Nestroy-Spiele 2012: Deftiges und Delikatessen

 

 

Von Pioniertaten zum Profibetrieb: Sommertheater als Erfolgsgeschichte? Das Sommertheater in Niederösterreich ist zum Wirtschaftsfaktor avanciert und steht vor gravierenden Veränderungen.

Sommer 1973. Ein Regisseur startet ein Pilotprojekt. Mit einer Truppe, die im Wesentlichen aus ortsansässigen Laienspielern besteht, wuchtet der Wiener Peter Gruber zwei Nestroy-Einakter mit nachgerade programmatischen Titeln auf die Freilichtbühne von Schloss Rothmühle: „Frühere Verhältnisse“ und „Zeitvertreib“. Der Erfolg bei Kritik und Publikum ist überwältigend. Die rührige Amateurgruppe macht in wechselnder Formation weiter, Jahr für Jahr, bis heute.

Die Schwechater Nestroyspiele stehen gewissermaßen am Beginn der Ära des niederösterreichischen Sommertheaters. Seit damals hat sich das regionale sommerliche Bühnenspiel, das österreichweit nach wie vor eine Sonderstellung genießt und aktuell vor gravierenden Veränderungen steht, zu einem beachtlichen Wirtschafts- und Tourismusfaktor entwickelt. Ein Ausflug zu den saisonalen Bühnen von Österreichs größtem Bundesland.

Wirtschaftsfaktor Kultur

Sommertheater lässt sich als Phänomen entgegengesetzter Pole beschreiben: einerseits als Gipfeltreffen von Branchenstars und Hochkultur-Adabeis – siehe Salzburg und Bayreuth. Andererseits als biederes Bühnenspiel mit Schenkelklopfhumor, das vor pittoresker Kulisse – Burg, Schloss, See – als Zugabe zur eigentlichen Sommererholung dargeboten wird.

Diese traditionell klare Trennung scheint inzwischen, zumindest in Niederösterreich, ziemlich aufgeweicht, wohl auch deshalb, weil Land und Gemeinden die Bühnenaktivitäten mit hohen Summen fördern.

Es sind Zahlen, die durchaus beeindrucken. Kein anderes Bundesland unterhält in der Sommersaison dermaßen viele dezentrale Spielstätten, die von insgesamt rund 500.000 Besuchern aufgesucht werden. Heuer werden 23 Spielorte des sogenannten Theaterfests Niederösterreich von der Landesregierung mit satten 2,5 Millionen Euro subventioniert; die Festspiele Reichenau erhalten 440.000 Euro, das Musikfestival in Grafenegg ist mit 2,8 Millionen Euro dotiert. Laut einer aktuellen Studie der Donau-Universität geben allein Niederösterreichs Kulturtouristen an die 100 Millionen Euro aus; knapp 1400 Arbeitsplätze werden durch die Sommertheateraktivitäten abgesichert.

Unbestritten ist der Theatersommer zum wirtschaftlichen Stimulus avanciert. Die Bühnenaktivitäten in unmittelbarer Nachbarschaft zur Theatermetropole Wien werden jedoch, was Anspruch und Ästhetik betrifft, immer noch belächelt. Gehört da nicht längst etwas revidiert?

Je nach Region wird Sommertheater unterschiedlich interpretiert: Schwechat und Perchtoldsdorf sind Spielorte, die sich durch ihre unmittelbarer Nähe zur Theatermetropole Wien definieren. In Litschau findet eine entschlossene Truppe in der nördlichsten Stadt des Waldviertels zu eigener Bühnensprache. Und das kommerziell wohl erfolgreichste Sommertheatermodell findet sind im Kurort Reichenau.

Die Pioniere in Schwechat

„Eigentlich ist es ein Wunder, dass es uns noch gibt“, sagt Peter Gruber, Langzeitleiter der Schwechater Nestroyspiele. Die „Wiener Zeitung“ traf den Regisseur wenige Tage vor der Premiere von „Einen Jux will er sich machen“ – mit Nestroys beliebtem Lustspiel kehren die Theatermacher gleichsam an ihre Wurzeln zurück. Vergangen die Zeit, als das Spiel noch spontan entstand. „Der Druck ist enorm“, so Gruber sorgenvoll, „der Anspruch gestiegen, die Konkurrenz gewachsen.“

In Schwechat ist am Premierenabend von der Hektik der vergangenen Tage indes nichts mehr zu spüren. Schloss Rothmühle ist festlich beleuchtet, an der Abendkassa händigt eine bestens gelaunte Schauspielerin mit Rothaarperücke Karten aus. Die Besucher sind leger gewandet, man winkt sich zu, flaniert auf Kieselsteinwegen, unterhält sich. Schlag 20.30 Uhr beginnt die Aufführung. Auf der Bühne türmen sich leere Plastiksteige: schlichtes, funktionales Bühnenbild. Einmal nur möchte der biedere Handelsangestellte Weinberl – wie es im Stück sehnsuchtsvoll heißt – „ein verfluchter Kerl“ sein. Für einen Tag und eine Nacht lang lässt er die Routine der ländlichen Gemischtwarenhandlung weit hinter sich – und verstrickt sich mit seinem Lehrbuben Christopherl in so amüsante wie amouröse Abenteuer in der großen Stadt.

Der schlaksige Franz Steiner, im Zivilberuf Lehrer in Schwechat und der Laienbühne seit Jahrzehnten verbunden, verkörpert den Unglücksraben Weinberl mit Grandezza. An seiner Seite glänzt die erst 15-jährige Melina Rössler in einer Hosenrolle als ungezogener Lehrbursch. Steiner und Rössler sind gut aufeinander eingespielt, dem Vergleich mit Profiakteuren halten sie tapfer stand.

Überhaupt versteht es Regisseur Gruber, die Stärken seiner Laiendarsteller herauszustreichen und so unprätentiöses, kurzweiliges Spiel auf die Bühne zu bringen.

Gruber arbeitet gern mit seiner verschworenen Truppe, er schätzt die Arbeit mit dem Freizeittheaterpersonal. „Wir nähern uns Nestroy meist unbefangener, was gerade bei diesem Autor von Vorteil ist!“

Nestroy-Hochburg

Die Schwechater Spieler haben sich bereits den Nimbus einer Art Nestroy-Hochburg erworben: In 40 Jahren wurden 37 verschiedene Stücke gezeigt, häufig Raritäten wie „Die Papiere des Teufels“ und „Robert der Teufel“. Zudem finden regelmäßig Nestroy-Gespräche und Vorträge internationaler Nestroy-Forscher statt. Nicht nur aufgrund der ausschließlichen und intensiven Beschäftigung mit dem Klassiker haben sich die Schwechater Spieler ein unverwechselbares Profil erarbeitet. „Ein wenig Romantik ist auch dabei“, versucht Gruber die schiere Dauer seines Engagements in Schwechat zu ergründen. „Man spürt hier noch so etwas wie ein Urgefühl von Theater.“

Den Konkurrenzdruck durch andere Bühnen bekommt auch Gruber zu spüren. Die zunehmende Professionalisierung des Genres Sommertheaters ist nicht erst seit kurzem bemerkbar, bei Technik, Gastronomie und Marketing tut sich ebenfalls einiges. Bei den Besetzungen ortet Peter Gruber einen Trend zu prominentem, Seitenblicke-tauglichem Personal sowie eine Tendenz hin zu „gigantomanischen Events“. Bei diesem Wettlauf, merkt Gruber abschließend an, könne und wolle er nicht mitmachen: „Unsere Zukunft steht in den Sternen. Ich habe heute noch keine Ahnung, wer nächstes Jahr überhaupt mit dabei sein wird. Wir erfinden uns jedes Jahr neu.“

Eine Neuerfindung prägte auch den Beginn der Festspiele Reichenau. Anfang Juli 1988 belebten Renate und Peter Loidolt das verwaiste Kurtheater in Reichenau mit einem Karl-Farkas-Abend, dargebracht von den Burgschauspielern. 24 Jahre später gehört Reichenau mit regelmäßig ausverkauften Aufführungen zu den bewährten Theatermodellen des niederösterreichischen Sommers.

Das Erfolgsgeheimnis: Das Intendantenpaar nützt, wenn man so will, den Genius Loci – zur Jahrhundertwende logierten im Kurort Literaturgrößen wie Arthur Schnitzler, Franz Werfel und Robert Musil –, in Reichenau wird die Literatur des Fin de Siècle ins Zentrum gerückt. Die Besetzungslisten lesen sich wie ein Who’s who der Theaterstadt Wien, selbst Nebenrollen sind prominent besetzt, zu den saisonalen Stammgästen zählen Regina Fritsch, Petra Morzé, Maria Happel oder Michael Dangl.

Generationenablöse

Von der Nähe zur Bundeshauptstadt profitieren freilich auch die Sommerspiele in Perchtoldsdorf. Intendantin Barbara Bißmeier konnte in diesem Jahr für die „Macbeth“-Titelrolle Burgschauspieler Dietmar König gewinnen, Lady Macbeth wird von Burg-Aktrice Alexandra Henkel verkörpert, die auch privat mit König verheiratet ist.

Solch eine Idealbesetzung ist für Bißmeier „das Allerwichtigste“, gleichsam die Grundvoraussetzung eines gelungenen Theaterabends. Für jede neue Produktion ein erlesenes Ensemble zusammenzustellen, gehört mithin zu den herausragenden Stärken dieser Theaterexpertin, die hierfür auf beste Kontakte in der Branche zurückgreifen kann.

Seit 2002 ist Bißmeier den Sommerfestspielen künstlerisch verbunden, seit 2010 hat sie die Intendanz inne. „Ich stehe für qualitätsvolles Schauspielertheater“, umreißt sie den programmatischen Ansatz.

In den vergangenen Jahren hat an etlichen niederösterreichischen Sommer-Spielorten eine Generationenablöse stattgefunden, in vielen Bereichen sind nun Profis in Sachen zeitgemäßes Unterhaltungstheater am Werk: Die Wiener Regisseurin Vicki Schubert inszeniert die Shakespeare-Paraphrase „Die Zähmung des Widerspenstigen“ im Filmhof Wein4tel in Asparn-Zaya, in Amstetten bürgt das Erfolgsduo Regisseur Werner Sobotka und Choreograf Ramesh Nair beim Musical „Der kleine Horrorladen“ für gekonnt-solides Humor-Entertainment. Andy Hallwaxx und Christoph Campestrini setzen wiederum Donizettis Belcanto-Komödie „Don Pasquale“ in Klosterneuburg als Lachnummer in Szene.

Verjüngungskur

Auch bei den Intendanten gab es eine Verjüngungskur: 2009 übergab Felix Dvorak das Chefzimmer im Stadttheater Berndorf an Michael Niavarani. Unter der Ägide des Wiener Kabarettisten wird in der ehemaligen Hochburg gusseiserner Komik in diesem Jahr die Bühnenadaption des Till-Schweiger-Filmklamauks „Keinohrhasen“ mit Angelika Niedetzky und Reinhard Nowak gezeigt. Der Schauspieler Gregor Bloéb leitet seit kurzem die Sommerbühne in Haag. Es gibt Anzeichen dafür, dass Elfriede Ott, seit 30 Jahren Intendantin der von ihr gegründeten Nestroy-Festspiele in Maria Enzersdorf, nach dem Jubiläum ihre Regentschaft abgeben könnte. Schließlich neigt sich in dieser Spielzeit auch Alfons Haiders Stockerauer Musical-Ära mit dem Broadway-Hit „A Chorus Line“ ihrem Ende entgegen.

Die Nachfolge in Stockerau übernimmt mit Zeno Stanek, Jahrgang 1971, ein Mann, der für den Wechsel von Musik- zum Sprechtheater steht. Geplant ist, die Saison 2013 mit Dürrenmatts Tragödie „Der Besuch der alten Dame“ zu eröffnen. Stanek ist ein Experte seines Metiers, seit fast 20 Jahre sammelt er Erfahrung in Sachen Sommertheater. 1993 gründete der damalige Max-Reinhardt-Student mit Studienkollegen die freie Gruppe „Theater Brauhaus“ in der Nähe von Litschau, nördliches Waldviertel.

Erstes Theatererlebnis

„Wir haben in einem Matratzenlager gewohnt, auf einer Wiese geprobt, nächtelang diskutiert und alles ohne Geld auf die Beine gestellt“, erinnert sich Stanek im Gespräch mit der „Wiener Zeitung“. Ziel der studentischen Anstrengung war freilich nicht die seichte Komödie, eher qualitätsvolles Off-Theater; mit Woody Allens „Mitsommernachtssexkomödie“, gespielt vor einem eigens gepflanzten Maisfeld, gelang 2006 der Durchbruch. 2009 bezog die Truppe ein neu errichtetes Theaterhaus am Herrensee in Litschau. „Viele unserer Besucher haben da überhaupt zum ersten Mal einen Theaterabend erlebt“, so Stanek.

Bei der diesjährigen Produktion treten 20 Komparsen und Kleindarsteller aus der Umgebung auf, am Spielplan stehen „Die letzten Tage der Menschlichkeit“. Intendant Stanek und Musiker Christian Qualtinger haben Karl Kraus’ Mammutwerk ins Hier und Jetzt übertragen; Karl Ferdinand Kratzl führt als eine Art Conférencier durch den Abend. „Wir waren und sind keine Theaterkommune. Dennoch lernt man sich sehr gut kennen, wenn man einen Sommer lang zusammenarbeitet“, resümiert der Sommertheatermacher: „Diese Intensität überträgt sich wohl auch auf das Publikum.“

Die Intendanz der Litschauer-Bühne ist aktuell ausgeschrieben, via „Theater Brauhaus“ und dem alljährlichen Schrammelklang-Festival wird Stanek dem kulturellen Geschehen in Litschau weiterhin verbunden bleiben.

Am Ende einer langen Reise durch das Tiefland der Sommerspiele lässt sich festhalten: Viele Veranstalter setzen bei der Programmierung des sommerlichen Theaters nach wie vor auf Bewährtes und Bekanntes: Nestroy, Kleist, Shakespeare. Burgtheater-Qualität ist selten zu erwarten, Bühnenexperimente sind, wenn überhaupt, in homöopathischen Dosen zu finden und Uraufführungen so selten wie Schnee zu Weihnachten (Ausnahme 2012: „Die Päpstin“ mit Katharina Stemberger). Dennoch: Die Zeiten, als das Spiel wegen Qualitätsmangels außer Konkurrenz stattfand, sind endgültig vorbei. In vielen Bereichen ist ein Generationswechsel zu beobachten, antiquierter Löwingerbühnen-Charme und krachender Brüllhumor ist zeitgemäßem Entertainment light gewichen. Theater in warmer Jahreszeit à la Niederösterreich hält für jeden Geschmack etwas bereit, mutet an wie ein gut sortierter Gemischtwarenladen. Viel Regionalkost, angereichert mit internationaler Küche. Vorhang auf für Delikatessen und Deftiges. (Petra Rathmanner, Wiener Zeitung)