Nestroy als Klassiker? – Sein Verhältnis zu den Klassikern

Von Jürgen Hein (1987)

„Ein bedeutender Künstler hat die Klassik zu fliehen.“
(Th. Bernhard: Minetti)

In fast regelmäßigen Abständen wird die Kanon und „Klassiker“-Frage diskutiert, blüht das Geschäft mit den „Klassikern“ auf dem Büchermarkt, ringen die Theater um ein neues Klassiker-Verständnis und beschäftigen sich literaturwissenschaftliche Symposien mit der Frage, ob die Klassik „verloren“ sei. In den Verlagsankündigungen finden wir allerdings weder Ferdinand Raimunds noch Johann Nestroys Werke, z.B. nicht beim „Deutschen Klassiker Verlag“. Dies ist doch eigentlich merkwürdig im Raimund-Jahr 1986 und an der Schwelle des Nestroy-Jahres 1987. Etwa zwei Jahrzehnte früher wurden Nestroy und Raimund in der DDR in die „Bibliothek deutscher Klassiker“ aufgenommen, und es gibt einen Nestroy-Band in der Reihe „Die großen Klassiker“. Hier ist „Klassiker“ aber nicht mehr als ein Etikett, ein Wort, das „nur oft dumm angewend’t“ wird, wie schon Melchior in Einen Jux will er sich machen (1842) zurecht meint.

Die Nähe seines 125. Todestages ruft die K1assiker-“Pfleger“ auf den Plan, und es stellen sich angesichts der Bemühungen, Nestroy wenigstens zum „Klassiker der Posse“, wenn nicht gar zum „Klassiker der Komödie“ oder gar auch zum „Österreichischen Klassiker“ avancieren zu lassen, folgende Fragen:

  • Ist Nestroy zu einem Klassiker geworden und in welchem Sinn des Wortes?
  • Was sträubt sich – noch immer – gegen eine solche Aufwertung?
  • Muß der Versuch, ihn zum Klassiker zu machen, als Verharmlosung, als Verdecken der immer noch wirksamen analytischen und kritischen Dimension gewertet werden?
  • Hat sich nicht Nestroy als „Mimerer“ gegen eine Verklärung gewehrt, wie sie nur „Erzbischöfen“ gemäß ist, und ist er nicht doch in einem „Festspiel“ zum Klassiker stilisiert worden?
  • Ist Nestroy nicht eher ein Anti-Klassiker, d.h. vertritt eine gegen klassische Überformung gerichtete Intention des Volkstheaters?
  • Wie läßt sich Nestroys eigenes Verhältnis zu den Klassikern, sein Umgang mit ihnen beschreiben, ist es die kritische Auseinandersetzung eines ‚Nachklassikers‘, der sich parodistisch und parodierend des Erbes als Spielmaterial bedient?
  • Ist Nestroys Theater nicht sowohl gegen das klassische Theater wie gegen eine Volkstheater-Klassik gerichtet, wie sie z.B. Raimund verkörpert hat?

Von diesen Fragen können einige gar nicht, andere nur kurz beantwortet werden, wieder andere verlangen eine ausführlichere Auseinandersetzung. Zunächst seien ein paar kurze Überlegungen zum Wortgebrauch „K1assiker“ sowie zu Stil-, Rang- und Wertfragen angestellt. Hierbei ist die Verwendung des Begriffes zur Zeit Nestroys von der inflationären Verwendung von „klassisch“ und „Klassiker“ in unserer Zeit zu unterscheiden (vgl. Wolfgang Brandt, Das Wort „Klassiker“, Eine lexikologische Untersuchung, Wiesbaden 1976). Bedeutung und Anwendungsbereiche des Wortes „Klassiker“ sind so vielfältig, daß ein genau definierter und vorsichtiger Umgang zu empfehlen ist. Nach Karl Erik Rosengren (Sociological Aspects of the Literary System, 1968, zit. nach Eva D. Becker, „Klassiker“ in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung zwischen 1780 und 1860, in: Zur Literatur der Restaurationsepoche 1815–1848, Stuttgart 1970, S. 349–370, hier S. 349) ist ein Klassiker ein Autor, der zu einem Zeitpunkt noch erwähnt wird – also noch ‚lebt‘ –, an dem er mindestens 125 Jahre alt ist. Dies ist bei Nestroy der Fall, aber so einfach läßt sich Nestroy wiederum auch nicht zum Klassiker machen.

Ich nenne hier nur einige Merkmale des Wortgebrauchs „Klassiker“, wie sie Brandt in einer Matrix aufführt, wobei sich durchaus Oppositionen ergeben können: „aktuell, traditionell, unaktuell, erstrangig, unvergänglich, zeitlos, innovativ, Höhepunkt darstellend, dem klassischen Stilideal entsprechend, seriös, bewährt, vorbildlich, alt“. Diese Merkmale decken sich teilweise mit den Charakteristika, die sich im Artikel „Klassiker“ von Herbert Cysarz (Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 1, S. 858–862) finden: Rang und Geltung, ubiquitärer Gehalt, Leitbild, Gipfel schöpferischer Leistung, wegweisend. – Über die zeitgenössische Bedeutung der Kriterien und ihre Anwendung auf Nestroy will ich hier nicht viel sagen, nur wenige Punkte nennen, eher Fragen:

  • Wie geht die zeitgenössische Literatur- und Theaterkritik mit den Begriffen um, was findet sich in den ästhetischen Lexika – normativ oder beschreibend – als Niederschlag der Diskussion?
  • Welche Anwendung finden die Begriffe auf das Volkstheater, seine Autoren und Produktionen?
  • Gibt es eigene „Blütezeiten“ des Volkstheaters, die mit der Bezeichnung „klassisch“ belegt werden? Welches sind die Kriterien?
  • Handelt es sich bei der Bewertung vielleicht um späteren Kategorien der Rezeptionsgeschichte?
  • Wie konnte Nestroy in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts zum „Klassiker der Posse“ und später, auf dem Hintergrund des sogenannten Niedergangs des Wiener Volkstheaters – zum „Klassiker des Volkstheaters“ schlechthin werden?

Zur Klärung dieser Fragen weise ich nochmals auf Eva D. Becker hin, in deren Untersuchung sich u.a. folgendes Zitat aus der „Vorlesung über deutsche Klassiker für Gebildete und zum Gebrauche in höheren Lehranstalten“ (1810) von Sauer und Neuhofer findet: „Ein guter classischer Schriftsteller ist eben dadurch classisch, daß wir an ihm den zuverlässigsten Schritt- und Höhenmesser der Kultur seines Zeitalters haben“ (vg1. Becker, S. 351). Dies könnte im umfunktionierten Sinne natürlich auch für die ‚Gegen-Klassiker‘ gelten. Der Bedeutungswandel des Begriffs und die Fixierung eines Klassiker-Kanons, vor allem aber auch der Umgang mit den Klassikern haben zu einem mehrdeutigen, teilweise diffusen Verständnis, zu einseitiger ideologischer Besetzung, ja auch zum Verlust der eigentlichen Bedeutung geführt. Die Bewertung Nestroys als Nachklassiker im Kanon der Theaterliteratur, aber auch als möglicher Schulautor im Lektürekanon kann nicht ohne einen Blick auf eine Entwertung oder Neubewertung und Aktualisierung der sog. Klassiker vorgenommen werden.

Nach den Untersuchungen Beckers werden die etablierten Klassiker nach 1850 unanfechtbar und der Kritik entzogen: „Nach 1870 fordert man Klassiker, die tot sind, besonders für den Schulgebrauch“, und 1903 heißt es: „Es ist alles von der Schule fernzuhalten, dessen Wert immer noch dann und wann von einem leidlich verständigen Menschen angezweifelt wird. Daraus folgt, daß die Hauptwerke der zeitgenössischen Literatur von der Schule auszuschließen sind. Für die Schule ist das, was die Todesgöttin geweiht hat, vorzuziehen“ (vgl. Becker, S. 366). Sind die „toten Dichter“ die brauchbaren „guten“ Dichter?

Was ist ein Klassiker? Diese Frage ist so alt wie die neuere Literaturwissenschaft und Literaturkritik. Gottfried Honnefelder stellt 1985 im „Almanach zur Eröffnungsedition der Bibliothek deutscher Klassiker“ u.a. fest: „Das Klassische ist Ergebnis eines rezeptionsgeschichtlichen Gerinnungsprozesses“, und: „Was sich klassisch kanonisiert zeigt, braucht nicht mehr gelesen zu werden, was klassisch ist, scheint kulturell deponiert“, aber auch: „[Es gibt] Literatur, die ihren Rang durch harten Widerstand gegen den Verschleiß der Rezeptionsgeschichte erlangt hat, die ihre Zeit so getroffen hat, daß sie über ihre Zeit hinaus gegenwärtig ist“. – Ich merke hier nur an, daß Nestroy –wie gesagt – in dieser „Bibliothek deutscher Klassiker“ nicht vorgesehen ist, obwohl es heißt: „Die ‚Auswahl der Werke‘ wird nicht nur das Anerkannte berücksichtigen, sondern die Möglichkeit von Neuentdeckungen offenhalten.“ – Wohin gehört Nestroy? Im selben Almanach versucht Martin Walsers Antwort auf die Frage „Was ist ein Klassiker?“, die sich über 40 Jahre früher bereits T.S. Eliot und vor diesem andere stellten. Während Eliot solche Wert- und Rangkriterien wie „Reife“, „Weite des Ausdrucks“, „umfassende Geltung“, „Universalität“ aufstellt, findet Walser in der „Brauchbarkeit“, über die „das Volk“ entscheide, einen neuen Maßstab: „Brauchbarkeit ist etwas anderes als die Klassiker-Qualität an sich oder das so und so ausgetüftelte Klassische als Wert“, und: „Die uns beleben, die können wir brauchen, das sind Klassiker“. Aber – auch das sagt Walser – „Brauchbarkeit“ ist „keine harmlose Kategorie“, denn „was geschieht nicht alles durch das Zitieren“. Gedankenloser Ge- und Mißbrauch ist auch mit Nestroy-Sätzen geschehen, dies sei hier nur angemerkt.

Am Rande stellt sich auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen „deutschen“ und „österreichischen“ Klassikern, womit auch das Problem der Anwendung von – einheitlichen – Kriterien und Maßstäben zusammenhängt, so z.B. die Frage nach „Klassizität“ oder nach der Bewertung der Stilmischung in einer eigenständigen österreichischen Literatur.

Als Motto zu ihrem Buch „Die Klassik-Legende“ (1971) zitieren Reinhold Grimm und Jost Hermand das erwähnte Bonmot Melchiors aus dem Jux und sprechen von der „Inbrunst des deutschen Klassikerkultes“ und daß die Klassik-Legende etwas mit kultureller Tradition und nationaler Identität zu tun hat. „Seit hundertfünfzig Jahren“ sei „den nobelsten Geistern wie den trivialsten Spießern eine geradezu unübersehbare Fülle an Klassik-Vorstellungen eingefallen“. Wir wollen uns hüten, diese noch zu vermehren, nur die Frage stellen, ob die beobachteten Tendenzen der Harmonisierung von Gegensätzen, der Entaktualisierung und Entpolitisierung, um nur wenige Aspekte zu nennen, auch für Österreich gelten. 1971 warf Egidius Schmalzriedt dem Klassik-Begriff vor, er sei ein Bildungsklischee, „idealistisch-dogmatisch“, „ahistorisch“, „unwissenschaftlich“ und „politisch wie pädagogisch gefährlich“, weil er zu unkritischer Bewunderung, Anpassung und Unterordnung erziehe. In der Folge wurden die Klassiker teilweise aus dem Literaturkanon verbannt, und heute trauert man wieder der fast „verlorenen Klassik“ nach und versucht eine Re-Animation. In diesem Zusammenhang sei auf Horst Rüdigers Überlegungen („Klassik, Klassizimus, ‚Inhumane Klassik und Humanität“) und Claus Trägers Thesen „Über Historizität und Normativität des Klassik-Begriffs“ (beide 1982) zu verweisen. Träger ist u.a. der Ansicht; „Je weiter man sich zeitlich und räumlich von dem historischen Quellpunkt des Klassik-Begriffs entfernt, desto mehr wird er, sofern angewendet, seine normative Natur hervorkehren.“

Wie steht es daher überhaupt mit der Brauchbarkeit der Begriffe „klassisch“ und „Klassiker“, wenn einerseits eine totale Entleerung, ahistorischer Umgang, andererseits eine einseitige ideologische Besetzung oder Verdammung den Sprachgebrauch bestimmt?

In diesem Rezeptionsprozeß nimmt Nestroy eine Sonderstellung ein, einerseits teilt er mit den Klassikern durchaus das Schicksal der Vereinnahmung und einseitigen, mißverstehenden Interpretation, andererseits hatte er nie seinen fasten Platz im Literaturkanon, vor allem nicht der Schulen.

Und wie steht es um Nestroy und die Tradition der Klassik? Mit Claus Träger finden wir einen Übergang zu den Überlegungen, wie Nestroy mit den Klassikern umgegangen ist. Auch Träger geht von dem bekannten Jux-Zitat aus und zitiert es als „possenhaft-volkstümliche Desavouierung des Klassischen“. Wie konnte Nestroy eigentlich in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts zum „Klassiker“ der Posse und später – auf dem Hintergrund des sogenannten Niedergangs des Wiener Volkstheaters – zum „Klassiker des Volkstheaters“ schlechthin werden?

Stehen nicht „Klassik“ und „Volkstheater“ – als Neben- oder Gegentheater verstanden – von vornherein im ästhetischen und soziologischen Widerspruch, oder handelt es sich um eine dialektische Aufeinanderangewiesenheit? Es kann nicht um so etwas wie „Burgtheaterfähigkeit“ der Posse gehen, um Zugstück, Vereinnahmung oder gar Verharmlosung, um Brechen des kritischen Stachels, um Überhöhung auf Kosten der kritischen Dimension, sondern Volkstheater-Klassik ist anders zu definieren – anders auch für die „Raimundzeit“ als für die „Nestroyzeit“. Im nostalgischen Rückblick auf das Wiener Volkstheater gelten beide als Klassiker.

Zurück zu Nestroy, der vermutlich schon während seiner Schul- und Studienzeit, dann aber vor allem als Sänger und Schauspieler mit Klassikern – auch mit den Bühnenklassikern des Opernrepertoires –, später mit den sog. Nachklassikern, also z.B. Grillparzer, Hebbel, in Berührung kam und die verschiedenen Eindrücke und Rollen literarisch verarbeitete. Einerseits wuchs er in Rollen und Sprechweisen herein, entdeckte andererseits deren Verwend- und Zitierbarkeit als Spielmaterial, überdies auch die Möglichkeit antithematischer Behandlung und des Parodierens. Er spürte das „elektrische Fleckerl“ im „Ernst“ auf, wo „bei der gehörigen Reibung die Funken der Heiterkeit heraus[fahren]“, wie Edelschein in Die Anverwandten (1848) bemerkt. Dies führt zu Entpathetisierung und komischer Distanz, zumindest zu den Zitaten der Klassiker, wenn nicht zu diesen selbst. Dennoch werden, wie die Belege zeigen, nicht die Klassiker zu Zielscheiben der Satire, sondern der falsche und dilettantische Umgang mit ihnen. Im übrigen, das sei hier nur am Rande angemerkt, vertritt Nestroy einen Satire-Begriff idealistischer Prägung. Heißt es bei Schiller z.B. „In der Satire wird die Wirklichkeit als Mangel dem Ideal als der höchsten Realität gegenüber gestellt“, so konstatiert Wendelin in Höllenangst (1849): „Aber so viele herrliche Ideen haben das, wenn s’ ins Leben treten, wachsen sie sich miserabel aus“.

Welche Belege haben wir nun für Nestroys Umgang mit den Klassikern?

  • Rollen in Stücken des ,klassischen Repertoires, wobei hier nur das Sprechtheater berücksichtigt wird. Für das Musiktheater wäre die Frage nach dem „Klassischen“ neu zu stellen.
  • Rollen in Klassiker-Parodien und die Parodien selbst, auch Zitate und Parodie in den Dramatischen Quodlibets.
  • Klassiker-Zitate, auch in verstümmelter Form; hier ist in dem umfangreichen Textcorpus Nestroys sicher noch manches zu finden.
  • Reflexionen auf „Klassisches“ in Dialogen und Couplets.

Schließlich wäre auch nach Nestroys Selbstverständnis zu fragen, trachtete er nun nach dem „Lorbeer“ eines Volkstheater-Klassikers oder wollte er „Mimerer“ bleiben, dem unangemessene Überhöhung und Verehrung fremd war? Und zu diskutieren wäre ferner, wie sich Nestroys Werk gegenüber den Forderungen der Theaterkritik nach Verwirklichung der ‚klassischen‘ Posse bzw. des ‚echten‘ Volksstücks behauptet. Dies muß hier ausgeklammert werden.

Uns soll jetzt Nestroys Klassiker-Verarbeitung interessieren. Machen wir eine kleine – naturgemäß unvollständige – Bestandsaufnahme von Nestroys Umgang mit den Klassikern. Beginnen wir bei seinen Rollen in den Stücken der Klassiker: Wir finden ihn als Landvogt Geßler in Schillers Wilhelm Tell, als Doria in Fiesko, als Burleigh (auch: Paulet) in Maria Stuart, Lionel in Die Jungfrau von Orleans, als Magistratsperson in Die Räuber (statt des vorgeschriebenen „Paters“), als Pantalon in Schillers Turandot, als Ratskommissarius und als Lerse in Goethes Götz von Berlichingen, als Gottschalk in Kleists Käthchen von Heilbronn; hinzuzufügen sind Rollen in Klassiker-Parodien: Ferdinand in Bäuerles Kabale und Liebe, Werther in Kringsteiners bzw. Meisls Bearbeitung von Werthers Leiden sowie in den Theatralischen Quodlibets: Magische Eilwagenreise […] (1830): u.a. Jungfrau von Orleans, Turandot, Don Carlos, Dr. Faust; Humoristische Eilwagenreise […] (1830): u.a. Die Räuber, Zusammengestoppelte Komödie (1840): u.a. Werthers Leiden; Quodlibet verschiedener Jahrhunderte (1843): u.a. Jungfrau von Orleans, Don Carlos, Turandot, Kabale und Liebe.

Es folgen Zitat-Belege:

Dappschädl (Der Tod am Hochzeitstage, 1829) zitiert aus Schillers Gedicht Resignation: „Des Lebens Mai blüht einmal und [nicht] wieder, / Mir hat er abgeblüht“, im selben Stück verwendet Siegwart Worte aus Goethes Clavigo; Schmafu in Der konfuse Zauberer (1832): „(allein, mit trostloser Gebärde). Auch ich war in Arkadien geboren, aber im Laufe des Glücks haben s’ mir den Laufpaß geben […]“, ebenfalls Zitat aus Schillers Resignation. Rot in Müller, Kohlenbrenner und Sesseltrager (1834) verwendet einen Satz aus Kabale und Liebe in komischem Pathos: „Gute Nacht, Herrendienst“, morgen geht der Frauendienst an“; im selben Stück eine Parodie zweier Verse aus Schillers Lied von der Glocke: „O, daß sie ewig grünen bliebe, / Die schöne Zeit der jungen Liebe! – Ha!“. In Gleichheit der Jahre (1834) zitiert Eduard aus Schillers Die Räuber: „Wer murrt, wenn ich befehle? (Alles ist still.) O, ich will nächstens unter euch treten und eine fürchterliche Musterung halten.“ In Die verhängnisvolle Faschingsnacht (1839) geht Geck mit den Worten aus der Jungfrau von Orleans ab: „Kurz ist der Schmerz, doch ewig ist die Freude“; im Tannhäuser (1857) wird in komischer Verdrehung auf den Prolog dieses Stücks angespielt: „Das Schlachtroß klingt und die Trompeten steigen“. Edelschein in Die lieben Anverwandten (1848) spielt auf Schillers Die Braut von Messina an: „Wenn auch nicht von Messina, wenn’s auch nur ein Bräutigam ist, gleich ist das schwesterliche Gegenstück zu den ‚feindlichen Brüdern‘ da, und unsereins kann als alter Isabellerer fleißig Frieden stiften“. Aus Goethes Egmont stammt der vielzitierte Satz in Freiheit in Krähwinkel (1848): „BÜRGERMEISTER. […] Ich werd’ ein Gesetz ergehen lassen, daß nicht drei beisammen stehen dürfen.“ In Lady und Schneider (1849) bedient sich Fuchs eines Verses aus Wilhelm Tell („Dort der Holunderstrauch verbirgt mich ihm“), der dann so lautet: „Warten muß ich, was da g’schieht, jetzt heißt’s halt sich umschau’n um a zweckmäßige Hollerstaud’n“. Kern in Der alte Mann mit der jungen Frau (1849) zitiert Schiller „richtig“ (ebenfalls aus Wilhelm Tell):

Die Revolution war in der Luft, jeder hat sie eingeatmet und folglich, was er ausg’haucht hat, war wieder Revolution. Da muß sich keiner schön machen woll’n. Aufgefallen ist der ein oder der andere mehr, da heißt’s halt dann, wie Schiller sagt: „Den nehm ich heraus aus eurer Mitte, doch teilhaft seid ihr alle seiner Schuld“.

Ein paar Zeilen weiter beteiligt sich Anton an dem Dialog mit einem Satz aus Kabale und Liebe: „Herr von Kern, ich glaub’ nicht, daß ich zuviel sag’, wenn ich sag’: mir is zu viel geschehn“. Spielerischer Umgang mit Zitaten kann hier neben komischer Distanzierung zugleich neuen ‚ernsthaften‘ Sinn stiften. Dies gilt auch für Gabriels Bemerkung zu Theres, dabei auf Kabale und Liebe anspielend: „Schad’, daß Sie nicht Luise heißen. Sie sind so blaß.“ In Verwickelte Gechichte (1850) zitiert Wachtel aus Goethes Gedicht Antworten bei einem gesellschaftlichen Fragespiel:

WACHTEL. Es gibt nur zwei Wege, Kälte oder Aufdringlichkeit.
KESSEL. Kälte beleidigt –
WACHTEL. Verführt aber auch, wie Goethe sagt. Da wird’s schon besser sein mit Aufdringlichkeit.

Bei Goethe spricht „Der Erfahrene“:

Geh den Weibern zart entgegen,
Du gewinnst sie, auf mein Wort;
Und wer rasch ist und verwegen,
Kommt vielleicht noch besser fort;
Doch wem wenig dran gelegen
Scheinet, ob er reizt und rührt,
Der beleidigt, der verführt.

Nestroy spielt offensichtlich nicht nur auf zwei Zeilen des Gedichts an, sondern auf die Situation der Werbung, die freilich in Verwickelte Geschichte auf äußerst profane Weise besprochen wird. In Der Treulose (1836) sagt Herr von Falsch „Ich leugne nichts. Ich bin die verkehrte Maria Stuart, ich bin noch etwas schlechter als mein Ruf“, dabei auf III,4 des Schiller-Stücks anspielend. Emilie in Die beiden Nachtwandler (1836) erinnert parodistisch an Schillers Ballade Ritter Toggenburg: „Und so sitz’ ich eine Leiche eines Morgens da, nach dem Haus drüben noch das bleiche –“; Faden fällt ein: „Halt ein, das is zuviel! Dus sollst den Palast haben.“ In Gegen Torheit gibt es keine Mittel (1838) zitiert Florfeld aus Die Jungfrau von Orleans, wobei das Klassiker-Zitat schon zum Sprichwort geworden ist: „Traurig, aber wahr ist das Sprichwort: Gegen Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens! Und du, schwacher Sterblicher, willst diesen Riesenkampf beginnen?“ Auch Simplicius im selben Stück zitiert Schiller, diesmal aus dem Lied der Glocke: „Schau’, der Schiller sagt: der Mann muß wetten und wagen, das Glück zu erjagen; drum hätt’ ich g’laubt, du sollst mir eine namhafte Summe geben, damit stürzt’ ich mich in ein Meer von Spekulationen […]“, und Kathi, immer noch im selben Stück spielt mit dem Satz „Siehst du, das ist ein Schauspiel für Götter“ auf Goethes Erwin und Elmire an. Patschiparoli sagt darauf: „Führen Sie den zweiten Akt auf!“. Hier zeigt Nestroy, wie Klassiker-Zitate bereits zu verwendbaren Versatzstücken des Dialogs geworden sind, die durch Wörtlichnehmen und neuen Sinnkontext, durch Konfrontation mit dem vom Geld bestimmten Alltagsleben im komischen Kontrast das Mißverhältnis von Sprache und Handlung enthüllen. Dies gilt auch für Gegen Torheit gibt es keine Mittel, wenn Anselm aus Wallensteins Tod zitiert: „Das ist das Los des Schönen, auf der Erde!“.

In Der Schützling (1847) spielt Pappinger komisch auf einen Vers aus der Jungfrau von Orleans an: „(auf den Bedienten zeigend). Ich tu’ ihm nix ihn schützt sein Wappenrock.“ Ebenfalls aus Schillers Stück stammt in Mein Freund (1851) Schlichts Zitat „Hier gilt das Umgekehrte: ‚Kurz is der Schmerz und ewig die Freude‘ – Hier heißt’s: ‚Kurz is die Freude, und zehn, zwölf Jahre lang der Schmerz‘.“ Kampl im gleichnamigen Stück spielt auf einen Wilhelm Tell-Vers an: „Macht nix. Ihr Vater is ein unparteiischer Mann, ihm sind alle gleich liebe Kinder.“

Nimmt man den Nachklassiker Grillparzer dazu, in dessen Stück Ein treuer Diener seines Herrn den Arzt und ein andermal eine eingefügte Figur („Janós, lustiger Rat“) spielte, so finden wir Anspielungen auf Sappho und König Ottokars Glück und Ende. In Heimliches Geld, heimliche Liebe (1853) räsoniert Kasimir:

„Ich und eine reiche Witwe, das wär’ grad so, als wie die poetische Gutsbesitzerin, von der s’ a Stuck aufführen – Sappho hat s’ geheißen – die sich aus dem damaligen Circus gymnasticus einen griechischen Tagdieb nach Haus ’bracht hat. Selbstmord war der weltbekannte Ausgang dieser Histori – sie hat sich ins Wasser g’stürzt und er hat sich ins Stub’nmadl verbrennt.“

In Theaterg’schichten durch Liebe, Intrige, Geld und Dummheit (1854) finden wir die Parodie auf eine Arenatheater-Aufführung von Sappho, für die Nestroy über 30 Verse verwendet und kompiliert. Bekannt ist auch Titus Feuerfuchs’ parodistischer Abgang in Der Talisman (1840): „Das ist Ottokars Glück und Ende! (Geht langsam mit gesenktem Haupte zur Mitte ab).“

Viele Verse aus der beliebten Ballade Gottfried August Bürgers Lenore sind zu „geflügelten Worten“ geworden: Kasimir in Heimliches Geld, heimliche Liebe bedient sich ihrer in einem Brief an die Geliebte: „In deinen Armen ist Seligkeit, Trennung von dir is Hölle. (Spricht.) Die Bilder werden immer kühner und grasser. – (Liest.) „Wiedersehn und Heirat is eins!“ Literarisches Zitat und ‚eigene‘ Sprache werden komisch zusammengeschlossen und relativieren sich so gegenseitig. In Tritschtratsch (1833) sagt Fiedler „(beiseite) Weh’ mir, diese Töne, wie verführen sie mein Ohr!“, wobei das „beiseite“ den Zuschauer mit in die Anspielung auf Die Jungfrau von Orleans einschließt. Eulenspiegel ruft im gleichnamigen Stück ebenfalls mit Schiller „grimmig“ aus: „Unschuldig? Das sagst du mit diesem Gesicht? Weib, teile mit diesem Gesicht Paradiese aus, und du wirst wenig Käufer finden“ (vgl. Kabale und Liebe); ein paar Szenen später werden Zitate aus Kabale und Liebe und Goethes Clavigo kombiniert: „EULENSPIEGEL (zu Cordula). Du wirst blaß, Luise? Verzeih, mit der Marquisschaft is’s nichts. / Cordula. Luft! Luft! (Sie eilt hinaus.)

In Der Affe und der Bräutigam (1836) findet sich ebenso eine Anspielung auf ein Lessing-Zitat aus Emilia Galotti („FLACHKOPF. O, die Hölle hat auch ihr eigenes Gelächter!“) wie in Der Talisman („FLORA […] Wer da nicht den Appetit verliert, der hat keinen zu verlieren.“) und in Theaterg’schichten („SCHOFEL […] Herr, wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren.“).

Zwei Couplet-Zeilen aus Die Papiere des Teufels (1842), auf Kleist anspielend, sollen den Übergang bilden zum Klassiker-Umgang in den Couplets; die zweite Strophe von Federls Auftrittslied lautet:

Mich schau’n d’Madeln nit an, denn die Hübschen nur lieb’n s’,
Und an meiner Schönheit is nix Übertrieb’n’s;
Ich tu’ aber mein Bild mir höchst reizend ausmal’n,
Wie d’ Mädln über mich alle in Wahnsinn verfall’n;
Und sie rennen mir nach, und sie schlaf’n in mein Stall,
Als wie ‘s Kätchen von Heilbronn beim Wetter von Strahl,
Und sie gehn nicht, wann i auch mit der Reitgerten schnalz’
– Das is wohl nur Chimäre, aber mich unterhalt’t’s.

In Der Färber und sein Zwillingsbruder (1840) gibt es eine Coupletstrophe, in der dilettantischer Klassiker-Umgang im Wirtshaus satirisch angegriffen wird:

„Jetzt muß man allweil Musik hör’n, und dann, wie schön!
A paar steig’n auf’n Tisch, spiel’n aus Die Räuber a Szen’,
Und wer bei solchem Kunstgenuß laut red’t, riskiert.
Daß er von d’ Enthusiasten hinausg’worfen wird.

In Kampl (1852) wird auf die Klassiker-Verhunzung in der ‚Provinz‘ angespielt: „Könt’ es einen seligen Schiller, einen seligen Goethe geben, wenn sie sehen müßten, wie in Budweis der ‚Don Carlos‘ und in Freistritz der ‚Faust‘ aufgeführt wird?“

Die Schlußstrophe des Dichters Leicht in Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab ist vielleicht eine verschlüsselte Kritik an den Nachahmern der Klassiker:

Wer nicht enorm bei Kräften is,
Soll nicht au’m Felsen steig’n,
Er rutscht und fallt ins Präzipiß,
Viel’ Beispiel’ tun das zeig’n.
Die Mittelstraß’n is ein breiter Raum,
Die führt kommod talab,
Es wachst zwar drauf kein Lorbeerbaum,
Doch auch kein Bettelstab.

Daraus und aus den vielzitierten Sätzen („Bis zum Lorbeer versteig’ ich mich nicht. G’fallen sollen meine Sachen, unterhalten, lachen sollen d’Leut. und mir, soll die Geschicht’ a Geld tragen, dass ich auch lach’“) ein künstlerisches Selbstbekenntnis abzuleiten, geht allerdings zu weit.

Kritik an Dilettantismus und Überschätzung spricht auch aus folgender Strophe des Talisman:

„Ich geh“ zum Theater!“ hat mir einer g’sagt.
„Als was wolln S’ denn ‘s erstemal spieln?“ hab’ i g’fragt.
„Ich spiel’ gleich den Hamlet, denn ich bin ein Genie.
Gib dann den Don Carlos als zweites Debüt.
So wie ich hab’n sie kein’ in der Burg, gar ka Spur!“
Na, da hab’ ich schon g’nur. na, da hab’ ich schon g’nur!

In Das Gewürzkrämerkleeblatt (1845) lautet der Couplet-Refrain in Anspielung auf das sprichwörtlich gewordene Schiller-Zitat (siehe oben!): „Gegn die Dummheit, so war es zeitlebens, / Da kämpfen die Götter vergebens.“

Weitere Coupletzeilen oder Strophen thematisieren den Klassiker-Umgang und das Theater als „der Kunst geweihter Tempel“, wie ihn Peppi Amsel in Frühere Verhältnisse (1862) besingt. Sie steht als „Exempel“ für eine fragwürdig gewordene Klassiker-Pflege in Wirtshäusern und im Unterhaltungsbetrieb. Die Theatralisierung des täglichen Lebens, das Sich-Schmücken mit Klassiker-Zitaten wird aufgegriffen und parodistisch-satirisch zu Schau gestellt, teils, um fehlgeleitete Theaterbegeisterung zu karikieren, teils um den Kulturbetrieb und seine Auswüchse satirisch bloßzustellen, sicherlich aber auch, um die ‚wahre‘ Kunst – sei es die der Klassiker oder auch des Volkstheaters – zu verteidigen. Daß darüber hinaus Klassiker-Zitate ein unerschöpfliches Spielmaterial sein können, braucht nicht besonders betont zu werden. Am Zettelträger Papp (1827), an Sansquartiers ‚Vorlesung‘ in Zwölf Mädchen in Uniform (1827), am Vorspiel Die dramatischen Zimmerherren (1843) sowie an Umsonst (1857) werden diese verschiedenen Weisen des Klassiker-Umgangs in zusammenhängenden Textpartien noch deutlicher. Nestroy verwendet die Zitate als Versatzstücke in der Dialoggestaltung, entlarvt dabei spielerisch und komisch unangemessenes Pathos der Figuren, ihre ‚geliehene Sprache‘, weist zugleich auf die zu Klischees entleerten und verkommenen „geflügelten Worte“. Dem gebildeten Publikum bietet er darüber hinaus Möglichkeiten des parodistischen Wiedererkennens. Das Gesagte gilt auch für größere szenische Einheiten, wie in den Dramatischen Quodlibets oder längeren Stückpassagen, wie die genannten Beispiele zeigen. Hier bieten sich weitere Möglichkeiten, auf Auswüchse des dilettantischen Umgangs wie auf Praktiken des professionellen Kulturbetriebs, in dem die Klassiker bis zur Unkenntlichkeit zitiert und zerspielt werden, hinzuweisen. Die Couplets stellen eine andere Ebene dar, mittels Spiel, Satire und Parodie das Klassiker-Thema zu variieren. Die Klassiker selbst werden nicht angegriffen, sondern der falsche Gebrauch, der von Ihnen gemacht wird. Nestroy rächt sich nicht, um ein Wort Willibalds aus Die schlimmen Buben (1847) aufzugreifen, als „Dritter Klassiker“, und er findet auch nicht alles „klassisch“ wie der erwähnte Melchior im Jux, sondern nutzt das Spielmaterial der Klassiker-Zitate – mit Brecht könnte man von „Materialwert“ sprechen –, transportiert dabei auch klassisches Bildungsgut über die Bretter der Vorstadtbühne. Gleichzeitig erkennt er aber auch die Gefahren des Zitatmißbrauchs und der Verhunzung. Ein ähnliches Schicksal ist Nestroy durch die Nachwelt häufig selber zuteil geworden. Auch Nestroy zugeschriebene Zitate sind wie Falschgeld im Umlauf.

Nestroys Verhältnis zur Klassik läßt sich schließlich noch aus einer anderen Perspektive betrachten, und zwar – das mag überraschen – im Blick auf sein Werk selbst. Er entwirft auf der ‚niederen‘ Ebene des Volkstheaters theatralische Modelle, die – z.T. mit utopischer Dimension – Möglichkeiten der Verwirklichung von Humanität und Selbstbestimmung zeigen. Nestroys Werk enthält, was paradox klingen mag, ideenmäßig wie formal einen klassischen Zug, der aber gleichzeitig in der Posse ‚anti-klassisch‘ aufgehoben wird. Seine Wirkung hat daher etwas von der eines lebendigen, weil ‚gebrauchten‘ Klassikers, dessen Werk Züge aufweist, die auch heute Zeitsignatur sind.