Nestroy-Gespräche 2013: Bericht

Irdische, himmlische und poetische Gerechtigkeit bei Nestroy und Raimund

 

 

Die 39. Internationalen Nestroy-Gespräche nahmen unter dem Motto „Gerechtigkeit is das erste […]“ den Komplex „Irdische, himmlische und poetische Gerechtigkeit bei Nestroy und Raimund“ in den Blick. Dabei wurden nicht nur ein komplexes Forschungsfeld, sondern auch eine aktuelle soziale Problematik aufgegriffen. Ein paar Bemerkungen zur Einführung:

Befragt werden sollen das Verhältnis von Literatur und Recht, Kriminalität und Literatur, Rechtsfälle in der Literatur und Literatur als Rechtsfall, Ethik und Ästhetik in der Literatur und auf dem Theater, die „Gerichtsbarkeit der Bühne“ (Schiller) und die Komödie als „Tribunal“, schließlich auch der Komplex Theatergesetze, Urheberrecht, Zensur und Theaterpolizei, um nur einige Brennpunkte zu nennen.

Nestroy war kein „Dichterjurist“, aber doch durch seinen Vater und sein eigenes juridisches Studium geprägt. Als Schauspieler, Autor und Theaterdirektor wurde er „straffällig“ und hatte – als „Täter“ und als Opfer“ – mit Polizei und Justiz, Recht und Gesetz zu tun. In vielen seiner Possen geht es um Gerechtigkeit, Strafe und Bewährung. Delikte, Verbrechen, Rechtsbruch sind in der Posse „systembedingt“ und gattungskonform. Eine Auflistung der Vergehen nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch oder dem Strafrecht wäre wenig aufschlussreich, wichtiger ist das Motiv als dramatisches Movens mit gesellschaftlichen Implikationen. Zumeist gibt es eine „Possengerechtigkeit“: ein Happy End mit der Wiederherstellung der „gestörten“ sozialen Ordnung sowie Bestrafung, Begnadigung, Vergebung oder Amnestie für reuige Bösewichte oder unrechtmäßige Abenteurer, nicht selten mit einer Hochzeit als „verdienter“ Strafe – auch ein Instrument ausgleichender Gerechtigkeit.

‚Negative’ Volksfiguren, Intriganten und Störenfriede wie Nebel, Johann, Rochus, Puffmann, vielleicht auch Vincenz, werden in ihrer Unverbesserlichkeit vorgeführt, ihre „Resozialisierung“ erscheint fraglich. ‚Positive’ Volksfiguren wie Kasimir oder Peter Span erscheinen als „Rächer“ (so auch der Entwurftitel von Heimliches Geld, heimliche Liebe). In solchen Possen erleben wir die geglückte Verbindung von privaten und öffentlichen „Rechtsfällen“. Besonders in den Stücken vor und nach der Revolution von 1848 hat Nestroy die – auch philosophische – Problematik von Recht und Rechtsprechung aufgegriffen. [1] Raimunds Märchenwelt und Nestroys Possenwelt spiegeln auf ihre spezifische Weise Recht und Gewalt (familiale, körperliche, psychische, ökonomische, politische) und fordern das Publikum auf, zwischen poetischer und realer Gerechtigkeit zu differenzieren.

Martin Stern (Basel, CH) führte mit „Dreimal poetische Gerechtigkeit: Beethovens Fidelio, Raimunds Alpenkönig und Nestroys Mädl aus der Vorstadt“ in die Problematik des Rechtsbegriffs vor dem christlichen Hintergrund und im historischen Wandel ein und wies auf die fortschreitende Säkularisation hin; bei Raimund agiere noch eine höhere Macht, während bei Nestroy die Transzendenz fehle. Hier erhält schließlich jeder ‚sein’ Recht bis hin zur Selbstgerechtigkeit und Selbstjustiz. Dem Hinweis auf Gottfried Kellers Novelle Die drei gerechten Kammmacher wäre nachzugehen.

Yvonne Nilges (Heidelberg und Eichstätt, D) untersuchte Recht und Witz in Nestroys theatraler Rechtswelt, in der eine humoristische Nemesis herrsche und der Witz als Kunst des Zusammendenkens von Widersprüchen fungiere. Sprachwitz und Rechtssprache überlagern sich, wobei sich Nestroy auch als Kommentator der Rechtssituation seiner Zeit – besonders 1848/49 – zeige. Diskutiert wurde auch der Zusammenhang mit Nestroys Schicksalsbegriff, der auch schon früher Gegenstand von Nestroy-Gesprächen war. [2]

Alice Le Trionnaire-Bolterauer (Graz, A) übertrug ein Modell der Ritualforschung (Dreischritt: Krise – Chaos – Wiederherstellung der Ordnung) auf gesellschaftliche Vorgänge in Raimunds und Nestroys Stücken, wobei die Happy Ends Wiederherstellungsinstallationen seien. Bei Nestroy bleibe allerdings die „Unordnung“ auch am Ende bestehen. Auch Johann Sonnleitner (Wien, A) betrachtete mit ‚Unbestimmte Ordnung‘ und ‚poetische Gerechtigkeit‘ in Nestroys Lumpacivagabundus-Komplex“ den Ordnungsdiskurs, vor allem „Ruhe und Ordnung“ als obrigkeitsstaatliche Form im Vormärz. Die Verbindlichkeit der „verordneten“ Ordnung – wie im „Besserungsstück“ üblich – wird bei Nestroy unterlaufen. Er treibe ein subversives Verwirrspiel mit dem Reich der Unordnung, wobei sich auch ein Zusammenhang mit dem Gerechtigkeitsverständnis im Kontext der Veränderung sozialer Verhältnisse ergibt.

Henk J. Koning (Putten, NL) zeigte, wie Nestroys Figuren Rechtsempfinden und Gerechtigkeitsgefühl artikulieren und öffnete den Blick auf den Bildungsdiskurs.

Marion Linhardt (Bayreuth, D) griff das Problem der sozialen Wirksamkeit von Theater auf und erörterte „theaterästhetische Überlegungen“ zu Denis Diderots Comédie Le Père de famille und Nestroys Das Mädl aus der Vorstadt. Im Kontext der Theorie Diderots und seiner Einführung eines „genre serieux“ stellt sich die Frage, ob auch Nestroy „Einfühlung“ und „Mitleid“ sowie eine moralische Wirkung im Auge hatte. [3] Linhardt forderte, Nestroy aus internationaler Perspektive neu zu lesen, um seine Komplexität zu erkennen.

Reinhard Urbach (Wien, A) gab unter dem Titel „Von Schnoferl und Naderer. Agenten in der österreichischen Literatur vor und nach 1848“ einen Überblick über „Geheimdienst“ und Agentenwesen seit Josef von Sonnenfels‘ Grundsätze der Polizey, Handlung und Finanz (1769-76) und erinnerte an Charles Sealsfields Äußerungen über das Spitzelwesen (Austria, as it is). Er analysierte Rolle und Funktion der Informanten, Denunzianten, Schnüffler in der „Überwachungsgesellschaft“ an prägnanten Beispielen (u.a. Friedrich Wilhelm Hackländer, Der geheime Agent; Sigmund Schlesinger, Der Hausspion; Anton Langer, Der alte Narr, Ein Wiener Polizeiroman von 1848) und zeigte, wie auch Nestroy die Thematik in Das Mädl aus der Vorstadt und Frühere Verhältnisse theatralisierte.

Ein wesentliches Instrument der Überwachung waren Buch- und Theaterzensur. Die Buchzensur verbot allein im Zeitraum zwischen 1830 und 1848 170 französische Theaterstücke (u.a. Delavigne, Dumas, Victor Hugo, Scribe), wie Norbert Bachleitner (Wien, A) mit Blick auf die von ihm erstellte Zensur-Datenbank ausführte. Die Gründe für die Verbote erläuterte er an Balzacs Vautrin und Les Mississippiens von George Sand. [4]

Die Diskussion der Referate mündete in eine Gesprächsrunde mit Statements von Walter Pape (Köln, D): „Hinrichtungen und Hochzeiten: Das Ende der weltlichen Gesetze“ und Johann Hüttner (Wien, A): „Gerechtigkeit und Recht in der Theaterrealität: Das Ende der poetischen Gerechtigkeit hinter der Bühne“. Es wurde deutlich, dass in der fiktionalen Komödienwelt Nestroys die „poetische Gerechtigkeit“ ins Zwielicht gerät und auch die realen Theaterverhältnisse alles andere als von Recht und Gerechtigkeit bestimmt wurden (u.a. ‚Nützlichkeit’ der Zensur; Theatergesetze, Verträge und Abhängigkeiten), was Nestroy übrigens auch theatralisch verarbeitete. [5]

Im Kontext der Schwechater Aufführung (Inszenierung: Peter Gruber) von Die beiden Herrn Söhne (1845) ging es um einen weiteren Schwerpunkt der Gespräche: um ‚richtige‘ Erziehung einerseits und „Bildungsverweigerung“ andererseits als gesellschaftliche Prozesse, die in der Literatur spätestens seit dem „Bildungsroman“ und seiner Negation, Auflösung oder Dekonstruktion gespiegelt werden.

W. Edgar Yates (Exeter, GB) führte unter dem Titel „Nestroy’s neueste Posse trägt fast alle Fehler zur Schau, die wir an unseren Volksstücken beklagen“ in den Entstehungs- und Wirkungskontext des Stückes ein (u.a. Vorwurf der „Gemeinheit“, Posse-Vaudeville-Volksstück-Diskussion) und nannte einige Gründe für den unerwarteten Misserfolg. Die Posse wurde bis heute nicht mehr gespielt und erfuhr nun in Schwechat eine Wiederbelebung, für die Yates schon in der HKA plädiert hatte. [6] Die Schwechater Inszenierung löste dies in einer geglückten Kürzung und Verdichtung (vieraktige und nie aufgeführte fünfaktige Fassung) in einer Modernisierung ohne große Eingriffe, mit den drei charakteristischen Couplets in einer heutigen musikalischen Interpretation, die das Stück „teilweise erschreckend aktuell erscheinen“ lässt. [7]

In der Sektion „Funde, Fragen, Berichte“ fragte Kerstin Hausbei (Paris, F), was von Nestroy bleibe, wenn Der Talisman in ein stummes Spiel übertragen werde, wie in Marcel Marceaus Mimodram Les trois perruques (1953). [8] Anhand erstmals präsentierter Dokumente und im Kontext von Medienwechsel und Kulturtransfer erläuterte sie die Vorgehensweise des Pantomimen, der Handlungen und Gebärden in seine ‚Sprache‘ übersetzt, ferner Figuren spaltet und fusioniert, wobei die Tiefenstruktur der sozialen Konstellationen und die symbolische Ebene Nestroys erhalten bleibt.

Julius Lottes (Wien, A) öffnete eine neue Sicht auf Adolf Bäuerle, in dessen Possen Die Bürger in Wien (1813) und Der Fiaker als Marquis (1816) er ein subversives Element herausarbeitete, welches das Publikum angesichts der öffentlichen Kommunikationssituation und der Anspielungskultur zum Gegenlachen herausforderte. In der Diskussion wurde aber auch die Subversivität des patriotischen Bäuerle bezweifelt.

Matthias Mansky (Wien, A) wandte sich gegen eine einseitige Kanonisierung des Wiener Volkstheaters, die Fortschreibung der These vom „Niedergang“ und regte die Digitalisierung eines größeren Textkorpus an. [9] Anton Langers Posse Die Mehlmesser-Pepi (1857) zeige, wie didaktische und patriotische Momente sowie Anspielungen auf die aktuelle Zeitwirklichkeit in das Unterhaltungstheater integriert werden, das als Reflexionsmedium politischer und sozialer Verhältnisse dient. Allerdings könne die Entpolitisierung nach 1850 nicht geleugnet werden.

Sigurd Paul Scheichl (Innsbruck, A) präsentierte einen Fund aus der Innsbrucker Zeitschrift Der Scherer. Das Blatt, das völkische und antiklerikale Positionen vertrat, brachte 1901 eine Nestroynummer heraus, in der der Dramatiker als Vertreter des „eigentlichen Wesens des Wiener Volkstums“ bezeichnet wird.

Beatrix Müller-Kampel (Graz, A) berichtete über Raimund- und Nestroytexte im Puppentheater des 19. Jahrhunderts (Theatersammlungen Dresden und Köln).

Matthias Schleifer (Bamberg, D) deutete die Nestroyrezeption des österreichischen Philosophen Paul Feyerabend (1924-1994), der Nestroy bewunderte und in ihm ein Vorbild für eine nicht-intellektuelle Darstellungsweise sah.

Johann Lehner (Wien, A) stellte den elektronischen Index zu Nestroys Stücken und Briefen auf der Basis der Haupttexte der HKA (1977-2012) vor, erklärte den Ertrag für die Forschung und wies auf Verknüpfungsmöglichkeiten hin. Wünschenswert wäre auch die Einarbeitung der Nestroy-Texte in den Kritischen Apparaten der Ausgabe.

Die Exkursion, von Walter Obermaier (Wien, A) eingeleitet, führte durch die Ausstellung des Wienmuseums „Wiener Typen – Klischee und Wirklichkeit“. Der Direktor des Museums und zugleich Kurator der Ausstellung, Wolfgang Kos, stellte die im Wiener Volksleben und Theater sowie in Raimunds und Nestroys Stücken vorkommenden Figuren (Barometermacher, Aschenmann, Harfenist, jüdischer Hausierer u.a.) und ihr Fortleben bis in die Gegenwart dar. [10]

Einen Ausklang bot die von Musikbeispielen begleitete Vorstellung des „Vereins zur Pflege und Weiterentwicklung historischer Praxis“ (www.des-is-klassisch.at).
(Jürgen Hein)

 

 

1 Vgl. auch den Abschnitt „Polizei – Justiz – Räuber – Gesetz“ in HKA Stücke 28/II, hg. von Walter Obermaier, S. 122–126.
2 Vgl. Jürgen Hein und Karl Zimmel, „Drum i schau mir den Fortschritt ruhig an …“. 30 Jahre Internationale Nestroy-Gesellschaft, 30 Jahre Internationale Nestroy-Gespräche, Wien 2004.
3 Vgl. auch Nestroys Kommentar zum Zensurakt zu Mein Freund, HKA Stücke 30, hg. von Hugo Aust, S. 450-461 und HKA Dokumente, hg. von Walter Obermaier, S. 104.
4 Vgl. Norbert Bachleitner, ‚Die Theaterzensur in der Habsburgermonarchie im 19. Jahrhundert’, in: LiTheS, Nr. 5, November 2010, S. 71–105; ders., ‚Die Zensur der Habsburger. Zur Datenbank der in Österreich zwischen 1750 und 1848 verbotenen Bücher’, in: Zensur im 19. Jahrhundert, Das literarische Leben aus Sicht seiner Überwacher, hg. von Bernd Kortländer, Enno Stahl, Bielefeld 2012, S. 255–267.
5 Vgl. Jürgen Hein, ‚„Aus’n Begeisterungstempel in’s schnöde Wirtschaftsleben“ oder „Bretter- und Leinwand-zusammengeflickte Coulissenwelt“ als Geschäft und Profession. Johann Nestroy und sein Theater’, in: J. N. Nestroy, Tradizione e trasgressione, a cura di Gabriella Rovagnati, Milano 2002, S. 23–42.
6 Vgl. auch HKA Stücke 22, hg. von W. Edgar Yates, S. 2 und 199.
7 Vgl. Peter Grubers Überlegungen im Programmheft der Schwechater Aufführung, S. 10.
8 Vgl. Kerstin Hausbei, Austriaca, 2013
9 Vgl. auch Jürgen Hein, ‚Spieltexte des Wiener Volkstheaters: Von der Handschrift zum „Manuskriptdruck“’, in: Medienwandel / Medienwechsel in der Editionswissenschaft, hg. von Anne Bohnenkamp-Renken (Beihefte zu editio 35), Berlin / Boston 2012, S. 91–97.
10 Wiener Typen – Klischees und Wirklichkeit, Katalog der 387. Sonderausstellung des Wien Museum, Wien 2013.