderten sein Leben aber radikal. Er nahm Abschied von der Theaterbühne, unter anderem als Schnoferl in Nestroys Mädl aus der Vorstadt, in jener Rolle also, die ihn seinerzeit ans Burgtheater gebracht hatte. Seit fast zwanzig Jahren widmet sich Otto Tausig mit ganzer Kraft einer neuen Lebensaufgabe – der Unterstützung humanitärer Projekte in Indien, Südamerika und Afrika, Projekte, die vom Entwicklungshilfe-Klub betreut werden und Menschen helfen, sich selbst aus der Not zu befreien. Darüber hinaus liegt ihm, dem ehemaligen Flüchtlingskind, ein Flüchtlingsheim im niederösterreichischen Hirtenberg besonders am Herzen, wo 50 Flüchtlingskinder, die unbegleitet aus Afghanistan und Tschetschenien, aus Indien und Weißrussland, aus Ruanda und Bangladesh zu uns kommen, ein Zuhause finden.
In Johann Nestroys Notizensammlung Moustache heißt es: „Verdoppeln läßt sich das Glück nur wenn man es theilt.“ [4] Dieses Diktum Nestroys könnte über Otto Tausigs künstlerischem und humanitärem Lebenswerk stehen. Sehr verehrter, lieber Herr Tausig, in diesem Sinne weiterhin viel Glück!
1 Bien, Glück – was ist das? (1999), 2. Aufl., Frankfurt/M.: Knecht 2000, S. 105.
2 Vgl. Schweinhardt, Peter: Nestroy und die Remigranten. Die musikalische Höllenangst- Fassung des Neuen Theaters in der Scala (Wien, 1948). In: Nestroyana 23 (2003), H. 3/4, S. 160-178.
3 Jarka, Horst: Nestroy im Exil. In: Nestroyana 21 (2001), H. 1-2, S. 42-71.
4 Nestroy, Johann: Reserve und andere Notizen. Hrsg. v. W. Edgar Yates. 2., verbesserte Auflage. Wien: Lehner 2003 (= Quodlibet 2), S. 107.