Johann Nestroy und das moderne Drama des 20. Jahrhunderts

Von Jürgen Hein (1974)

Nicht erst Friedrich Dürrenmatt („man behandle mich als eine Art bewußter Nestroy“) und Thornton Wilder („Deathless Nestroy“) haben auf die Modernität Johann Nestroys hingewiesen und sich seiner dramatischen Kunst verpflichtet gefühlt, auch Nestroys Zeitgenossen erkannten zum Teil das Neuartige, und Karl Kraus hat am Beginn des 20. Jahrhunderts − also zur selben Zeit, als das moderne Drama zu entstehen beginnt − in seinem berühmten Aufsatz Nestroy und die Nachwelt (1912) auf dessen zukunftsweisende Zeitgenossenschaft aufmerksam gemacht. Nestroys Bedeutung für die Exildramatik und deren Impulse für das Nachkriegsdrama sind erst jüngst erkannt worden. Seine Modernität hat vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder Theaterregisseure und Literaturwissenschafter beschäftigt: Namhafte Regisseure meinten, man brauche seine Stücke kaum zu bearbeiten, weil sie, indem sie manche spätere Stilrichtung vorwegnehmen, auch heute modern und aktuell sind. Sie haben Nestroys Nähe zum modernen Drama in allen seinen Spielarten betont: sozialkritisches Volksstück, episches und groteskes Theater, forcierte Künstlichkeit theatralen Spiels, aber auch politisches Kabarett. Martin Esslin stellte fest, Nestroy nehme in seinen „unbarmherzigen Parodien des hochtrabenden Dramas […] manche Charakteristika des Theaters des Absurden“ vorweg. Das von Bayern und Österreich ausgehende neue Volksstück nach 1970 erinnert an die Dramaturgie Nestroyscher Possen, besonders an die kritische Funktion des Dialekts. Der Wahrnehmung tiefgreifender sozialer Umbrüche entspricht eine moderne Dramaturgie des Zeigens und der Thematisierung des Sprechens.

Nestroys neue Dramaturgie und das moderne Drama

Als Nestroy zu Beginn der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts auf den Wiener Vorstadtbühnen erschien, hatte man sich dort gerade an die gegenüber der KongreßzeitPosse subtileren Formen der Komik Raimunds gewöhnt, während sich Inhalt und Umfang der Volkskomik inzwischen weiter wandelten. Friedrich Schlögl beschreibt in seinen Erinnerungen Vom Wiener Volkstheater (1883) das Erscheinen Nestroys so: „Da ergoß sich urplötzlich über die Stadt der spezifischen Sorglosigkeit und ,Gemütlichkeit´ ein Schwefelregen von infernalischem Witz, eine Sturmflut ätzender Lauge brauste heran, ein Wirbelwind dialektischer Bravouraden erfaßte sie“, und der Burgschauspieler Karl Ludwig Costenoble notiert in sein Tagebuch: „Wie komisch Nestroy auch zuweilen wird − er kann das Unheimliche nicht verdrängen, welches den Zuhörer beschleicht.“ Friedrich Theodor Vischer urteilt: „Er verfügt über ein Gebiet von Tönen und Bewegungen, wo für ein richtiges Gefühl der Ekel, das Erbrechen beginnt.“ Nestroys neue Komik, bei der einem das Lachen im Halse stecken blieb, war alles andere als harmlos, was in seinem Sinne soviel wie „geistlos“ bedeutete; in der Posse Unverhofft (1845) läßt er den Unterschied zwischen „harmlos“ und „geistlos“ so definieren: „Wenigstens kein großer Unterschied, denn nur der geistlose Mensch kann den Harm übersehen, der überall durch die fadenscheinige Gemütlichkeit durchblickt.“

Nestroys herausfordernder, aggressiver Stil, durch eine oft pessimistische Satire getönt („Ich glaube von jedem Menschen das Schlechteste, selbst von mir, und ich hab‘ mich noch selten getäuscht.“), fand ungeachtet der moralischen Entrüstung vieler Zeitgenossen bald ein begeistertes Publikum, das den theatralischen Stilwandel auf den Wiener Vorstadtbühnen vom parodistischen Zauberspiel zur satirischkritischen Posse erkannt hatte. Bezeichnend für das anfängliche Schwanken der Kritik zwischen Bewunderung und Verdammung sind auch die Urteile Friedrich Hebbels, der Nestroy einmal „Genius der Gemeinheit“ nennt und von den „Augiasställen“ spricht, die er hinterlasse, auf der anderen Seite aber ausruft: „Sicher wird ein Kunstverständiger für einen einzigen Nestroyschen Witz de premiére qualité eine Million gewöhnlicher Jamben hingeben.“ Besonders negativ waren die Urteile der sog. „Jungdeutschen“.

Aber auch vor der Gefahr wird gewarnt, die von Nestroy ausgehe. Der bereits zitierte Costenoble schreibt, die Spielart Nestroys erinnere ihn „immer an diejenige Hefe des Pöbels, die in Revolutionsfällen zum Plündern und Todschlagen bereit ist“, und Hebbel meint, die Furcht vor dem „Hereinbrechen der ungezügeltsten Anarchie“ sei gerechtfertigt, „wenn man die Wiener Vorstadttheater mit ihrem Nestroy kennt“. Die Zeitgenossen sahen wohl das Neue im dramaturgischen Stil Nestroys − von späteren Kritikern auch als „proletarischer Zug“ bezeichnet −, aber sie empfanden es − meist ablehnend − als Bruch mit den liebgewordenen Traditionen. Seine Zeit, Sozial und Ideologiekritik, dargestellt mit Mitteln des Unterhaltungstheaters, die moderne Struktur der Stücke − kommentierender Stil, offene Dramaturgie und Gleichgewichtigkeit von Satire (Wirklichkeitsbezug) und Spiel (theatrale Fiktion) − wurde von den Zeitgenossen nur zum Teil verstanden. Seine Nachfolger bedienten das Publikum wieder mit leichter Kost, und erst Ludwig Anzengruber, der wie Nestroy spürte, daß mit der Dramatik allgemein auch die volksstückhafte Darstellung von Wirklichkeit unter kritischer Perspektive in eine Krise geraten war, versuchte an den neuen Stil Nestroys anzuknüpfen.

Erst das 20. Jahrhundert entdeckt in stärkerem Maße die sprachsatirische Seite der Nestroyschen Stücke, die geistvolle Kritik, die sich des Spiels bedient, um − in Zeiten der Zensur und Unterdrückung − überhaupt bis zum Zuschauer gelangen zu können. Peter Szondi formuliert in seiner Theorie des modernen Dramas den neuen Verstehensprozeß der auch für das Theater Nestroys gelten kann, so: „Weil aus der Form eines Kunstwerks immer Unfragwürdiges spricht, gelingt die Erkenntnis solcher formalen Aussagen meist erst einer Zeit, der das einst Unfragwürdige fragwürdig, das Selbstverständliche zum Problem geworden ist.“ Bei Nestroy findet sich schon jene Dialektik von Form und Inhalt, von Subjekt und Objektbeziehung, die für das moderne Drama spezifisch ist und die alle überkommenen Formen sprengt, welche nach Szondi Drama als die „Dichtungsform des je gegenwärtigen zwischenmenschlichen Geschehens“ und damit die Darstellung „zwischenmenschlicher Aktualität“ verhinderten. Nestroy bricht mit der Possentradition des alten Wiener Volkstheaters, er macht die Posse zu wirklichkeitsbezogener Darstellung menschlicher und sozialer Probleme fähig, indem er in der Dialektik von Form und Inhalt zeitloskomische Spielschablonen mit aktueller satirischer Thematik verbindet. Bei ihm erhält die Komödie − wie das Volksstück im Sinne Brechts − eine Doppelfunktion: Das komische Spiel erzeugt beim Zuschauer Vergnügen und Spaß am Dargestellten, zeigt aber in der Satire zugleich dessen Widersprüchlichkeiten auf.

Das Couplet als Spiel und Satire

Blickt man auf die Zentralthemen der Nestroyschen Possen − etwa die Kommerzialisierung aller Lebensbereiche und Werte, das Verhältnis von Knechtschaft und Herrschaft, Willkür und Größenwahn der Herrschenden, die konventionelle Moral des Kleinbürgertums und sentimentalen Spießbürger, die Macht des Geldes, die Lage der gesellschaftlich Deklassierten, die Krise sprachlicher Kommunikation (Aufspüren von Sprachbarrieren zwischen Dialekt und Hochsprache, Entlarvung von Phrasen und falschem Pathos) − und ihre kritische, mit Mitteln der Parodie, Satire und Karikatur arbeitende Darstellung, z.T. auf vorliterarische Elemente populären Theaters zurückgreifend, so wird die inhaltliche und strukturelle Affinität zum modernen Drama − etwa bei Wedekind, Sternheim, Horváth, Canetti und Brecht − sowie zu zeitgenössischen Inszenierungsformen (Pop-, Soap-, Trash-Theater) offenbar.

In Sätzen wie: „Was? Der Herr is ein Knecht?“ oder: „Es spricht sich deutlich aus, daß der Mensch viel zu wenig is, wenn er nix is als ein Mensch“, spürt die Satire in der Unzulänglichkeit der Sprache die Widersprüchlichkeit der Welt und der Menschen auf. Sie enthüllt die Problematik sprachlicher Kommunikation in der Sprache selbst; sie spielt mit den durch alltäglichen Gebrauch abgenutzten oder mißbrauchten Wendungen, um die in ihnen liegende Wahrheit wieder ans Licht zu bringen.

Charakteristisch für die satirische und die Spielfunktion in Figurengestaltung, Handlung und Sprache sind vor allem die Couplets, die eine Distanz zwischen den Zuschauer und das auf der Bühne dargestellte Spiel legen. Sie betonen einerseits die Spielwirklichkeit des Dargestellten, geben aber darüber hinaus dem Zuschauer die Möglichkeit, den Sinngehalt des Couplets auf die reale Wirklichkeit zu beziehen. Durch ihren reflektierenden Charakter stellen sie einen Übergang zwischen dem Besonderen des Dargestellten und dem Allgemeinen der Erfahrungswelt her. Ihre Liedhaftigkeit dient zugleich der spielhaften wie der satirischen Wirkung. Sie sind „Stücke im Stück“, die nicht nur durch ihre an den Bänkelsang erinnernde komischdramatische Grundstruktur mit der Komödie verbunden sind, sondern auch durch ihren Bezug zur Idee des jeweiligen Stücks. Die Funktion der Liedeinlagen bei Nestroy weist voraus auf den Song bei Brecht. Das Couplet ist ein Mittel der Verständigung zwischen Publikum und Bühne und dient der „offenen Dramaturgie“, welche die Welt des Stückes in Distanz zur Außenwelt zu hält. Auch hier zeigen sich Parallelen zur heutigen Inszenierungspraxis.

Nestroys moderne Einakter

Nicht nur in der differenzierten dramatischen Struktur von Spielebene und Kommentarebene, sondern auch mit seinen Einaktern ist Nestroy ein Vorläufer des modernen Dramas. Von unbedeutenden Gelegenheitsarbeiten abgesehen, hat er drei Einakter geschrieben. Die schlimmen Buben in der Schule (1847), Häuptling Abendwind oder Das gräuliche Festmahl und Frühere Verhältnisse (beide 1862) können als frühe Vertreter einer nach 1880 immer häufiger auftretenden Dramenform (z.B. bei Strindberg, Schnitzler, Hofmannsthal, Wedekind und den Expressionisten) betrachtet werden. Der Einakter entsteht aus einer einzigen dramatischen Situation, er konzentriert sich auf wenige Motive, er reduziert und radikalisiert. Er verbindet die dramatische Längsspannung mit kontrastierender Bild-Gestaltung. Seine spezifische Thematik ist die Darstellung des Widerspruchs, besonders der sozialen Gegensätze. Wo in den überlieferten Formen des Dramas die Spannung zu verflachen droht, gewinnt der Einakter in der konsequenten Reduktion auf das Beispielhafte und Sinnbildliche neue dramatische Potenz. Solche Reduktion führt dazu, daß jegliches Beiwerk bloß szenisch Vordergründiges in der knappen und klaren Ganzheit des Einakters bedeutsam wird; er ist durchsichtiges Beziehungsgeflecht aller Elemente. Der Einakter neigt weniger zur Darstellung einer Entwicklung, er schildert das Bildgewordene, das Statische und hat eine Affinität zur pessimistischen Darstellung des Menschen in seiner Gesellschaft.

Wenn Nestroy in Die schlimmen Buben in der Schule die Schule als Bild der verkehrten Welt darstellt und in Frühere Verhältnisse in einem durch raffinierte Verschränkung begrenzten Handlungsrahmen nur vier Personen auftreten läßt, die durch ihre „früheren Verhältnisse“ geprägt und miteinander verbunden sind, entspricht er Gattungseigenschaften des modernen Einakters. Seine Einakter sind in der Konzentration auf wenige Bilder satirische Momentaufnahmen der in ihrer Verkehrtheit verfestigten menschlichen Gesellschaft.

An diesem Punkt setzen auch Brecht, Horváth, Canetti und Marieluise Fleisser sowie das neue Volksstück an, indem sie an die von Nestroy begonnene sozialkritische Intention, dabei in verschiedener Weise die Determination des Individuums durch die gesellschaftlichen Verhältnisse darstellen.

Nestroy und Brecht

Parallelen zwischen der satirischen Komödie Nestroys und dem epischen Theater Brechts, der wohl durch Karl Valentin zu Nestroy fand, machen in besonderer Weise die enge Verknüpfung Nestroys mit dem modernen Drama deutlich (z.B. im publikumsbezogenen Spiel, in der Figur des Sängers, in den Formen der Distanzierung und Poetisierung des Theaters durch musikalische Einlagen, Spiel im Spiel und in der Funktion von Komik und Verfremdung). Die an Nestroy erinnernde desillusionierende Dramaturgie wird am ehesten in Brechts Herr Puntila und sein Knecht Matti deutlich. Hier wird das Lustspielmotiv der Trunkenheit so zur widerspruchsvollen Charaktergestaltung Puntilas verwendet, daß die verschiedenen Seiten desselben Menschen sich auf spielerische Weise wechselseitig erhellen und satirische Funktion erhalten. Das dialektische Spiel demaskiert die „verkehrte“ Welt Puntilas, der nur freundlich ist, wenn er betrunken ist, das heißt sich aus der Wirklichkeit in sein finnisches Wunschreich zurückgezogen hat, in dem alle gleich sind, wo der Knecht ungestraft Geld aus der Kasse seines Herrn nehmen darf. In Wirklichkeit aber, im GutsbesitzerAlltag ist er unmenschlich („sternhagelnüchtern“. So greifen auch bei Brecht Spiel und Satire ineinander, um dem Zuschauer das vollständige, widerspruchsvolle Bild der Welt Puntilas zu entwerfen. Satirisches Organ des Volksstücks ist der Chauffeur Matti − wie in der Posse Nestroys eine Dienerfigur! –, der sich einerseits in der Abhängigkeit des Dieners und des Unterdrückten befindet, anderseits aber eine desillusionierende Selbstbewußtheit zeigt.

Wie bei Nestroy schafft das Spielhafte, das im Prolog zum Puntila wie in der sprachlichen Gestaltung und szenischen Struktur (z. B. in den Liedern oder im Spiel im Spiel) angelegt ist, Anlässe zur Satire. Realismus und Artistik, Satire und Spiel ermöglichen den zugleich „artistischen“ und „natürlichen“ Stil, den Brecht für das Volksstück fordert. Die Dramaturgie des Brechtschen Volksstücks wie die der Nestroyschen Posse setzt ein betroffenes Publikum voraus, das sieh aus der kritisierten Gesellschaft nicht herausnehmen kann. Während Brecht durch Spiel und Spaß die Wirkung der Satire auf den Zuschauer zu intensivieren und ihn zur Änderung der dargestellten Verhältnisse zu bewegen sucht, steht Nestroys Spiel einer Änderung pessimistisch gegenüber. Auch bei ihm intensiviert das Spielerische das Satirische, da aber der Glaube an eine bessere Welt fehlt, dringt die Satire weniger auf eine Änderung, sondern kehrt zurück in das Spiel mit der vernichteten, schlechten Welt. Nestroy spielt die Gegensätzlichkeit der Welt und der Gesellschaft satirisch aus, um Lachen zu erzeugen. Ihm geht es in der Komödie nicht um die Änderung der sozialen Verhältnisse, ja er zeigt sogar, weil ihm Brechts Optimismus fehlt, daß diese wegen der ständigen Unzulänglichkeit der Menschen nicht zu ändern sind. Nestroys desillusionierendes Verfahren hat hierin eher eine Parallele bei Horváth, dem ebenfalls Brechts Optimismus fehlte und der 1932 schrieb, er wolle nichts anderes, „als die Welt so zu schildern, wie sie halt leider ist“.

Bei Nestroy hätte das „Volksstück“ wohl mit der Besserung Puntilas und einer LustspielHeirat zwischen Matti und Eva geendet. Brecht begnügt sich nicht mehr mit dem unterhaltenden Spiel und dem versöhnlichen Schluß, auch wenn dieser in sich selbst schon satirisch ist. Nestroy hält sich hier an Schopenhauer, nach dem „sich das Lustspiel beeilen muß, im Zeitpunkt der Freude den Vorhang fallen zu lassen, damit wir nicht sehen, was nachkommt“. Brecht geht über diese schwebende Offenheit des Schlusses hinaus, bietet dem Publikum eine ,operative’ Lösung an; die Komödie wandelt sich zum Lehrstück.

Nestroy und die Erneuerung des Volksstücks

Nestroys Dramaturgie hat den Blick für die vielfältigen Darstellungsmöglichkeiten bedrängender Wirklichkeit mittels Spiel und Satire, Fiktionalisierung und Fiktionsbruch, Theatralisierung und Gesellschaftskritik, wie sie im 20. Jahrhundert (u.a. bei Wedekind, Sternheim, Schnitzler, Thoma, Hofmannsthal, Canetti, Horváth, Soyfer, Valentin, Qualtinger, Kroetz, Turrini, Mitterer, Specht, Loher) zu finden sind, geschärft. Spuren bewußter und unbewußter Anknüpfung an Nestroy lassen sich vor allem in der Erneuerung des sozialkritischen Volksstücks sowie unter jeweils anderer Akzentuierung bei Wolfgang Bauer, Alfred Paul Schmidt, Thomas Bernhard, Heinz R. Unger, Elfriede Jelinek, H.C. Artmann und Werner Schwab finden.

Um 1924 versuchen Brecht, Zuckmayer, Horváth und Marieluise Fleisser − jeder auf andere Weise − eine Erneuerung dessen, was man den proletarischen Zug am Volksstück nennen könnte. Zuckmayer gewinnt jene − auch sprachliche − Vitalität für das Volksstück zurück, welche die Lokalposse früherer Zeiten auszeichnete. Der skandalbegleitete Fröhliche Weinberg wollte den „einfachen, unverbildeten, vorurteilslosen“ Menschen ansprechen. Nicht von der Unterdrückung der vitalen Bedürfnisse beim Volk geht die Fleisser in Fegefeuer in Ingolstadt und Pioniere in Ingolstadt aus, sondern von der beengenden Lebensform der Provinz, die sich vor allem in der „geliehenen“ Sprache artikuliert. Ihre Figuren benutzen in Sprache und Gesten angelernte und anerzogene Stereotypen. Sie müssen sich in einer Sprache mitteilen, die sie nicht beherrschen. Fleissers Dramen sind umgekehrte Volksstücke, die Figuren sind negative Helden, erregen fast Mitleid, weisen aber über die private Sphäre hinaus auf die sozialen Verhältnisse, deren Produkt sie sind. Canettis Hochzeit nutzt Volksstück-Elemente zur Darstellung des Zusammenbruchs einer korrupten Gesellschaft. Rolf Hochhuths Wessis in Weimar zitiert dagegen Nestroys szenisches und sozialsymbolisches Arrangement (Zu ebener Erde und erster Stock) nur mehr äußerlich. Frank Castorfs Krähwinkelfreiheit. Karambolage nach Nestroy (Text: Thomas Martin) ist eine verfehlte Collage, die nicht aus der Sprache heraus inszeniert und übersieht, daß die theatrale Aktion die Problematik gesellschaftlicher Kommunikation sowie der Kommerzialisierung und Mechanisierung der Lebensverhältnisse transportiert. Dies leisten eher heutige Adaptionen von Comedy- und Soap-Opera-Formen und die kritische Verwendung von Versatzstücken der „volkstümlichen“ Fernsehunterhaltung.

Die Entdeckung der Sprache, des Dialekts nicht als Lokalkolorit, sondern als sozialer Faktor, als Instrument kritischer und satirischer Gesellschaftsanalyse macht auch die wesentliche Qualität der Volksstücke Horváths aus. Ihm schwebte so etwas „wie die Fortsetzung des alten Volksstücks“ mit anderen Mitteln und für eine andere Gesellschaft vor. „Man müßte ein Nestroy sein, um all das definieren zu können, was einem undefiniert im Wege steht“, schreibt er 1938 an Csokor, und in dem Versuch einer „Synthese zwischen Ironie und Realismus“ knüpft er an den spezifischen Stil Nestroys an. Auch Horváths Figuren verfügen − wie viele Nestroys −, wiewohl sie den vertraut klingenden Dialekt sprechen, nicht über ihre Sprache. Sprachkompetenz und Sozialkompetenz der Figuren fallen auseinander und führen zur „Demaskierung des Bewusstseins“ bei Kleinbürgern und Spießern.

Auf die Umkehrung von Dialekt und Volksstück bei Fleisser und Horváth, auf die Erkenntnis des revolutionären Zugs der vitalen Sphäre durch Zuckmayer und die − an Nestroy anknüpfende − durch das Theater Brechts geförderte Dramaturgie, mit Mitteln der Unterhaltung zugleich zu demaskieren, greift das Volksstück der siebziger Jahre zurück. Es erneuert − zum Teil unter ausdrücklicher Berufung auf Fleisser und Horváth − Intentionen des Volksstücks aus dem Dialekt heraus. Kroetz meinte, bei den Songs in seinen Stücken habe er „immer mehr an Nestroy als an Brecht gedacht“. Ebenfalls zeigen sich die von Nestroy entdeckten vielfältigen Eigentümlichkeiten des Dialekts − als regionale Sprache, Soziolekt, FolkloreElement, Jargon − und seine Funktionen − Anbiederung, realistischkritische Spontaneität, Sprachkritik, Instrument gesellschaftlicher Analyse.

Die zurückgewonnene Literaturfähigkeit des Dialekts hat hier keine Unterhaltungsfunktion mehr; denn Leid und Unterdrückung, dargestellt in der gestörten Kommunikation, haben nichts Unterhaltendes. Der Dialekt, das vertraut Klingende, zerstört das Vergnügen am Zuschauen, ist eine (ohnmächtige) Revolte der „Sprachlosen“ gegen die Verhältnisse, in denen sie zu Marionetten degradiert sind. Das alte Volksstück war Komödie, das neue steht der Tragödie nahe. Die Korruption von Sprache und Heimat, der das alte Volksstück schon zu Zeiten Anzengrubers, spätestens aber in der „Heimatkunst“ Bewegung und „BlutundBoden“ Ideologie verfallen war, wird vom neuen Volksstück durch die Umkehrung des Dialekts, durch eine Reflexion auf die sozialen und regionalen Bindungen aufgehoben. Dabei zeigt sich zugleich die Korrumpierbarkeit von Sprache überhaupt, etwas, das − zumindest ansatzweise − in den Stücken Nestroys schon zu spüren ist, ebenso die potenzierte Theatralität als Mittel der Kritik an Wirklichkeitsverlust und zum Klischee verkommenen Menschenbild. Sahen die Zeitgenossen in Nestroy entweder den „Zerstörer“ oder den „Vollender“ der Tradition des Wiener Volkstheaters, so erscheint er uns heute als vormoderner Theatermacher, dessen Spuren bis in die postmoderne Dramaturgie reichen.