Nestroy-Gespräche 2012: Bericht

Tod und Überleben bei Raimund und Nestroy

 

 

Die 38. Internationalen Nestroy-Gespräche (3. bis 7. Juli 2011) auf Schloss Altkettenhof (Justiz-Bildungszentrum) widmeten sich im 150. Todesjahr Nestroys dem Thema „Tod und Überleben bei Raimund und Nestroy“ sowie dem Wandel und der Revision des Nestroy-Verständnisses seiner „Nachwelt“, mit der Karl Kraus vor 100 Jahren scharf ins Gericht gegangen ist.

Ein paar Bemerkungen zur Einführung: Mit der Neuedition der Werke Raimunds und Nestroys ist auch das biographische Interesse im Kontext des kulturellen Feldes „Volkstheater“ wieder erwacht. [1] Die Neubewertung der überlieferten Zeugnisse führt zur Frage, ob und wie Dokumente schon „Leben erzählen“, wie wissenschaftliche und narrative Biographik im Widerstreit liegen können. Wie verhalten sich romanhafte Ausschmückung und „Lebensbilder“ zur historischen Faktizität und Authentizität? Was leisten Psychogramme oder „Sozialbiographien“ bei der Entdeckung intimer Individualität, der Verstricktheit in den Alltag, der Künstler-Bürger-Problematik, der Lebens- und Theaterrollen. Überspitzt könnte man sagen, Raimunds und Nestroys Biographie war das „Theaterleben“ – als Spiel und gesellschaftliche Praxis, Handwerk und Kunst. Insbesondere Nestroy lebte für das Theater, er lebte im und vom Theater, und schließlich „überlebte“ er durch das Theater.

Nestroys Angst-Syndrom angesichts verschiedener Formen der Unterdrückung in privaten und öffentlichen Kontexten und seine befreiende Überwindung im Spiel sind ebenso auffällig wie die vielen Bemerkungen in den Possen über den Tod und das Sterben. [2] „Tod und Überleben“ ist über die biographische Fermentierung des Werks – Raimunds Hypochondrie und Selbstmord, Nestroys Furcht vor dem Tod – und über die rezeptionsgeschichtliche Dimension hinaus auch eine wesentliche Thematik der Dramatik Raimunds und Nestroys, vom alltäglichen Überlebenskampf über das Hadern mit dem Schicksal und die Auseinandersetzung mit bedrohlichen übernatürlichen Mächten bis zu existentiellen Grenzsituationen. Zwei Liedstrophen, die nur wenige Jahre auseinander liegen, zeigen eine gewisse Nähe: [3]

Raimund (1834)

Der Verschwender

Zeigt sich der Tod einst mit Verlaub
Und zupft mich: Brüderl, kumm!
Da stell ich mich im Anfang taub
Und schau mich gar nicht um.
Doch sagt er: Lieber Valentin!
Mach keine Umständ! Geh!
Da leg ich meinen Hobel hin
Und sag der Welt Adje.

Nestroy (1838)

Gegen Torheit gibt es kein Mittel

Und is man auch in jeder Gfahr
Fest gstanden allemal,
Was nutzt’s, ‚s vergeht a Handvoll Jahr,
Dann kommt man doch zu Fall;
‚s thut zu ein Ort der Weg eim führn,
Der Ort, der heißt das Grab,
Da kann man noch so ballanziern,
Da fallt man gwiß hinab.

Raimund experimentierte mit Ernst und Tragikomik. Viele Possen Nestroys haben eine dunkle Folie, es durchzieht sie eine Ernsthaftigkeit, die das Komik auslösende Lachen bricht und auf die Kehrseite der Happy Ends anspielt. Possen haben mit dem (Über-)Leben zu tun; Sterben und Tod von Erblassern sind mehr als nur Komödienbedingungen („Nein, was `s Jahr Onkel und Tanten sterben müssen, bloß damit alles gut ausgeht -!“, kommentiert Weinberl das Happy End in Einen Jux will er sich machen); sie sind der dunkle Faden in der heiteren Textur. Der Jux ist eine der bedeutenden Possen, in denen es angesichts eines trister zu werdenden Alltags in Fremdbestimmung auch ums Überleben geht: „weinberl. Jetzt frag ich aber, zahlt sich so a Jux aus, wenn man ihn mit einer Furcht, mit 3 Schrocken, 5 Verlegenheiten und 7 Todesängsten erkauft?“ (III,15).

Galina Hristeva (Stuttgart, D) eröffnete die Schwerpunkt-Thematik mit „’In Abgrund g’stürzt […]’. Das Unheimliche in der Posse Der Zerrissene von Johann Nestroy“ und zeigte u.a. mit Sigmund Freud, wie Bedrohliches und Unbegreifliches in Spiel und komischer Verstellung für den Zuschauer inszeniert werden und „komisches Entsetzen“ erzeugen. Der „mit dem Tode beschäftigt[e]“, „zerrissene“ Herr von Lips erfahre im Kampf mit dem Unheimlichen und den Sturz in den „Abgrund“ eine heilsame Therapie, wobei das Publikum verschiedene Formen des Lachens erlebt und so Verdrängtes bewältigen kann. Auf den biographischen Aspekt der Verdrängung des Sterbens bei Nestroy wurde ebenso eingegangen wie auf den Zusammenhang von Erotik und Tod.

Henk Koning (Putten, NL) lenkte mit „Tod und Überleben bei Nestroy oder die Seinsfragen eines unsicheren Humoristen“ den Blick auf die metaphysische, theologische und religiöse Aspekte in Leben und Werk, die Vergänglichkeit, Unsicherheit, Folgen des Aberglaubens und Skepsis thematisieren. Allerdings hat die Zensur dem „Humor“ auch Grenzen gezogen.

Michaela Bachhuber (Bayreuth, D) referierte über „Unmöglichkeit und Möglichkeit des Überlebens in einer Gesellschaft der Determination bei Nestroy und Büchner“. Sie verglich Woyzecks Rolle in Hierarchien und Machtverhältnissen mit der des Titus in Der Talisman, die durch soziale Mobilität gekennzeichnet sei, und machte auf eine sexualgeschichtliche Komponente aufmerksam: Die Posse lässt den potenten Mann überleben, während der „impotente“ Woyzeck untergehen müsse.

Die Diskussionsrunde der Schwechater Inszenierung von Einen Jux will er sich machen (40. Nestroy-Spiele) unter der Regie von Peter Gruber beschäftigte sich zunächst mit unterschiedlichen historisch-philologischen Lesarten und heutigen theaterpraktischen Spielarten. Dabei wurde die Verschärfung des Problems – Weinberl kann sich nicht einmal mehr einen „Jux“ leisten – und damit die besondere Akzentuierung des fragwürdigen Happy Ends angesichts der aktuellen sozialen Situation, für die Peter Gruber prägnante Beispiele gefunden hat, als eine heutige Inszenierungs­­möglichkeit des Textes verstanden. Besonders gelungen erschien die Visualisierung der Warenwelt, die den Menschen ausbeutet, und die „Gränze zwischen Knechtschaft und Herrschaft“ (I,13; Hegel) [4] so zieht, dass am Ende nicht nur das „verfluchte Kerlbewußtseyn“ (I,13) ausbleibt, sondern als Ergebnis tiefe Enttäuschung und Resignation im ‚Immer-so-Weitermachen-Müssen’ bleibt.

Die zweite Diskussionsrunde zum Thema „Nestroy und die Nachwelt“: 1862 – 1912 – 1962 – 2012: Komödiantentum oder moderne Satire“ leitete ein Grundsatzreferat von Stefan Hulfeld (Wien, A) über „Kraus und die Folgen“ ein. Er skizzierte das kulturpolitische Spannungsfeld, in dem Kraus’ Essay steht und skizzierte seine Folgewirkungen, die zur neuen Sicht auf Nestroy als Satiriker und seine Kanonisierung führte. Zugleich habe aber Kraus’ konservativer Theaterbegriff, der das Rhetorische (Sprachkunst) gegenüber dem Körperlichen (Spielkunst) überbetone, andere Zugänge zum Komödianten Nestroy verstellt. [5] In der Diskussion zeigte sich, wie Kraus sein Verständnis von Literatur, Satire und Theater auf Nestroy projiziert hat.

Alessandra Schininà (Catania, I) lenkte mit „’Bei uns stirbt man im Ernst […]’ – Schwarzer Humor und Entlarvung der alltäglichen Brutalität in Häuptling Abendwind“ den Blick auf die von Nestroy verstärkte sozialkritische Dimension des Kannibalismusthemas und seiner auch sexuellen Implikationen. Schließlich sei die Operette (Theaterzettel: „Faschings-Burleske“) auch eine Auseinandersetzung mit dem Tod.

Nestroy lebt und überlebt in seinem Theater, aber auch durch seine Biographen. W.E. Yates (Exeter, GB) stellte sein neues Buch vor, [6] das vor allem den Komödiendichter herausstellen will und zur Rekonstruktion der Lebensspuren Selbstzeugnissen die Dominanz einräumt und statt Mutmaßungen Bezüge zwischen Werk und Lebensdokumenten herausarbeitet. Charakteristisch für Nestroy sei das wechselvolle „Nebeneinander“ von (Privat-)Leben und Theaterleben. Der Mensch und Satiriker – als „Realist“ – [7], die Skepsis des enttäuschten Idealisten und die Herzensgüte seien durchaus keine unversöhnbaren Gegensätze. Nestroys Stammbucheintragung „[…] bin Dichter nur der Posse“ sei ebenso erhellend wie missverständlich und bedürfe der Interpretation. [8]

Andrea Hanna (Belfast, GB) verglich unter der Perspektive „Das Überleben des Unangepassten“ Ferdinand Eberls Kaspar in Die Perücken in Konstantinopel (1788) und Nestroys Titus, wobei sich im Perückenspiel als Mittel der Anpassung bei letzterem noch Spuren der „Kasperl“-Komik zeigten.

Ein weiterer Schwerpunkt war Ferdinand Raimund gewidmet. – Daniel Ehrmann (Salzburg, A) untersuchte „Et in Arcadia ego. Konfigurationen des Letalen in Ferdinand Raimunds Original-Stücken“, Möglichkeiten der Todesthematik im „Lachtheater“, u.a. Narrativierung, Spiegelung (Alpenkönig und Menschenfeind), Akzentuierung von Vergänglichkeit, Metaphorisierung und Allegorisierung, Entschärfung der Suizidproblematik (Verschwender).

Der Zusammenhang von Werk und Biographie war ein Aspekt im Vortrag von Harald Gschwandtner (Salzburg, A): „’Vor mir, mein gnädiges Fräulein, liegt das Gehirn eines unschuldigen Hundes im Spiritus’. Adolf Muschgs Erzählung vom Tod Ferdinand Raimunds“. Im Kontext von Moral und Ästhetik, Wahnsinn und Genie interpretierte er Muschgs „Spiegel-Therapie“ an der Schnittstelle von Fiktion und Biographie in diesem Schreibexperiment („wie ich Raimund für mich sterben ließ“), wobei er auch eine neue Sicht auf Raimunds Künstlertum eröffnete.

Welche biographische Wissenserzeugung oder Legendenbildung dichterische Lebensbilder leisten, demonstrierte Marion Linhardt (Bayreuth, D): „’der dritte Act dagegen, wo Raimund dem Wahnsinn verfällt und auf der Scene stirbt, ist […] nur für Theaterbesucher mit besonders starken Nerven berechnet’ – Lebens- und Todesdeutungen in den Raimund-Stücken von Carl Elmar, Julius Reuper und Heinrich Jantsch/Alexander Calliano“. Die Darstellung reicht von der Raimund-Kopie über „Alt-Wien“-Klischees bis zu naturalistischer Psychologisierung, wobei Raimunds Tod auch als Übergang in die Unsterblichkeit thematisiert wird.

In der Sektion „Funde, Fragen, Berichte“ informierte Matthias J. Pernerstorfer (Wien, A) am Beispiel eines wieder gefundenen Drucks („’Hier liegt nun die saubre Frau’. Zu Ende und Nachleben der versoffenen Gouvernante“) über Recherchen zu Texten und Aufführungsmaterialien in böhmischen Schlossbibliotheken und benannte Forschungsdesiderate. [9] Eine Digitalisierung der Texte und Theaterzettel aus diesen Beständen – wie überhaupt für das gesamte Wiener Volkstheater – ist äußerst wünschenswert.

Marc Lacheny (Valenciennes, F) stellte französische Raimund-Übersetzungen vor: „Vom Verschwender (1834) zu Le Prodigue (1992)“ und kommentierte Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Übertragung der differenzierten Sprache in Raimunds Stücke ins Französische.

Olaf Briese (Berlin, D) wandte sich dem „intertextuellen und kulturellen Transfer“ am Beispiel von „Staberl“ und „Berliner Eckensteher“ zu und erörterte die komplizierte Urheberschaft (Bäuerle, Holtei, Beckmann, Glaßbrenner) der Figur „Nante“ im Kontext der Entwicklung der Berliner Posse von der „Pöbelkomik“ zur „Volkspoesie“. [10]

Eine Exkursion unter der Leitung Otmar Nestroys (Graz, A) führte nach Sopron in Ungarn (früher: Ödenburg), wo Raimunds schauspielerische Karriere begann und auch Nestroy zu Gast war; dazu lagen schriftliche Informationen über „Raimund und Nestroy in Ungarn“ von Gábor Kerekes (Budapest, H) vor.
(Jürgen Hein)

 

 

[1] Die Neuedition der Werke und Briefe Raimunds ist in Vorbereitung; die HKA Nestroys (1977-2010) liegt mit Nachträgen, Dokumenten und Register vollständig vor.
[2] Vgl. Peter von Matt, Nestroys Panik, Tagesanzeiger Magazin, Zürich, Nr. 48, 27. November 1976, S. 7-17; auch in: P. v. M., Das Schicksal der Phantasie. Studien zur deutschen Literatur, München, Wien 1994, S. 134-148.
[3] Vgl. Peter von Matt, ‚Von alter Unanfechtbarkeit [„Hobellied“]’, in: Frankfurter Anthologie, 8 (1984), S. 79-81.
[4] Vgl. Jürgen Hein, Spiel und Satire in der Komödie Johann Nestroys, Bad Homburg v.d.H. 1970 (Ars Poetica Studien 11), S. 152.
[5] Vgl. auch Peter Eschberg, Nestroy bleibt!, Wien 2012, der in seiner Abrechnung mit dem modernen Regietheater am Sprachkünstler und Satiriker Nestroy festhält.
[6] W. Edgar Yates „Bin Dichter nur der Posse“: Johann Nepomuk Nestroy. Versuch einer Biographie, Wien 2012 (Quodlibet Bd. 11).
[7] vgl. Ritchie Robertson, ‚Nestroy’s Dickensian Realism’, Oxford German Studies 40 (2011), 3. H., S. 270–284.
[8] Vgl. Jürgen Hein, ‚„ … bin Dichter nur der Posse“. Ein Albumblatt Nestroys aus dem Jahr 1846’, Nestroyana 16 (1996), S. 24-25.
[9] Vgl. Theater in Böhmen, Mähren und Schlesien. Von den Anfängen bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, hg. von Alena Jacubcová und Matthias J. Pernerstorfer, Wien [im Druck].
[10] Vgl. auch Jürgen Hein, ‚Knieriem – Valentin – Nante oder Metamorphosen des Humors’, in: Nestroy auf der Bühne, Text – Kontext – Rezeption. Beiträge zum Nestroy-Kolloquium Bad Ischl 31. Mai 2008, hg. von Ulrike Tanzer, Wien 2010 (Quodlibet Bd. 10), S. 62-85; Bernd Balzer, ‚Berlin, Berliner und Berlinern im Trauerspiel und in den Possen Holteis’, in: Leszek Dziemianko, Marek Hałub (Hg.): Karl von Holtei (1798-1880). Leben und Werk. Fragestellungen – Differenzierungen – Auswertungen, Leipzig 2011, S. 165-179.