Nestroy-Spiele 2007: Materialien

Das Geheimnis des grauen Hauses
Theaterzettel zu einer Aufführung im Theater an der Wien am 19. März 1838 (Wiener Stadt- und Landesbibliothek)

Das Stück

Die Premiere fand knapp vier Tage nach einem der sensationellsten aller Wiener Theaterabende statt. Am 6. März 1838 war Grillparzers Weh dem, der lügt! über die Bühne des Burgtheaters gegangen, und im kritischen Sturm, den diese Aufführung auslöste, ging es nicht zuletzt um die Tatsche, dass auf dem Theaterzettel die Bezeichnung „Lustspiel“ gestanden hatte. Als am 10. März auch Nestroys neues Stück im Theater an der Wien als „Lustspiel“ aufgeführt wurde, wurde die Bezeichnung ebenfalls von mehreren Rezensenten abgelehnt. In den von Otto Rommel 1924–1930 herausgegebenen Sämtlichen Werken ist es unter die so genannten „Volksstücke“ eingereiht. Sowohl im Erstdruck als auch in den erhaltenen Theatermanuskripten ist es aber als „Posse“ bezeichnet, und in diesem Sinne wurde es auch vom Publikum der dreißiger Jahre aufgefasst und, wie es in einer zeitgenössischen Rezension heißt, „mit Furore und Enthusiasmus aufgenommen“.

Schon in thematischer Hinsicht gehört Nestroys Bearbeitung des einem französischen Roman entlehnten Stoffs unverkennbar zu seinen Possen. Die Zentralfigur, Blasius Rohr, ist ein armer Schreiber, dessen reicher Onkel, Herr Eisenkorn, ihm eine Fabrik schenkt und verspricht, wiederzukommen, um ihn „an der Spitze eines florirenden Geschäftes als tüchtigen, soliden Mann“ zu erblicken. Diese Prüfung kann Blasius, dessen Name schon darauf hindeutet, dass er charakterlich wie ein schwankendes Rohr im Wind ist, nicht bestehen. Verleitet durch seine Kontakte mit reichen Jugendfreunden, verlässt er seine unbemittelte Geliebte, kauft sich ein Schloss, heiratet die Tochter des habgierigen Herrn von Klippenbach und verliert schließlich sein ganzes Vermögen.

Skizzen aus J. Nestroys Lustspiel: Glück, Mißbauch und Rückkehr. 17 Szenenbilder, darunter 12 mit Nestroy als Rohr. Lithographie von Friedrich Kaiser, 1838

Die Einrichtung der Gasbeleuchtung, die ihm von dem am Anfang des vierten Akts als „erster Chemiker unsers Jahrhunderts“ gelobten Klippenbach aufgezwungen wird, stellt sich als Fiasko heraus – hier drückt sich wohl die Skepsis des Satirikers gegenüber dem viel gepriesenen Fortschritt der angewandten Wissenschaft aus – und führt ihn zurück in die Armut und zu einer satirisch karikierten Melancholie Wertherscher Prägung. Wie schon im frühen Zauberspiel Dreißig Jahre aus dem Leben eines Lumpen geht es hier zum Teil um die Folgen der Erziehung: Eisenkorn ist stolz darauf, dass er mit „eiserner“ Konsequenz seinen Neffen „in der Schule der Dürftigkeit“ hat aufwachsen lassen, um dessen Charakter zu bilden. Seine Tochter hat er andererseits fern vom Stadtleben erziehen lassen und zur Frau von Blasius Rohr bestimmt. Es versteht sich von selbst, dass auch dieses Vorhaben scheitert, erst in den letzten Szenen aber wird seine wahre Identität, alter Lustspieltradition gemäß, von Blasius erkannt: „Also der Friederike ihr Vater und mein Onkel wären am Ende eine und dieselbe Person!“

In der Ausarbeitung dieses Materials ist das Stück den großen Possen der vierziger Jahre nahe verwandt. Wie Titus Feuerfuchs in Der Talisman ist Blasius Rohr durch das Glück seines plötzlichen sozialen Aufstieges verblendet, kehrt aber am Ende desillusioniert zum soliden Wert seiner einfachen Geliebten zurück; wie Lips in Der Zerrissene findet er sich als Reicher von Schmarotzern ausgenutzt und betrogen.

Angesichts solcher Gemeinsamkeiten ist es möglich, Glück, Missbrauch und Rückkehr oder Das Geheimnis des grauen Hauses als ein Schlüsselstück in der Entwicklung von Nestroys dramatischer Kunst zu betrachten. Seit der durchaus positiven Aufnahme von Zu ebener Erde und erster Stock 1835 lag es auf der Hand, dass er die Zauberposse endgültig zugunsten der Lokalposse aufgeben konnte, was 1836 insbesondere der Erfolg von Die beiden Nachtwandler bestätigt hatte.

Szenenbild mit Henrich Strampfer als Herr von Sonnenstern und Johann Nestroy als Blasius Rohr: Aquarell von Johann Christian Schoeller, 1841

Nachdem er Anfang 1837 zumindest den ersten Schritt zur sozialkritischen Satire getan hatte, indem er die ganze Handlung von Eine Wohnung ist zu vermiethen spezifisch und konsequent in der Hauptstadt und deren Umgebung lokalisiert hatte und dann, gleichsam ins andere Extrem fallend, mit dem Haus der Temperamente einen unwiederholbaren Sprung ins virtuos Spielerische gewagt hatte, hat er schließlich mit Glück, Mißbrauch und Rückkehr oder Das Geheimnis des grauen Hauses den Weg zu einem komischen Schema eingeschlagen, das für sein weiteres Schaffen ein geglücktes Modell darstellte. Eine besondere Attraktion bei der Premiere war das Auftreten des beliebten Schauspieler-„Kleeblatts“ Nestroy (als Blasius), Wenzel Scholz (als der Diener Rochus) und Karl Carl (der in letzter Minute die Rolle des Eisenkorn übernahm).

Die Posse wurde mit Recht zu einem der meistgespielten Werke Nestroys, nicht nur in Wien, sondern auch bei Nestroys Gastspielen in anderen Städten, z. B. im Jahre 1841 in Hamburg und drei Jahre später in Prag.

Figurentableau zu Glück, Mißbrauch und Rückkehr oder Das Geheimnis des grauen Hauses. Johann Matthias Ranftl. Aquarell bzw. aquarellierte Tuschpinsel- und aquarellierte Bleistiftzeichnung. Johann Nestroy als Blasius Rohr, in der Verkleidung als Herr von Felsenstein

Rezensionen

Rezension in Bäuerles Theaterzeitung, 12.März 1838

K.K.priv.Theater an der Wien. Vorgestern, den 10. März, zum ersten Male, zum Benefiz der Dem. Marie Weiler: „Glück, Mißbrauch und Rückkehr, oder das Geheimniß des grauen Hauses“, Lustspiel mit Gesang in fünf Acten von Joh. Nestroy. Musik von Adolf Müller.

Endlich ein Mal ein Stück im Volks-Genre von entschiedenem Werthe; endlich ein locales Lustspiel, das die ganze, in letzter Zeit so mißhandelte Gattung, wieder zu Ehren bringt. Die Theaterzeitung hat neulich Hrn. Nestroy aufgefordert, sich der verwaisten Volksbühne anzunehmen. Er hat es gethan, und siehe, dieses äußerst witzige, amüsante, und in jeder Szene gelungene Stück ist entstanden. Hier ist ein Mal Handlung, hier sind Situationen, hier sind nicht nur vortreffliche Rollen, sondern gehaltene Charaktere, und ein Dialog so voll Humor, Geist und Satyre, so voll pikanter, treffender und zeitgemäßer Anspielungen, daß der Zuschauer nur bedauert, keine Schreibtafel vor sich zu haben, um die schlagenden, zündenden, blitzenden Einfälle alle niederschreiben zu können… Der Beifall war stürmisch. Nestroy wurde gewiß 15 Mal gerufen.

Rezension im Wanderer, 12. März 1838

Nestroy hat bewiesen, daß er, wenn er will, unsere Localdichter dutzendweise aus dem Felde schlagen kann. Mehr denn irgend eines seiner bessern Producte, ist dieses Stück mit komischen Situationen und übersprudelndem, schlagenden Witz ausgestattet, und, was wirklich eine cosa rara ist, wir finden darin eine interessante, durch fünf Acte spannende und fesselnde Handlung mit bühnengewandter Hand durchgeführt, so daß am Schlusse die Wendung zum allgemeinen Gunsten mehr als (ein) gewöhnlicher Theatercoup erscheint. Wie in fast allen seinen Stücken offenbart der Verfasser eine seltene Kenntniß des wirklichen Lebens und bringt viel derbe, darum aber nicht minder wahre Ansichten in humoristisch-launigem Gewande. Seinen Personen fehlt es nicht an Wahrheit, und daher erklärt sich auch die große Wirksamkeit derselben auf den Zuschauer.

Rezension im Humorist, 14.März 1838

Kurz, dieses neue Erzeugniß der Nestroy’schen Volksmuse ist ein wahrer Frühlingsgenuß nach den langen, kalten, finstern, zähneklappernden Lokaltheater-Winter-Nächten, und wird gewiß lange, lange das Publikum recht von Herzen belustigen und in der tiefsten Seele ergötzen.

Nestroy als Rohr mit Hut in der Linken. Photographie von Hermann Klee, 1861

Nestroy umstrittenes Lustspiel

Glück, Mißbrauch und Rückkehr oder Das Geheimnis des grauen Hauses gehört zu Nestroys großen Erfolgen. Er ist 109mal in Wien und zumindest 24mal auf seinen Gastpielreisen in der Rolle des Blasius Rohr aufgetreten. Das Urteil der Kritiker war allerdings von Anfang an gemischt. 1838 war das unter anderem darauf zurückzuführen, daß das Stück bei der Uraufführung als „Lustspiel“ angekündigt wurde, was die Pedanterie der Kritiker anreizte.

Einige der ersten Rezensenten lobten uneingeschränkt den Witz und die Lebensnähe von Nestroys Text, so etwa am 12. März in Bäuerles Theaterzeitung („dieses äußerst witzige, amüsante, und in jeder Szene gelungene Stück“) sowie im Wanderer.

Mehr denn irgend eines seiner bessern Producte, ist dieses Stück mit komischen Situationen und übersprudelndem, schlagenden Witz ausgestattet, und, was wirklich eine cosa rara ist, wir finden darin eine interessante, durch fünf Acte spannende und fesselnde Handlung mit bühnengewandter Hand durchgeführt, so daß am Schlusse die Wendung zum allgemeinen Gunsten mehr als gewöhnlicher Theatercoup erscheint. Wie in fast allen seinen Stücken offenbart der Verfasser eine seltene Kenntniß des wirklichen Lebens und bringt viele derbe, darum aber nicht minder wahre Ansichten in humoristisch-launigem Gewande. Seinen Personen fehlt es nicht an Wahrheit, und daher erklärt sich auch die große Wirksamkeit derselben auf den Zuschauer. Nestroy bringt nur, was er der Wirklichkeit abgelauscht hat; möge er darin allen Localdichtern zum Vorbilde dienen!

Einige kritische Bedenken sind aber wiederholt zum Ausdruck gekommen. Beispielsweise stieß Nestroys Verwendung einer französischen Vorlage auf Kritik, etwa in einem Bericht von Wilhelm Schlesinger, der am 14. März 1838 in Saphirs Zeitschrift Der Humorist erschien:

Ich glaube mich nicht zu täuschen, daß das Ganze dem Romane Paul de Kock’s: „La maison blanche,“ nachgebildet ist, und daß auch die Hauptcharaktere daraus entlehnt seien. Es wäre wohl zu wünschen gewesen, wenn Hr. Nestroy aus reinerer Quelle seinen Stoff geschöpft hätte, als aus dieser, selbst bei den Franzosen nicht besonders im guten Geruche stehenden.

Für heutige Zuschauer ist diese Frage ohne Belang; sie ist im Zusammenhang mit der Forderung nach einem erbaulichen bodenständigen „Volksstück“ zu verstehen, die noch in den vierziger Jahren zu den Hauptthemen der Wiener Theaterkritik gehörte, und die sich auch in nostalgischen Vergleichen mit Raimund manifestierte:

Es [das Stück] ist gut arrangirt und lokalisirt, nur fehlt es an Charaktermotiven. Der Bruder Liederlich, der die Hauptperson spielt, ist ganz parodirt, er zeigt auch keine Spur einer moralischen Tendenz wie z.B. die Raimund’schen Figuren. […]. Immerhin war das Stück das Beste was seit längerer Zeit die lokale Poesie erzeugt hat. (Der Adler, 19. März 1838)

Auch Karl Gutzkow, dem Nestroys Hamburger Gastspiel im Juli 1841 Anlaß zu einem Verriß gab, berief sich in in seinem Telegraph für Deutschland auf Raimund:

Blasius Rohr im grauen Hause (vom Darsteller selbst verfaßt) war insofern unglücklich, als uns lange keine so abgeschmackte Zusammenstoppelung eines sogenannten Dramas vorgekommen ist. Einige Ansätze zum Raimundschen Humor machten dies Produkt nur um so widerlicher, als man den gewaltigen Abstand dieser Trivialitäten von Raimunds liebenswürdiger Muse desto greller empfinden mußte.

Der angebliche Mangel an „Charaktermotiven“ wurde in der Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode vom 17. März 1838 getadelt: Der Bediente Rochus habe „fast die einzige, durchgeführte Charakterzeichnung gewährt“; drei Jahre später meinte ein Hamburger Kritiker, das Stück enthalte „eigentlich“ nur zwei „Personen“, Blasius und Rochus:

Fast alle übrige darin Auftretende sind bloße Schattenbilder, die ohne jene beiden Triebfedern kaum als bewegbar, auf der Schaubühne also, wo Alles von innen heraus bedingtes Leben und Lebendigkeit seyn soll, als gänzlich wirkungslos erscheinen dürften. (Hamburger Nachrichten, 5. Juli 1841)

Gerade die Nestroy-Rolle – der „Bruder Liederlich“ Blasius Rohr – war aber umstritten. Erst der einsichtsvolle Prager Kritiker Bernhard Gutt hat 1844 die Geschlossenheit der Rolle erkannt:

Was Hr. Nestroy mit seinem Blasius Rohr uns bietet, ist ein ganzer auf- und absteigender Lebenslauf, mit brennenden, enkaustischen Farben entworfen, sehr entschieden in der Anlage, keck in den Uibergängen und doch von siegreicher Wahrheit. (Bohemia, 16. Juli 1844)

Nicht einmal in Prag war es aber den Kritikern klar, ob die „Wahrheit“ des Charakters der Rolle selbst innewohnte oder eher durch die Darstellung hervorgebracht wurde; so hatte etwa Anton Müller, Gutts Vorgänger als Theaterreferent der Bohemia, am 2. Juli 1840 geschrieben:

Blasius Rohr ist ein Ausbund vom mauvais sujet. Daß es Hrn. Nestroy dennoch gelang, sich mit dem von Scene zu Scene zunehmenden Gelächter rauschenden Beifall zu erwerben, ist ein Verdienst, welches seiner Darstellung zu größerem Theile angehört, als seiner Dichtung.

Schließlich waren sich die Kritiker über die Handlungsführung nicht einig. Der Rezesent des Wiener Telegraph stellte am 14. März 1838 fest, daß sich „die Haltung der beiden letzten Acte nicht in gleicher Lebendigkeit, als die der drei früheren“ bewege und daß „besonders Katastrophe und Schluß in dieser Hinsicht zu wünschen übrig lasse“. In Prag hingegen fand Müller die Aufführung im Juli 1841 in dieser Hinsicht nicht weniger überzeugend als der oben zitierte Kritiker des Wanderers: Nestroy motiviere „die Effekte des Schlußaktes durch das psychologisch richtige Spiel in den früheren Aufzügen“ (Bohemia, 6. Juni 1841).

Noch am 30. November 1855 brachte die Theaterzeitung einen Bericht über eine Neuinszenierung im Carltheater, in dem „von dem meisterlichen Bau des Stückes, den äußerst wirkungsvollen Actschlüssen, den höchst komischen Situationen und den vielen Witzfunken“ die Rede ist und das Stück als „eines der besten Erzeugnisse der dramatischen Muse Nestroys“ bezeichnet wird. 150 Jahre später hat das Publikum in Schwechat die Gelegenheit zu entscheiden, ob die diversen Vorwürfe über die Charakterzeichnung und den dramatischen Bau des Stücks, die zu Nestroys Lebzeiten erhoben wurden, gerechtfertigt waren, oder ob der anonyme Kritiker der Wiener Zeitschrift es richtig beurteilt hat: „Lustspiel oder nicht, das Stück ist gut, ja, es ist eines der besten des Hrn. Nestroy.“ (W. Edgar Yates)