Nestroy-Spiele 1997: Materialien

Mein Freund
Leopold Selinger, Christine Zimmermann

Das Stück

„Mein Freund“ ist ein eher diffiziles, fast episches Spätwerk, das in seiner Charakteristik zu den dunklen, schwermütigen Stücken Nestroys zählt und wohl auch deshalb äußerst selten gespielt wird.

Uraufgeführt wurde es am 4. April 1851, also rund zweieinhalb Jahre nach Niederschlagung der Revolution. Mit 36 Vorstellungen (davon 33 mit Nestroy und drei mit Treumann in der Rolle des Schlicht) kann man es zu den mittleren Erfolgen des Dichters rechnen.

Der alte Mann

Einige Monate zuvor hatte der nun fast 50-jährige sein psychologisch und politisch wohl brisantestes, sein leidenschaftlichstes Werk fertiggestellt: „Der alte Mann mit der jungen Frau“ – eine exakte und schmerzhafte Selbstanalyse der offenbar sehr heftigen midlife-crisis und zugleich eine scharfe Abrechnung mit den neuen, alten Machthabern der Restauration.

Radikal, offen und direkt wie selten zuvor schrieb sich Nestroy darin seinen Frust von der Seele, um schließlich – einziger nicht-ironisch gemeinter Stückschluss in all seinen Werken – ein resignatives, verbittertes Resumée zu ziehen: er empfiehlt sich selbst und allen Gleichgesinnten, dieses Europa zu verlassen.

Das Stück blieb in der Schublade. Verständlich: schien es ihm doch zu viel Privates zu verraten, und die damals besonders strenge Zensur hätte es seiner politischen Attacken wegen ohnehin nicht durchgelassen. Erst 1890, Jahrzehnte nach Nestroys Tod, wurde es veröffentlicht.

Weiterverwertung

Dieser Umstand erklärt, dass sich etliche Motive und szenische Strukturen, ja sogar einige Redewendungen aus „Der ate Mann“, um die es Nestroy einfach leid war, in „Mein Freund“, seiner nächsten ernsthaften Arbeit, wiederfinden.

So etwa das hochnotpeinliche Auf- und Abgehen der Rivalen Kern und Rehfeld, das nun von den Exfreunden Schlicht und Fint praktiziert wird; oder die fast lineare Weiterführung der Figur des alten Dieners Gabriel im alten Diener Schippl; oder das eiskalte Umgehen des eifersüchtigen alten Kern mit seiner jungen Frau Regine in der Szene zwischen Stein und Amalie.

Modifizierung

Dennoch unterscheiden sich die beiden Stücke stark voneinander. Nicht so sehr in der Grundstimmung – die ist in fast allen wichtigen Werken zwischen Ende 1848 und 1851 (so auch in „Lady und Schneider“ und in „Höllenangst“) eher düster und gedrückt –, aber in der Erzählweise.

Nestroy macht sich wieder weniger angreifbar, versteckt heikle Aussagen – ähnlich wie vor 1848 – zwischen den Zeilen, in Metaphern oder vermittelt sie durch beredtes Verschweigen.

Auch der aggressive Ton wird zurückgenommen. Er blitzt nur noch partiell auf, weicht einer etwas distanzierteren Betrachtung. „Mein Freund“ setzt dort fort, wo „Der alte Mann“ aufhört: in der Emigration. Nestroys Kern geht ins Ausland, Nestroys Schlicht ist bereits emigriert – nach innen.

Politik jedenfalls, das seit „Freiheit in Krähwinkel“ alles dominierende Thema, scheint endgültig ac acta gelegt („… ich verschluck’s, ’s kennt ja so jeder Mensch die Geschichte des Drucks“).

Nonverbale Kritik

Dennoch ist „Mein Freund“ alles andere als ein unpolitisches Stück. Die teils herrischen, teils geduckten Verhaltensweisen der Figuren, die verdeckte, indirekte, verblümte Art ihrer Kommunikation und die allgemein grassierende Realitätsflucht in belletristische Abenteuerromane oder selbst phantasierte Traumwelten verweisen deutlich auf die offenbar depimierenden sozialen Verältnisse und die Repression eines autoritären Systems, das mehr denn je gefestigt und unveränderbar erscheint.

Sieger und Verlierer

In fast jeder Szene spürt man die Hoffnungs- und Perspektivelosigkeit der unteren und mittleren Schichten, ihren verkaterten Zustand nach dem großen Freiheitsrausch und die neugestärkte Selbstherrlichkeit der Großbürger, die als einzige von der Revolution profitieren konnten. Froh ist, wer Arbeit hat, und die Dienstgeber wissen das auszunützen. Der Traum von einer demokratischen, liberalen Gesellschaft, in der alle gleiche Rechte und gleiche Chancen haben, ist ausgeträumt.

Auch für die beiden Freunde Schlicht und Fint. Ihre Aussichten auf Aufstieg und Wohlstand sind praktisch wieder auf Null gesunken. Doch sie reagieren auf diese triste Situation höchst unterschiedlich.

Schlicht und Fint

Der introvertierte, schüchterne Schlicht hat resigniert. Er findet sich mit dem ihm zugewiesenen Platz ab, passt sich an und versucht nicht aufzufallen. Im Stillen aber laboriert er weiterhin an Idealen, die er nun ins Private verlagert. Er flüchtet (wie viele andere auch) aus einer ihm unerträglichen Wirklichkeit in romanhafte Träumereien, baut sich seine eigene, geschönte Gegenwelt.

Fint ist weniger romantisch. Er will seine Träume verwirklicht sehen. All das, was die Revolution für Leute wie ihn zu bringen versprach und nicht bringen konnte, muss und will er sich jetzt auf anderem Wegeholen: als Einzelkämpfer – wenn’s sein muss, auch mit kriminellen Methoden. Warum sollte er irgendwelche Skrupel haben gegenüber „denen da oben“, diesen lächerlichen Zerrbildern, die ihn um seine Zukunft gebracht haben.

Gespaltenes Ich

Er wäre allerdings zu simpel, in Schlicht und Fint nur das zu sehen, worauf sie ihre Namen festzulegen scheinen. Dies hieße, Nestroy grob zu unterschätzen. Die Charaktere seiner Figuren kommen zwar meist im sterotypen Chargen-Gewand des Lustspiel-Klischees daher, entpuppten sich aber bald als weitaus diffiziler und ambivalenter.

Auch die beiden Freunde sind widersprüchlich, mehrschichtig. Sie entziehen sich einer plumpen moralischen Kategorisierung. Sie stehen – als Personifizierungen der extrem divergierenden Seiten des Autors selbst – für seine private und politische Zerrissenheit, für sein gespaltenes Ich.

Täter und Opfer

Auch im bösen Fint lässt sich, bei all seiner Glätte, wenn auch kaum im Gesagten selbst, so doch durch dementsprechende Interpretation, Menschliches entdecken. Er glänzt nur äußerlich,lebt vom Bluff und braucht den patscherten Kollegen, so wie dieser ihn, um sich zu profilieren. Er ist Täter, zweifellos – aber letztlich auch ein Versager, ein Spieler und Hochstapler, der immer mehr zum Getriebenen, zum Opfer seiner selbst wird.

Und im „braven – völlig zu braven“ Schlicht, der natürlich alles andere ist als schlicht, steckt sogar klar und erkennbar und nachweislich ein „ungelebter Fint“, ein Böser, ein Macher und Täter – den er allerdings nicht zulassen kann und der aus vielerlei Gründen erst gegen Ende des Stücks (und da nur für kurze Zeit) zum Vorschein kommt.

Glückskind und Pechvogel

Im Grunde beneidet Schlicht seinen Freund ja um dessen Sieger-Image. Er wäre gerne auch so locker, souverän, entschlossen und tatkräftig. Was könnte er nicht alles erreichen, wenn er nicht immer vom Pech verfolgt und von des Gedankens Blässe angekränkelt wäre! Ist er doch im Grunde mindestens ebenso klug und begabt wie Fint – und dabei auch noch viel seriöser und fleißiger.

Aber irgendwas steht ihm immer im Wege. Er selbst meint, es sei „Pech“, „Schicksal“ oder sein „Gewissen“, sein „Anstand“, seine „berechtigten Zweifel“, die ihn daran hindern, all das zu verwirklichen, was seine Phantasie sich eträumt. Mag sein. Aber sein merkwürdiges, fast zwanghaftes Verhalten im Verlauf des Stücks lässt den Verdacht aufkommen, dass es seine grundsätzliche psychische Struktur ist, die ihn stets so handeln (bzw. nicht handeln) lässt, dass er zum Opfer werden muss.

(Nach Alice Miller ist Schlichts masochistisches Verhalten die Folge einer schweren narzißtischen Störung, die sich auch darin äußert, dass er niemals Entscheidungen treffen kann, deren Folgen nicht sicher sind; oder darin, dass er sich selbst nur dann spürt, wenn er in eine Rolle schlüpft, ein anderer ist. Auf sich selbst zurückgeworfen, steckt er lebendig bgraben in einer Gruft von Gefühllosigkeit. Diese Schlichtsche Grundstruktur ist auch Nestroys Grundstruktur und in fast jeder seiner großen Theaterfiguren zu finden.)

Hass-Liebe

Solange die beiden Männer befreundet sind, in derselben tristen Arbeits- und Lebenssituation, kommen Schlichts Neid und Eifersucht nicht zum Tragen. Im Gegenteil: er bewundert Fint, begreift sich mit ihm als symbiotische Einheit. Er ist froh, dass wenigestens einer von ihnen Glück hat und identifiziert sich mit Fints scheinbarem Glanz und Erfolg.

Doch das ändert sich blitzartig, als ihn sein erfolgreiches alter ego verrät. Da bricht die lange verdrängte Aggression aus ihm heraus. Schlichts idolisierende Liebe schlägt in Hass um – ein Hass, den er freilich gleich wieder unterdrückt, weil er ihn sich nicht zugeben kann. Derartig niedere Instinke passen nicht zu dem idealen Bild, das er von sich hat. Nein, er muss und wird dem Freund weiter vertrauen, obwohl er sich von ihm betrogen und verraten fühlt. Er verlangt von Fint keine Aufklärung über den Vorfall. Er zieht sich enttäuscht und verletzt zurück. Er zahlt, schweigt und leidet.

(Hiebei muss man sich bewusst machen, dass dieser Verrat gar keiner ist. Das Fälschen des Wechsels richtet sich ja nicht gegen den Freund. Fint geht davon aus, dass Schlicht Spaltners Geld nicht will und auch nicht mehr zurückkehren wird, bzw. dass er sich – im Fall des Falles – jederzeit darauf berufen könnte, dass die Unterschrift gefälscht ist. Wenn einer durch dieses Kavaliersdelikt zum Handkuss kommt, dann höchstens „dieser Spaltner“, der letztlich auch „zu denen da oben“ gehört und es sicher verschmerzen kann. Schlicht wird erst Opfer, als er nach langem Zaudern beschließt, den Kredit doch nehmen zu wollen, und ihn nicht bekommt. Und er wird deshalb Opfer, weil er die Sache nicht aufklärt, sondern edelmütig schweigend hinnimmt.)

Der nächste Verrat

Der selbe Mechanismus tritt in Kraft, als er von Fint (dem gegenüber er doch jetzt ein wenig skeptischer sein müsste) in einem Brief erfährt, dass sich seine abgöttisch geliebte Amalie, mit der er sich natürlich auch als symbiotisch begreift, kurz nach seiner unfreiwilligen Abreise angeblich „einam anderen zugewendet“ hat.

So unwahrscheinlich diese Mitteilung auch ist, Schlicht glaubt sie sofort. Er geht ihr nicht nach, er eilt nicht an Ort und Stelle, um sich vom Gegenteil zu überzeugen oder den Rivalen zu bekämpfen, nein, er „leistet an Zuhaltung der Ohren das Höchste, was der Mensch leisten kann“. Er rührt sich nicht und wartet ab – so lange, bis Amalie tatsächlich auf Druck ihres Vaters den reichen Stein heiratet.

Das nimmt er nun als Bestätigung dessen, was er immer schon geahnt hat: ihm ist einfach vorherbestimmt, Opfer zu sein, „verraten“ zu werden. – Ja, sie haben ihn verraten – erst der Freund und jetzt auch die Geliebte. (Offenbar Schlichts unbewusste Inszenierung des Ur-Vertrauensbruches; Fint und Amalie stehen für Vater und Mutter – ein weiteres Indiz für eine schwere narzißtische Störung.)

Dass er selbst durch sein passives Verhalten, sein Zögern, sein Nicht-Reagieren all diese Entwicklungen gefördert, ja mit verschuldet hat, sieht er nicht.

Wiederbegegnung

Nach sechsjährigem Auskosten seiner Verlierer-Rolle, in der Welt umherstreifend als einsamer Wolf, begegnet Schlicht – durch Zufall, wie denn sonst – der ehemaligen Geliebten wieder. Sie versucht ihm klar zu machen, dass sie damals gar nicht anders handeln hat können, erzählt ihm, dass Fint an ihrem Entschluss, Stein zu heiraten, zumindest nicht ganz unbeteiligt war.

(Das Motiv Fints für diesen zweiten Verrat bleibt im Dunkeln. War es der „Drang der Verhältnisse“, wie er sagt, also zum Beispiel Spielschulden, die ihn auf die Idee gebracht haben, Schlichts Liebesbrief einfach an Amaliens Vater zu verkaufen? Ihm schien es jedenfalls kein Verbrechen, denn für ihn war klar, dass Schlichts schwärmerisch-schüchterne Beziehung zu Amalie ohnehin keine Zukunft hatte. Ihr Vater war strikt gegen den armen Schlucker, entschlossen, seine Tochter reich zu verheiraten; Amalie selbst offenbar schwach und unentschlossen; und der weltfremde Schlicht sicher nicht imstande, sich diesbezüglich in irgendeiner Weise durchzusetzen.)

Ein weiterer Verrat des Freundes also – das ist natürlich Wasser auf die Mühlen seiner Selbstzerfleischung.

Er reagiert darauf wie gehabt: durch zerstörerisches Papplöffel-artiges Benehmen führt er seinen großen Liebesroman (dessen Ausgang – trotz Amaliens Heirat – keineswegs endgültig entschieden sein müsste) gezielt und willentlich einem prosaischen Ende zu, das ihn als tragischen Helden zurücklässt. Und streng nach dem Motto „Selbstaufopferung war stets meine Force“ setzt er noch eins drauf, indem er sich, statt dem eifersüchtigen Ehemann gegenüber den wahren Sachverhalt aufzuklären, in aller Öffentlichkeit als Sittenstrolch verleumden lässt, um „Amaliens Ehre zu retten“.

Rollenwechsel

Von der Gesellschaft ausgestoßen, arbeits- und obdachlos, ist er nun auf dem Tiefpunkt seiner Karriere angelangt. Seine Rolle als tragischer Liebhaber ist abgespielt, bis zur Neige ausgekostet: eine neue muss her.

Das unerwartete Wiedersehen mit dem Doppelverräter Fint, der offenbar beruflich gescheitert ist und nun als „Baron“ Steins Tochter Klementine und Schlichts Nichte Marie gleichzeitig umwirbt, machts möglich.

Schlicht schlüpft in die Rolle des heimlichen Beschützers und Rächers der gefährdeten Mädchen. Er sieht sich jetzt als Agent in einem Kriminalroman, der selbstlos im Auftrag einer höheren Moral handelt – einer Moral, die ihn berechtigt, ja geradezu verpflichtet, den Ex-Freund zu verfolgen. Ein wunderbar geeignetes Deckmäntelchen, um darunter seinen eigentlichen Auftraggeber, den Hass auf Fint, zu verstecken.

Der Möchtegern-Rächer

Der Rächer macht sich auf die Spur – doch er rächt nicht. Wie auch früher schon (in seinem Liebesroman) ist Schlicht unfähig zu handeln. Er kann im entscheidenden Moment nicht nachsetzen, obwohl Fint bereits mehrmals in die Defensive gdrängt ist. Im Casino-Garten (wo Fint die juwelenbehangene Klementine zur gemeinsamen Flucht überredet) macht ihm Schlicht zwar eine dramatische Szene, begnügt sich aber mit der Andeutung, was er alles könnte, wenn er nur wollte. Bei den Kalkbauern im Gebirge (wohin Fint Klementine gebracht hat, um ihr jetzt in aller Ruhe die Juwelen abzunehmen) taucht er effektvoll, pathetisch und gespenstisch über dem Kalkofen auf und kündigt großartig an, dass er den Verbrecher stellen werde, wenn dieser die Hütte verlässt. Aber als es soweit ist, ist er wie gelähmt und tut nichts dergleichen, obwohl ers nicht mehr den geringsten Zweifel an Fints bösen Absichten gibt.

Immer deutlicher zeigt sich Schlichts zwangsneurotische Struktur. Immer mehr wirkt das, womit er sein ständiges Zaudern und Zögern rechtfertigt, sein idealistischer Überbau, wie eine faule Ausrede.

Endlich

Erst als ihm das Schicksal (in der „populären Harlekinsmaske des Zufalls“) die Entscheidung abnimmt und ihm den letzten und untrüglichen Beweis in Form des Schmucks quasi in die Hand zwingt, kann er, ja muss er handeln, wenn er sich nicht vor sich selbst und der Welt endgültig lächerlich machen will.

Der „ungezähmte Leidenschäftler“, den der ansonsten Schüchterne und Verklemmte im ersten Teil immer dann höchst komödiantisch gegeben hat, wenn er monologisierend mit sich allein war (vergleichbar jenen Kantinen-Schauspielern, die nur am Stammtisch brillieren), muss nun auf die Bühne der Öffentlichkeit treten, um seinen Kriminal-Roman sujetgerecht zu Ende zu bringen. Aber diesmal nicht als Opfer, sondern als Täter, eine Rolle, die zu spielen er sich bisher beharrlich geweigert hat.

Das Dreigroschen-Finale

Aber im Namen der Moral geht offenbar auch das. Als strafener deus ex machina legt er einen filmreifen Schlussauftritt hin, wie man ihn sonst nur von seinem Freund Fint erwarten würde, und bringt diesen endgültig zu Fall. Täter und Opfer haben die Rollen getauscht.

Aber nur für einen Augenblick. Denn gleich nach diesem ihm so unangenehmen Akt der Aufdeckung (der letztlich auch ihn selbst entlarvt hat) kehrt er wieder in die wohlvertrauten alten Verhaltensmuster zurück. Er wird wieder so, wie er sich gerne sieht: „edel, hilfreich und gut“.

Steins Belohnung, die er dringed brauchen könnte und sicher auch will, nimmt er nicht. Er schenkt sie der armen, „vernichteten“ Marie. Sie aber, das „nichtige“ Wesen, das er eigentlich gar nicht will, nimmt er. Ja, das ist wahrer Opfermut! Einziger Schönheitsfehler ist nur, dass Marie jetzt Geld hat. Es wär’ halt doch schöner und noch rührender gewesen, wenn er ein armes Mädl g’nommen hätt’!

Was als großartiger Entwurf einer utopisch-romantischen Liebesgeschichte begonnen hat, endet als verlogener, trivialer Dreigroschen-Roman.

Die Tugend hat gesiegt

Auch in anderer Hinsicht ist der Ausgang eher „böhmisch-granatisch“ als „brillant“. Denn an den trostlosen gesellschaftlichen Strukturen, denen die beiden Freunde zu Beginn des Stückes auf verschiedene Art und Weise entkommen wollten, hat sich durch Schlichts Heldentat nicht das Geringste geändert. Im Gegenteil. Der romantische Träumer hat den realistischen Träumer ins Zuchthaus gebracht und damit der herrschenden Klasse einen Dienst erwiesen.

Stein bleibt ein Stein und steinreich, die anderen arm und abhängig.

Amalie und Klementine bleiben in ihrem liebelosen, großbürgerlichen Käfig.

Der schleimerische, zwielichtige Besitzer der dubiosen Hof-Bibliothek kann mit seiner Traumfabrik weiter für verdummende Ablenkung sorgen.

Der völlig unfähige, arbeitsscheue Schippl wird zur Belohnung für seine Intrigen noch pragmatisiert.

Der Möchtegern-Aufsteiger Fint sitzt hinter Schloss und Riegel (falls dort schon Platz ist für einen Unpolitischen).

Und der große Idealist Schlicht hat sich eingeordnet – als das, was er eigentlich immer war, als sentimentaler, kleinkarierter Spießer.

Schlicht hat sein alter ego geschlachtet – und damit auch einen Teil von sich selbst. (Peter Gruber)