Nestroy-Gespräche 2011: Referate (Exposés)

Routine und Experiment bei Raimund und Nestroy

 

 

Jürgen Hein: Einführung

Die heuer bei den 39. Nestroy-Spielen unter Nestroys Entwurfstitel Der Mann an der Spitze aufgeführte Posse Lady und Schneider (1849) führt uns im stil- und sozialgeschichtlichen Kontext der zeitgenössischen Aufnahme wie der heutigen Wirkungsmöglichkeiten ins Zentrum der Tagungsthematik der 37. Internationalen Nestroy-Gespräche: „Routine und Experiment bei Raimund und Nestroy“.

Was heißt „Experiment“ und „Routine“ im Alltagsleben, in der Lebenswelt und was in Kunst (Literatur, Musik, Theater) und Wissenschaft? Die Vieldeutigkeit von „Experiment“ in den  Natur- und Geisteswissenschaften gibt Raum für unterschiedliche Interpretationen. Routine als Stillstand, Experiment als Bewegung  – das ist nur eine der Facetten. Menschliches Handeln bedarf der Routine und geschieht nach ethischen und sozialen Normen und Regeln, wobei zugleich neue Erfahrungen gemacht und andere und fremde Wege erprobt werden. In diesem Kontext sind Literatur und Kunst mit ihren Gedanken- und Stilexperimenten Labore und Medien der Erfahrung. Walter Pape spricht von der Komödie als einem „literarischen Experimentierfeld“.

Experiment gilt als ein noch nicht auf ein Ziel gerichtetes Hantieren mit Material und Strukturen, ferner auch ein kreatives Umgehen mit dem Ziel, etwas Neues zu schaffen, – auf Drama und Theater übertragen – das Experimentieren mit Gattungsregeln, z.B. mit dem Ernst in der Komödie oder das Erproben einer Volksstück-Dramaturgie unter sich wandelnden Bedingungen mit verschiedenen theatralen Stilen, darunter vor allem die musikalischen Einlagen, das Experimentieren mit Bühnenräumen, Rollenfächern, theatralen Darstellungstechniken usw.

Der „Weltweise Johann Nestroy“ (Heimito von Doderer) – hat er die Lebensroutine durchschaut und sichtbar gemacht, deren dunkle Seite die Angst vor dem Tod war? Zum Beispiel hat er in Der Zerrissene die „Stereotypigkeit“ des Lebens thematisiert, den Ausbruch aus der Routine spielerisch erprobt und Narrheit als Verfehlen der Lebensroutine gelten lassen:

Sag‘ mir ein Land, wo ich was neu’s seh‘; wo der Wasserfall einen andern Brauser, der Waldbach einen andern Murmler, die Wiesenquelle einen andern Schlängler hat, als ich schon hundertmal g’sehn und gehört hab – führ mich auf einen Gletscher mit schwarzem Schnee und glühende Eiszapfen, – segeln wir in einen Weltteil, wo das Waldgrün lilafarb, wo die Morgenröte paperlgrün ist! – Laßts mich aus, die Natur kränkelt auch an einer unterträglichen Stereotypigkeit. (Der Zerrissene I,6)

Auch der Schneider Heugeign in  Lady und Schneider wendet sich gegen die Routine: „Ich bin, was is weiter / Nur mit Widerwilln Schneider –“ (HKA Stücke 26/II, S. 15).

Das Volkstheater verlangt einen routinierten Umgang mit der „Tradition“ und zugleich immer auch etwas „Neues“, den gekonnten Einsatz komischer Elemente und zugleich eine Art und Weise, diese neu zu ‚spielen’, deutlich z.B. in der „Verwienerung“ als versierter und variierter Umgang mit Stoffen und Formen, als intertextuelles Spiel. Routine kann hier stereotype Gewohnheit, aber auch technisch gekonntes Handwerk sein, ein ambivalentes dialektisches Zusammenspiel von Routine und Experiment, wie es vor allem in der der zeitgenössischen Bewertung der jeweils „neuen“ und anderen Komik bei Raimund und Nestroy wahrgenommen wird.

Was heißt Routine bei Raimund, wie vertragen sich Festhalten am Erprobten und seine Ambition, die „Niederungen“ des „Lachtheaters“ zu überwinden? Einerseits leben seine Dramen auch von Anleihen an das traditionelle Zaubertheater, andererseits ist ihre Struktur von einer innovativen Stilmischung geprägt, von einem erneuerten allegorischen Theater, in dem Sprachebenen, Stilebenen, Spielebenen, Wirklichkeitsebenen und Wirkungsabsichten innovativ profiliert werden. Raimund musste allerdings die Grenzen des „Ernsthaften“ im komischen Volkstheater erkennen.

Und wie steht es um Nestroys Routine? Wollte er wirklich „Dichter nur der Posse“ sein oder lässt sich Krapfls Aussage in Der holländische Bauer „Ich bin der Kolumbus einer neuen Methode“ auch auf die Praxis der Theaterschriftstellerei übertragen? Ist die politische Posse bei Nestroy ein Experiment? Sind bei der Posse mit ihren erprobten Rezepten überhaupt Experimente möglich? Zumindest bei seinen Misserfolgen – z.B. Eine Wohnung ist zu vermieten oder Nur Ruhe! – ist Nestroy in anderer Weise als Raimund an die Grenzen des im Unterhaltungstheater Möglichen gestoßen. Die Forschung ist sich in der Bewertung der Routine und Souveränität des Schauspielers und Theaterdichters, der den Ausbau und die Variation erprobter ‚Rezepte’ vorantreibt, einig.

Auch Erfolg und Erfüllung der Erwartungen des Publikums (und der Theaterkritik), der Ausgleich zwischen Bildungsanspruch und kommerziellem Unterhaltungstheater, werden vom Spannungsfeld zwischen Routine und Experiment bestimmt. Dabei stellt sich die Frage, wie es um die Experimente mit den Elementen des „anderen Theaters“ (Rudolf Münz) im „regelgerechten“ Drama steht, um die „Literarisierung“ des Volkstheaters, oder anders gesagt: um die „mediale“ Integration von ‚hohen‘ und ‚niederen‘ Stilelementen (Daniel Ehrmann). 

Zentral in diesem Spannungsfeld stehen die von Otto Rommel so genannten „Politischen Komödien“ Nestroys und die politische Funktion des Volkstheaters überhaupt. Richard Reichensperger hat betont, Nestroy erkenne Grunderfahrungen der beginnenden Moderne, vor allem die Geschwindigkeit und die Entfremdung; besonders hat er Nestroys innovative Umcodierung in der Bearbeitung fremder Vorlagen hervorgehoben.

Wie steht es heute um die Bedeutung des Zusammenspiels von Routine und Experiment und die theatrale Manifestation des Politischen?

Wir dürfen auf die Schwechater Inszenierung von Lady und Schneider und die Referate und Diskussionen der 37. Internationalen Nestroy-Gespräche gespannt sein.

 

Thomas Aigner
Musikhandschriften Ferdinand Raimunds

Dass sich Raimund bei der Ausarbeitung seiner Bühnenwerke auch kompositorisch betätigte, geht bereits aus älteren Quellen hervor. Im Original war lange Zeit nur ein einziges Notenmanuskript von seiner Hand bekannt, ein Entwurf zum Duett „Brüderlein fein“. Ende 2008 entdeckten Mitarbeiter der Wienbibliothek im Rathaus im Nachlass Carl Glossy ein Konvolut großteils autographer Melodieentwürfe Raimunds zu seinen Stücken Der Bauer als Millionär und Die gefesselte Phantasie. Sie zeigen gelegentlich eine große Diskrepanz zwischen dem ersten Entwurf und der endgültigen Gestalt; vieles hat Raimund auch gänzlich verworfen. Der Dichter, der meist an mehreren Musiknummern gleichzeitig arbeitete, hatte insbesondere Probleme mit dem musikalischen Rhythmus. Ein signifikantes Beispiel stellt die Genese des „Brüderlein fein“ dar, zu dem sich im besagten Konvolut ein weiterer, als Urfassung anzusehender Entwurf findet. Die am weitesten ausgereiften Melodieentwürfe, oft mit detaillierten Vortragsanweisungen versehen, dienten vermutlich den Komponisten Joseph Drechsler bzw. Wenzel Müller als Vorlagen. Ihnen überließ Raimund die Harmonisierung und Instrumentierung. Raimund wählte auch persönlich fremde Melodiezitate aus, z. B. den Sehnsuchtswalzer Schuberts für die Auftrittsarie Wurzels oder die Arie des Max aus Webers Freischütz und Motive aus Rossinis Il barbiere di Siviglia für das Quodlibet der Phantasie. Er notierte diese Themen offenbar nicht nach einer schriftlichen Vorlage, sondern aus dem Gedächtnis. Besonderen Quellenwert hat schließlich eine nicht autographe Niederschrift der Melodiestimme des bislang als verschollen geltenden Heurigenlieds des Nachtigall.

 

Daniel Ehrmann
„[…] den wahren Wert des Glückes lehren.“ Experimentelle Transformationen des klassischen Humanitätsideals bei Ferdinand Raimund

Um 1800 entwickelte sich im Umfeld der Weimarer „Klassiker“ und unter entscheidender Einflussnahme Wilhelm von Humboldts ein theoretisch breit fundiertes Konzept eines in aufklärerischer Tradition vom Individuum ausgehenden und durch dieses auf die gesamte Menschheit abzielenden Bildungsprogramms, das man mit einigem Recht als klassisches Humanitätsideal bezeichnen kann. Dieses anthropologische Konzept steht in engem Bezug zu Vorstellungen von Gesellschaft, die diese virtuell bereits als ‚bürgerlich‘ imaginieren und von der Freiheit und Selbstbestimmtheit des darin agierenden Individuums ausgehen.

Der Vortrag geht von diesem Konzept aus und wird, besonders in Hinblick auf Ferdinand Raimunds Werk, nach der Adaptierung eines solchen Ideals und den Möglichkeiten seiner praktischen Umsetzung fragen. Bei der tätigen Realisierung eines eher auf theoretischer Ebene zu verortenden Programms besteht stets die Gefahr, dass einerseits eine zu sehr in den Vordergrund gerückte pädagogische Wirkung oder andererseits ein zu hohes intellektuelles Niveau das Publikum abstößt. So ist es dem Literaturprogramm der ‚Weimarer Klassik‘, trotz seiner heterogenen Angebote nicht gelungen, ein größeres zeitgenössisches Publikum anzusprechen. Die elitäre Haltung und der aristokratische Habitus wirkten entgegen der in der Ankündigung der Horen postulierten Öffnung nach unten letztlich als Mittel der Exklusion und zeugen von einer oppositionellen Haltung gegenüber dem Geschmack der Zeit und einer streitbaren Position gegenüber dem Publikum.

Einem ähnlichen pragmatischen Zwiespalt – zwischen einer dem Humanitätsideal verpflichteten und gleichsam pädagogischen Wirkungsabsicht und dem Wunsch nach (letztlich auch finanziell einträglichem) Publikumserfolg – sind auch Raimunds Dramen unterworfen. Da in diesen Texten immer wieder pädagogische Aspekte deutlich hervor tretenden, wurden sie unter anderem ins Umfeld des biedermeierlichen Besserungsstücks gerückt und somit einem Genre assoziiert, das recht konventionell zur Domestizierung des Publikums beitragen sollte. Bei aller tatsächlichen Unkonventionalität der Raimund’schen Theatertexte, bleiben die impliziten oder expliziten Wirkungsabsichten im Sinne humaner Aufklärung ein wesentliches Element derselben. Raimund versucht allerdings, im Gegensatz zur ‚Weimarer Klassik‘, den pragmatischen Zwiespalt seiner Literatur durch die mediale Integration von ‚hohen‘ und ‚niederen‘ Stilelementen sowie durch die spannungsvolle Gestaltung des Verhältnisses von Ernst und Komik zu schließen. Damit nimmt er eine streitbare Haltung gegenüber mehreren Traditionen zugleich ein, denn er orientiert sich zwar an Traditionen des lokal-komischen Volkstheaters, erweitert aber zugleich dessen Spielraum um ernste Aspekte, die auch allgemeine Gültigkeit beanspruchen. Dabei versucht Raimund aber stets, die Bindung an eine breite Rezipientenschicht aufrechtzuerhalten, indem er das elitäre Humanitätsideal kompromissbereit gegenüber dem Publikum öffnet.

 

Andrea Hanna
Der Zufall bei Raimund und Nestroy: die Routine auf den Kopf gestellt

Viele Figuren der Raimundischen und Nestroyschen Bühnenwelt haben es sich in den Kopf gesetzt, die eigene Identität in einer besonderen Routine zu suchen. Auch wenn sie ihnen schädlich ist, wird die Routine als eine Maske empfunden, die die Figuren vor der Hässlichkeit der Realität schützt.  In den Stücken von Raimund und Nestroy bricht aber oft der Zufall dramatisch diese Routine auf. 

Mit Bezug auf Bachtins Theorie des „Karnevalesken“ wird in diesem Referat der Eintritt des Zufalls in Raimunds Alpenkönig und der Menschenfeind und in Nestroys Der Tod am Hochzeitstage als eine Kraft enthüllt, die die maskenhafte Routine vom Kopf reißt. Auf den Kopf gestellt wird dabei durch die Magie des Zufalls die Widernatürlichkeit der Routine und folglich des verzerrten Selbstbildes. Erst närrisch auf den Kopf gestellt gewinnen die Figuren Raimunds und Nestroys die „Chance“, die Narrheit der eigenen Routine vernünftig durchzuschauen und der Welt die Stirn zu bieten.

 

Galina Hristeva
Im „Gorgonenantlitz des Schicksals“? Nestroys Geschichtsauffassung zwischen Routine und Experiment

Hegel bestimmt Geschichte in der Phänomenologie des Geistes als eine von „Verdopplung“ gezeichnete „Bewegung“ und als ein „Spiel der Kräfte“. Hegels Dialektik ist bekanntlich eine „Dialektik des Fortschritts“, bei der das Selbstbewußtsein über „das doppelsinnige Aufheben seines doppelsinnigen Andersseins“ und die „doppelsinnige Rückkehr in sich selbst“ zur Freiheit gelangt. Demnach definiert Hegel die Weltgeschichte in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte als „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“. Nestroy dagegen ist für seine Fortschrittsskepsis bekannt, wie sie in folgender Aussage aus Der Schützling zum Ausdruck kommt: „Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, daß er viel größer ausschaut, als er wirklich ist.” Nestroys Werk ist somit eine Problematisierung und Rücknahme des Hegelschen Fortschrittsoptimismus. Was Hegel und Nestroy aber gemeinsam haben, ist, daß sie beide „die Bewegung“ und das „Spiel der Kräfte“ instrumentalisieren, um ihre Modelle der menschlichen Entwicklung und Geschichte zu entwerfen. Daß Nestroy auf Hegel zurückgreift und in Dialog mit ihm tritt, wird aus der Posse Einen Jux will er sich machen deutlich, wo die Hegelsche Dialektik fast wortwörtlich zitiert wird: „Grad jetzt auf der Grenze zwischen Knechtschaft und Herrschaft mach´ ich mir einen Jux.“

Während in der Nestroy-Forschung communis opinio ist, daß Nestroys Dialektik zwischen Routine und Innovation, zwischen Anpassung und Auflehnung, zwischen Rebellion und Resignation, zwischen zentrifugaler und zentripetaler Bewegung angesiedelt ist, sind die genauen Parameter dieses Spannungsfeldes noch nicht abgesteckt worden und die konkreten Muster und Mechanismen dieser „Bewegung“ und des „Spiels der Kräfte“ noch nicht ausgelotet. Jürgen Hein verweist zu Recht darauf, daß in Nestroys Werk „verschiedene Möglichkeiten der Wirklichkeitsbewältigung“ (Jürgen Hein: Johann Nestroy, Stuttgart 1900, S. 56) realisiert werden, bei denen auch unterschiedliche Rollen zum Vorschein kommen. Ziel der Untersuchung ist es, diese Modelle zu konkretisieren und anhand mehrerer Texte von Nestroy die jeweils unterschiedlich konturierten Entwürfe im Spannungsfeld zwischen Routine und Experiment auf verschiedenen Ebenen aufzusuchen.

Diese Analysen sollen vor allem Aufschlüsse über Nestroys Geschichtsbegriff und Geschichtsauffassung ergeben. Mit der Rekonstruktion der nestroyschen Geschichtsphilosophie aus der Dialektik von Routine und Experiment soll Nestroys Einordnung als konservativer Denker einer Überprüfung unterzogen werden. Sowohl Eva Reichmanns Versuch (Konservative Inhalte in den Theaterstücken Johann Nestroys, Würzburg 1995), Nestroy in das Prokrustesbett eines starren Konservatismus einzuzwängen, als auch Rio Preisners Verdikt, das Nestroys „Ahistorismus“ mit der lähmenden Gegenwart des „übergeschichtlichen Schicksals“ verbindet (Rio Preisner: Johann Nepomuk Nestroy. Der Schöpfer der tragischen Posse, München 1968, S. 116), werden zu revidieren sein.

Geschichte ist für Nestroy mehr als nur ein „Konglomerat verhängnisvoller Zufälle und Sinnlosigkeiten“ (Rio Preisner: Johann Nepomuk Nestroy, S. 148). Freiheit und Fortschritt haben in Nestroys Werk auch einen Platz und werden von ihm als Charakteristika menschlichen Handelns dargestellt. Dabei gelingt es Nestroy, nicht nur Hegels unerbittlichen Geschichtsschematismus aufzubrechen, sondern auch die Pietät vor der Geschichte zurückzuweisen.

 

Gábor Kerekes
Nestroy in Ungarn – Im Spiegel der in Ungarn erschienenen Literaturgeschichten seit 1900

Im Rahmen eines größeren Projektes der Untersuchung der Rezeption von Johann Nestroy in Ungarn soll in diesem Beitrag ein Blick auf die Frage geworfen werden, ob, und wenn ja, dann auf welche Weise Nestroy und sein Schaffen seit 1900 in den in Ungarn erschienenen Literaturgeschichten erscheint.

Diese auf den ersten Blick vielleicht etwas trocken erscheinende Fragestellung ist hinsichtlich Ungarns nicht ohne erhellende Momente. Am Anfang stehen Literaturgeschichten, die im Ausland erschienen und danach ins Ungarische übersetzt sowie solche, die von ungarischen Fachgelehrten verfasst worden waren (Sime, Heinrich, Motz, Juhász).

Ihnen folgen in den dreißiger-vierziger Jahren u. a. die Literaturgeschichten von solchen, für die moderne ungarische Literatur des 20. Jahrhunderts eminent wichtigen Schriftstellern wie Mihály Babits und Antal Szerb – die übrigens, trotz ihres „Makels“ als „bürgerliche“ Schriftsteller, auch in der kommunistischen Ära und bis auf den heutigen Tag immer wieder aufgelegt worden waren und werden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen dann Publikationen, die deutlich den ideologischen Vorgaben der staatlichen Kulturpolitik nachgeben mussten. Erst Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre kann man verfolgen, wie sich das politische Klima zu entschärfen beginnt, und die Verfasser von Literaturgeschichten sich weniger um ideologische Fragen kümmern mussten.

Schließlich sind nach der politischen Wende von 1989/90 Literaturgeschichten veröffentlicht worden, deren Verfasser über die gleiche politisch-ideologische Freiheit wie seit Jahrzehnten ihre Kollegen im Westen verfügten, sich aber offensichtlich auch den gleichen oder zumindest ähnlichen marktwirtschaftlichen Einschränkungen gegenübersahen, wie auch jene schon zuvor.

Gezeigt werden soll, wie Nestroy sich im Laufe von 110 Jahren in diesen Darstellungen wandelt, wie und von wem er in welchem Kontext verschwiegen, auf welche Weise er von anderen wiederum auf die eine oder andere Art gedeutet worden ist.

 

Arnold Klaffenböck
Kurt Sowinetz – Nestroyspieler zwischen Experiment und Routine

2011 jährt sich der Tod des Wiener Schauspielers, Interpreten, Musikers und Malers Kurt Sowinetz (1928 – 1991) zum zwanzigsten Mal. Einen beachtlichen Teil seines reichen Schaffens für die Bühne und seiner künstlerischen Kreativität hat Sowinetz den Werken Johann Nestroys gewidmet. Nestroy war im wahrsten Sinne des Wortes ein ständiger Begleiter auf dem beruflichen Weg und maßgeblich für die Karriere des Mimen, die in den avantgardistischen Wiener Kellertheatern der Nachkriegszeit begannen und über das Josefstädter bzw. Volkstheater schließlich ins Burgtheater führten.

Die Aneignung Nestroys ging freilich darüber hinaus. Auch durch filmische Umsetzungen von Stücken oder als Rezitator seiner Couplets trug Sowinetz im Lauf von nicht ganz fünf Jahrzehnten zur Popularisierung Nestroys und zur Vermittlung bestimmter Nestroy-Bilder bei. Mehrere Regisseure und Intendanten, darunter Leon Epp, Günther Haenel, Leopold Lindtberg, Gustav Manker oder Achim Benning, setzten Sowinetz in ganz unterschiedlichen Nestroy-Rollen ein und prägten ihn mit ihren nicht minder heterogenen künstlerischen Intentionen. Einige Nestroy-Einrichtungen mit Sowinetz, u. a. solche im Beisein von Fritz Muliar oder Helmut Qualtinger, empfand die zeitgenössische Rezeption teilweise sogar als „Idealbesetzungen“ und forderte sie daher als verbindlichen Maßstab für ein zu schaffendes „Wiener Nestroy-Theater“ ein.

Anhand der mannigfachen stilistischen Prägungen und Ansätze, die im Wirken von Kurt Sowinetz für Nestroy sichtbar sind, lässt sich das Spannungsfeld zwischen seiner Suche nach neuen Ausdrucksformen und individuellen Vermittlungsmöglichkeiten einerseits sowie dem Einschreiben in herrschende Traditionen und Konventionen andererseits (etwa der sog. „Nestroystil“ des Burgtheaters in Verbindung mit politischer Instrumentierung Nestroys in der Causa Peymann) ausloten. Sowinetz verstand Theater als unbegrenztes Experimentierfeld für Phantasie und Geist – als Entfaltungsraum der menschlichen Seele, wo nicht zuletzt das Unaussprechliche zu Wort kommen sollte – und blieb dabei zeitlebens ein Suchender auf dem Gebiet der Mimesis.

 

Roman Lach
Maschinen und Wortspiele: Raimunds „Die unheilbringende Krone“ als synthetisches Welttheater

In einer Teleologie, die Ferdinand Raimunds Entwicklung gern in aufsteigender Linie als Geschichte einer Emanzipation vom Zauberstück zum „Drama“ im Sinne einer um einen (womöglich „psychologisch fundierten“) Charakter konzipierten „natürlichen“ linearen Handlung schreibt, muss das „tragisch komische Zauberspiel“ Die unheilbringende (Zauber-)Krone zwischen dem Alpenkönig und dem Verschwender als zwischenzeitiger Rückfall ins barocke Welttheater erscheinen.

Ganz stark stellt sich hier der mythologisch-allegorische Überbau in den Vordergrund, weder in dem negativen Helden Phalarius noch in der komischen Figur des Schneiders Simplicius Zitternadel laufen die Fäden der Handlung im schiller-grillparzerschen Sinne zusammen. Moralisierende Tiraden in unterschiedlichen Metren – zum Teil gar in Alexandrinern –, durch steifleinene rhetorische Figuren verziert (Lucinas anaphorische Rede in I/7), scheinen auf einen Schritt zurück in die Tradition zu weisen, der hier gegangen wird.

Irritierend dabei ist jedoch die Akkumulation und Forcierung der dazu eingesetzten Mittel, mit denen gewissermaßen eine Summe und Steigerung des Welttheaters erreicht wird: nicht nur bringt Raimund mit Alexandriner, Langvers, Blankvers, spanisch-grillparzerscher Trochäe ganz heterogene dramatische Metren in Verbindung, steigert, aber relativiert sie auch aneinander, wenn er sie in parodistischer wie ernstgemeinter Weise direkt miteinander konfrontiert (I/10,11), sondern auch die Mittel der Bühnenmaschinerie will er – insbesondere was die durch die Zauberfackel ausgelösten Effekte betrifft – über das gewöhnliche Maß hinaus gesteigert wissen, wie die Bühnenanweisungen verraten (Verwandlung in I/14).

Maschinen und Wortspiele: eine Welt der schnellen Wechsel, der abrupt erfolgenden Brechungen zwischen hohem Ton und Dialektrede, des flüchtigen Glanzes, des wiederholten „Umklappens“ von einer Sphäre in die andere – im doppelten Geschenk der Lucina: der wahren Liebe und der täuschenden Fackel, die beide gleichermaßen zu Simplicius’ Glück beitragen (II/32), liegt womöglich die „Modernität“ dieses raimundschen Welttheaterentwurfs versinnbildlicht: ein Theater der Instabilität und der bejahten Täuschung, ein Theater, in dem auch der hohe Ton immer auf das Wortspiel (Gültigkeit des Verses und Wirksamkeit des Wortspiels gehören in Raimunds Theater immer zusammen, das ist vielleicht das seltsamste daran) verweist, ein Theater der einverständigen Komplizenschaft von Wahrheit und Lüge, von Hoch und Niedrig, dessen „philosophischer“ Anspruch sich womöglich gerade hierin erfüllt.

 

Marion Linhardt
Der beschleunigte Mensch. Hyginus Heugeign und Hartmut Rosa – ein Versuch
Impulsreferat zur Diskussionsrunde: Der „politische“ Nestroy – damals und heute

In Zusammenhang mit Johann Nestroys dramatischer Produktion, seiner schauspielerischen Praxis und der Rezeption seines Theaters vor allem im 20. und 21. Jahrhundert lassen sich vielfältige Fragen und Aspekte des „Politischen“ formulieren und diskutieren. Lady und Schneider, im Rahmen der diesjährigen Nestroy-Spiele unter dem ursprünglich vorgesehenen Titel Der Mann an der Spitze neu präsentiert, legt es ohne Zweifel nahe, in erster Linie nach Nestroys Auseinandersetzung mit den konkreten Ereignissen im Umfeld der Revolution von 1848 zu fragen, nach seiner Auseinandersetzung mit dem Widerstreit von Revolution und Reaktion, mit tagesaktuellen politischen Ideen einerseits und real existierenden Machtstrukturen andererseits. Dem Folder zu Peter Grubers Neuinszenierung ist zu entnehmen, dass das Schwechater Ensemble nicht zuletzt die Parallelen zwischen dem Auftreten und den Ambitionen der Hauptfigur Hyginus Heugeign und gegenwärtigen Politikertypen herausarbeiten möchte.

„Politisch“ in einem eher mittelbaren Sinn sind die Gesellschaftsanalysen, die Nestroy in vielen seiner Possen vorgelegt hat. Wie in der Nestroy-Forschung immer wieder betont wurde, geht es hier um die Problematisierung von Geschlechter- und Familienverhältnissen und von Konventionen der Kommunikation, werden die Orientierung von Beziehungen an ökonomischen Kriterien und der soziale Auf- bzw. Abstieg thematisiert. All diese Erscheinungen sind, so wie Nestroy sie behandelt, Erscheinungen der Moderne. In diesem Sinn möchte ich Thesen zu Lady und Schneider als einem Stück formulieren, das „politisch“ nicht (nur) deshalb ist, weil es sich mit der Revolution bzw. Reaktion beschäftigt und mit einer Fülle von Anspielungen auf seinerzeit aktuelle geopolitische, herrschaftspolitische und ideologische Sachverhalte aufwartet: „politisch“ ist es auch als Stück über die Moderne. Kriterien für eine entsprechende Annäherung liefert mir die auch außerhalb der betroffenen Fachwissenschaften besonders breit rezipierte Moderne-Analyse, die der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa vor wenigen Jahren vorgelegt hat. Unter dem Titel Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne entwickelt Rosa Kategorien für das die Moderne charakterisierende Phänomen der sozialen Beschleunigung. Er zeigt, in welchem Ausmaß sich soziale Strukturen und Alltagspraxen auf Zeitbegriffe und Zeitverhältnisse zurückführen lassen, und geht dabei von der Beobachtung aus, dass die „Frage danach, wie wir leben möchten“, gleichbedeutend mit der Frage sei, „wie wir unsere Zeit verbringen wollen“ – ohne dass wir allerdings über die „Qualitäten ‚unserer‘ Zeit“ tatsächlich frei verfügen könnten. Das Impulsreferat will anhand von Lady und Schneider Bezüge zwischen Nestroys und Rosas Moderne-Analysen herstellen.

 

Matthias Mansky
Aufklärerische Komödien ‚à la Bernardon‘? – Überlegungen zu den Diskrepanzen von Theaterkritik und Bühnenpraxis im Wien des 18. Jahrhunderts

Die Bemühungen um eine Theaterreform im Wien des 18. Jahrhunderts, die in der von Hilde Haider-Pregler ausführlich analysierten ‚Wiener Theaterdebatte‘ kulminieren, funktionalisieren die Schaubühne zu einem kompensatorischen Forum einer bürgerlichen Öffentlichkeit mit einem moralisch-didaktischen Nutzen. In den theoretischen Schriften plädieren die österreichischen Aufklärer für ein Illusionstheater, das der neu aufkommenden bürgerlichen bzw. kleinadeligen Schicht von Gelehrten und Beamten Möglichkeiten zur Identifikation anbietet. Intendiert wird besonders ein Lustspieltypus, der sich an den Modellen der sächsischen Typenkomödie, am rührenden Lustspiel und nicht zuletzt am Erfolg von Lessings Minna von Barnhelm orientiert. Demgegenüber kommt es zu einer gezielten Diffamierung der Possen und Maschinenkomödien. Joseph von Sonnenfels distanziert sich in seinen Schriften vor allem von den Maschinenkomödien eines Philipp Hafner oder Joseph Felix von Kurz-Bernardon, in denen sich eine aufs Theater zitierte Geisterwelt und ein Bühnenzauber nicht nur über die ‚gesunde Vernunft‘, sondern auch über die Regeln einer aufklärerischen Dramenpoetik hinwegsetzen. Die zahlreichen Kritiken an den ‚Bernardoniaden‘ haben Reinhard Urbach dazu bewogen, die in die Forschungsliteratur auch als „Wiener Hanswurststreit“ (Karl v. Görner) eingegangene Kontroverse um ein gesittetes und regelmäßiges Theater als eigentlichen „Bernardonstreit“ zu bezeichnen. Dennoch zeigt sich, dass auch Autoren wie Christian Gottlob Klemm oder Gottlieb Stephanie der Jüngere, die zumindest im weiteren Sinne als aufklärerische Theaterreformatoren ausgewiesen werden können, versuchen, sich den Bühnenerfolg der Zauberkomödie für ihre eigenen Theaterprodukte zunutze zu machen. Das Resultat sind Stücke, in denen Zauberei und Magie eine andere Akzentuierung erfahren, indem sie logische begründet und als Betrügerei entlarvt werden. Dennoch spiegeln sie in ihrer Anknüpfung an eine Possendramaturgie bzw. Maschinenkomödie die Diskrepanzen zwischen theatertheoretischer Anforderung und realisierbarer Komödienpraxis auf den Wiener Bühnen deutlich wider, was sie trotz qualitativer Begrenztheit und überschaubarer Bühnenpräsenz zu interessanten theater- und literaturhistorischen Dokumenten des ausgehenden 18. Jahrhunderts macht.

 

Walter Pape
„Das Sujet ist unbedeutend“ – Komödie und Posse zwischen Experiment und Routine

Das Experiment gilt auch für manchen Literaturwissenschaftler als „eines der wichtigsten Instrumente der neuzeitlichen Wissensproduktion“ (Michael Gamper), doch wird die Verbindung Experiment und Literatur in der aktuellen Forschung vor allem unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses der zwei Kulturen Naturwissenschaft und Geistswissenschaften/Literatur diskutiert. Und so wird als genuines Experiment in der Literatur in der Regel die Thematisierung oder „Anverwandlung experimenteller Methodik“ (z.B. bei Musil) verstanden. Darüber hinaus stehen jedoch auch andere Konzepte vom Verhältnis von Literatur und Experiment in der Diskussion. So werden einmal die Entwürfe „imaginärer Welten und vergleichbarer Gedankenspiele“, zum anderen Formexperimente der Avantgarde den literarischen Experimenten zugeordnet (Krause/Pethes [Hrsg.]: Literarische Experimentalkulturen). Der Begriff des „Gesellschaftsexperiments“ als „Überprüfung von Hypothesen über menschliches Sozialverhalten“ im Rahmen von literarischen Fiktionen scheint sich derzeit einzubürgern im Begriffspluralismus der Literaturwissenschaft.

Löst man sich von der naturwissenschaftlichen Perspektive, so könnte man z.B. mit Christian Wolff die Beobachtung, die sich ohne unser Zutun auf das Naturgeschehen richtet, vom experimentum als einer Erfahrungsweise, die neue Fakten produziert unterscheiden. Und das tun nach Christian Wolff die Künste. Drei Merkmale der Komödie machen diese Gattung in mehrfachem Sinne zum literarischen Experimentierfeld, aber auch zum Schauplatz der Routine par excellence. 

Erstlich ist es offensichtlich nicht der Stoff wie in der Tragödie, der für die Komödie von grundsätzlicher Bedeutung ist. Der Österreichische Courier betont in seiner Besprechung von Lady und Schneider: „Das Sujet ist unbedeutend, aber was hat die Phantasie und der Witz des Dichters daraus gemacht.“ Zweitens: Ist es nach Goethe Aufgabe und Tun des „tragischen Dichters […] ein psychisch-sittliches Phänomen, in einem faßlichen Experiment dargestellt, in der Vergangenheit nachzuweisen“, so muss das Komödien-Experiment in der Gegenwart stattfinden, wird um die soziale Dimension erweitert und muss ebenfalls fasslich und darf nicht zu komplex sein; da die Gegenwart jedoch stets unabgeschlossen ist, fungieren Figurenkonstellation und Konfliktlösung als Produktion von neuen Fakten (Vgl. Hinck: Die Komödie zwischen Satire und Utopie). Drittens erlaubt das Spiel im Spiel die Beobachtung der Versuchsanordnung hinsichtlich der unterschiedlichen Anteile der sozialen, emotionalen und sittlichen Dimensionen. Die Grundlagen für die Routine ist die Gattungstradition der Komödie, sind ihre Baumuster, ihre tradierten Figuren und Typen und ihre tradierte Sprache und Körpersprache. Komödie und Posse leben am meisten von allen dramatischen Gattungen vom Wiedererkennungswert nicht nur der komischen Figuren/Typen, sondern auch der Handlungsstruktur. Der Vortrag soll am Beispiel vor allem der beiden meistens als ‚politisch‘ angesehenen Possen Freiheit in Krähwinkel und Lady und Schneider darlegen, wie sich die Routine der Handlungsstruktur, der Figurenzeichnung und der stilisierten Possensprache mit dem stofflichen ‚politischen‘ Experiment verbinden und wie gerade dadurch jede Eindeutigkeit schwindet und den unterschiedlichsten Rezeptionsweisen Tür und Tor geöffnet wird.

 

Sigurd Paul Scheichl
Bauernfelds politisches Lustspiel „Großjährig“

„[…] unverhüllt war die politische Satire ‚Großjährig‘, die zwei Jahre vor dem Sturmjahre das österreichische System, von Börne schlechtweg das ‚böse Princip’ genannt, öffentlich von der Bühne des Burgtheaters herab mit Spott überhäufte.“ (Emil Horner, ADB) Dass dieses Lustspiel Bauernfelds 1846 am Burgtheater gegeben werden konnte, widerspricht dem allgemeinen Bild von der Zensur im vormärzlichen Österreich. Auch Zeitgenossen haben sich über die Direktheit dieser Satire gewundert, in der das Verhältnis Metternichs zu Kaiser Ferdinand (oder Kaiser Ferdinands zu Metternich) sehr durchsichtig dargestellt wird. In den Vorstadttheatern – an denen Bauernfeld im Übrigen interessiert war – wäre ein die politischen Akteure in diesem Ausmaß durchscheinen lassendes Stück wohl kaum zugelassen worden.

Ein Vormund, Blase, muss erleben, wie sein Mündel, der junge Baron Hermann, nach Erreichen der Großjährigkeit Reformen anstrebt, die dem deklariert konservativen Ex-Vormund und dem Erzieher des jungen Barons gleich verhasst sind, weil sie nicht in ihr ‚System’ des ‚Abwartens’ passen. Der im Haus des Vormunds verkehrende Repräsentant des Liberalismus, der ständig aus dem Don Carlos zitiert und überhaupt zur phrasenhaften Wiederholung von Wörtern wie „Opposition“ neigt, ist freilich auch keine Identifikationsfigur.

Die Verbindung der liberalen Satire mit einer konventionellen Komödienhandlung in der Tradition Kotzebues – älteste Figurenkonstellationen wie das Verhältnis von Vormund und (hier immerhin männlichem) Mündel werden aufgeboten – scheint insgesamt wenig gelungen; der konventionelle Bauernfeld ist für den Kanon ganz sicher nicht zu retten. Bemerkenswert an dem Stück ist – besonders in Hinblick auf einen Vergleich mit Nestroy – ein gewisser (gleichwohl nicht überragender) Sprachwitz im Dialog. Doppeldeutigkeiten sind nicht selten: Hinter Wörtern der Alltagssprache lassen sich aktuelle politische Themen erkennen. Besonderes Interesse scheint der Autor an Fragen der Erziehung zu haben; die weibliche Hauptfigur, Auguste, äußert sich mehrfach, in emanzipatorischem Sinn, zu Fragen der Bildung junger Frauen. Das Lustspiel macht sich mit Hilfe der Figur des ‚linken‘ Schmerl auch über die Schlagworte der Oppositionellen lustig, deren Sprache gewissermaßen zitiert und ins Lächerliche gezogen wird – ein Kompromiss, um die Zensur zu versöhnen? Eine ähnlich ambivalente Einstellung zum Metternich’schen Regime und zu dessen Gegnern wird sich wenig später in Freiheit in Krähwinkel finden.

1848/49 ließ Bauernfeld dem Lust- ein (wenig geglücktes) Nachspiel, Ein neuer Mensch, folgen, das jenes sozusagen im Licht der (schon gescheiterten) bürgerlichen Revolution aktualisieren sollte. Abgesehen von der formalen Fragwürdigkeit eines ‚Dramas in Fortsetzungen‘ fällt an diesem Nachspiel, das die Liebesgeschichte von Großjährig ausbaut und abrundet, wiederum die ambivalente Einstellung zu Liberalismus und Radikalismus auf. Das Vorwort zu diesem Text verdient als Selbstinterpretation des Autors Interesse.

Der Vortrag soll nicht – was unmöglich geworden ist –Bauernfeld ‚retten‘, sondern zur Rekonstruktion des Kontexts von Nestroys Schaffen beitragen. Er soll einerseits zeigen, was auf dem Theater an satirischer Zeitkritik möglich war – freilich nur im Burgtheater, dessen Publikums man sich sicher sein konnte. Andererseits soll er bewusst machen, wie bei diesem Burgtheater-Autor konventionelle Lustspielhandlungen konventionell geblieben sind, während die auf dem Vorstadttheater mögliche Sprachfantasie aus solchen Konventionen ganz etwas Anderes machen konnte. Zum Wiener Theater des Vormärz gehören beide Verfahrensweisen.

 

Hans-Jürgen Schrader
Experimente und Routinen in Sachen Liebe und Ehe: „Jux“, „Mädl“, „Zeitvertreib“

Der Ehestand, in den die Liebesverwirrungen im Happy End des komischen Theaters seit alters her – und auch bei Nestroy – gewohnheitsmäßig einmünden, entbehrt in den Bühnenhandlungen selbst durchaus der traumverklärten Happiness. Im Ziel aller Wünsche sind statt des Himmels voller Geigen missgünstige Routine und windige Ausbruchsversuche an der Tagesordnung. Die geheirateten Herren  erweisen sich, wie es im „Jux“ heißt, schon nach zwei Minuten in der „Eh’mann“-Rolle als „Simandl“ und müssen ob des Äugelns ihrer Eheliebsten nach neuen „Amouretteln“ „mit Blindheit g’schlagen“ sein. Oder sie werden (bzw. bleiben) notorische Schürzenjäger, die ihre Leidenschaften bedenkenlos über die Glacis zu den süßen Mädln der Vorstädte tragen: „Die feinsten Fasan- und Austernesser gehen dann und wann wohin auf Knödl und a G’selchts!“

Nirgends aber wird in der Komödie selbst so viel Komödie gespielt wie in Liebesdingen und Heiratssachen. Auch im Verwechseln von Herzen und Hauben wird im beidseitigen Wissen über die Falschheit der Worte und Töne hehrste Liebesemphase entfaltet, die noch intrikater wird, wenn Täuschungsabsicht und Selbsttäuschung ununterscheidbar ineinanderfließen. Ist die Diskrepanz von Gesagtem, Gemeintem und Bedeutetem schon selbst eine Quelle der Komik, produzieren die Machinationen, Vermummungen und Verlegenheiten, wenn „Wünsche roglich [werden] wie Kisten“, auch die komischen Intrigen der äußeren Handlung.

Namentlich, sobald sich (wie schon im „Jux“-Auftrittslied Schnoferls) Liebe als Handelsartikel definieren lässt und Ehrlosigkeiten sich (wie im „Mädl“) unter ostendierter Ehrbarkeit verbergen, wird das Spiel transparent auf die grausigeren „psychologischen Quadrillierungen“ im „Unterfutter unseres Charakters“ wie in den Antagonismen einer ins Idyll verkleideten Gesellschaft.

Nestroys Dégoût und Aufdeckungslust an der Doppelmoral scheint sich von den sozialkritischen Possen der frühen Vierziger Jahre bis zum illusionsverweigernden Spätwerk zu steigern. Die Entwicklung seines Experimentierens skizziert mein Vergleich der zwei allbekannt-‚klassischen‘ Possen von 1841/42 mit dem auch nach der Bühnenlizenz für die entschärfende Umarbeitung 1862 nicht mehr zur Aufführung gebrachten, erst sechzig Jahre nach Nestroys Tod uraufgeführten „Zeitvertreib“, dessen Schlussworte selbst das traditionelle Happy End verweigern:

„Ah! Kann es einen unbefriedigenderen Ausgang geben!? Jetzt weiß man nicht, krieg ich die Sali oder krieg ich s’ nicht. – Fangt mein Herr wieder mit der Netti an oder mit der Cilli oder Mathilde – werden die nämlichen oder werden andere den Herrn von Stockmauer für ein’ Narren halten – alles ungelöst! Aber was liegt im Grund dran, ob die oder die Weißnähterin den schwarzen oder den grauen Herrn kriegt? Daran hängt das Heil von Europa nicht!“ (HKA Stücke 37, S. 140).

 

Franz Schüppen
Lebensplanung, Lehre und Politik im 19. und 21. Jahrhundert in Nestroys „Lady und Schneider“

In den Revolutionsjahren um 1848 muss Nestroy die damalige Epochenwende sehr intensiv erlebt haben, auch wenn er nirgendwo äußert, dass „von hier und heute gehe eine neue Epoche der Weltgeschichte aus“ wie Goethe auf dem Schlachtfeld von Valmy 1792. Hyginus(!) Heugeign ist Porte-Parole des Autors in dieser Frage. Er erlebt, dass der politische Umsturz neue Chancen eröffnet und versenkt sich in die in diesem Zusammenhang üblichen Redensarten so sehr, dass er nach einem Couplet zur Frage der revolutionären Veränderungen zusätzlich in Träume von Examina durch einen Paulskirche-Professor und im Gespräch mit der Braut zu Metaphern von Reichstag, Denkschriften, Anschluss und Personal-Union weiterwandert. Wenn der späte Napoleon festgestellt haben soll, dass „die Politik unser Schicksal sein werde“, dann meinte der Schriftsteller Sören Kierkegaard (1848 35jährig) im Vorwort zu einem Buch über sein Wirken als Schriftsteller skeptisch: „In diesen Zeiten ist alles Politik.“ Das scheint das Fazit Heugeigns zur Revolution zu sein.

Der Schwiegervater versucht ihn zu belehren; denn „Von was will denn der Schwiegersohn Weib und Kind erhalten?“ Er erhält die großartige Antwort: „Politik nix als Politik.“ Das wiederum führt zu einer albernen Metaphorisierung der europäischen Geographie durch Heugeign, der offenbar zeittypisch auch über Außenpolitik träumt. Als er sich zu unserem Theatermotto bekennt, das sich für den Mann, der an die Spitze will, zu viele Blößen gibt, fällt der Braut auf: „Heugeign, du bist furchtbar in deinem Grimm. Du wirst noch geköpft, gerädert.“

So weit so schlecht. Aber es kommt im Volkstheater Nestroys anders, wie Sie wissen. Es fährt ein Wagen vor, der erfreulicherweise nicht die Fortsetzung des Stücks als Politikkrimi in Szene setzt, sondern die neue Zeit von einer anderen Seite her beleuchtet. Restl sieht im Hintergrund einen Wagen, der keinen Verhaftungsbefehl, sondern einen Auftrag bringt. Erbstreitigkeiten in den besten Kreisen führen dazu, dass die englische Lady, die in diese besten Kreise am Wiener Hof einheiraten soll, wegen Verrat ein neues Maskenballkostüm von einem nicht auszukundschaftenden Schneider machen lassen muss, da die eingefahrenen Wege offensichtlich (während der politischen Unruhen) versagen. Mit diesem Kostüm trägt Heugeign mit Hilfe des Schwiegervaters und seiner Sippe und des von ihm in schlichter Form, aber mit leistungsfähiger Substanz erhaltenen Geschäfts einen großen Erfolg davon.

Nestroys Stück setzt zur Fortsetzung auf den Spaß durch die klassischen Intrigen, die das verhindern wollen, und auf eine geschickt inszenierte klassische Verwechslungskomödie, die dem Majoratserben die Mätresse unterschieben will, mit der er sein Erbe verlieren soll.

Da das zufällig die Braut des Schneiders Heugeign ist, lernt dieser bei der Affäre in allerlei gefährlichen Machenschaften am meisten und kehrt zum Handwerk zurück, das mit dem Wechsel nach der Revolution beste Aussichten auf einen neuen güldeneren Boden bekommt.

Der altromantische Intrigant Fuchs gerät in gefährliche Turbulenzen, die dem Schneider sein stabilisierendes Umfeld erspart, obwohl er nach alten Recht und Gesetz auf rechtem Wege nicht nur Falsches getan, sondern auch intendiert hat. Der neue Realismus verlangt, dass man genau Bescheid weiß, ob über Politik oder Wissenschaft als Beruf, wozu sich Heugeign provokativ fahrlässig auslässt, usw.!

Die Politik ist das Schicksal aller Menschen in Nestroys Stück, aber ganz anders als jeder von ihnen denkt. Überall bewähren sich Solidität, menschliches Gefühl, Liebe, Grundsätze, Vernunft. Das Fundament für die neue Epoche ist vorhanden. Man kann aus ihrer Präsentation bei Nestroy weiter lernen, auch im 21.Jahrhundert. Sein Volkstheater ist Spitze.

Zu Gattungsuntersuchungen läge mir sehr daran, festzustellen, dass Volkstheater, um erfolgreich zu sein, lehrhaft sein muss in dem Sinne, dass man aus seinen Vorgängen noch mehr als aus seinen Texten lernen kann. Mit dem kommenden Kabarett, scheint mir, hat es keine wesentliche Ähnlichkeit, vermutlich auch nicht mit der kommenden leichtfüßigen (komischen) Volksoper.

 

Thomas Steiert
Die „entfesselte“ Phantasie. Zur Rezeption eines Raimundstückes seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert

Nach fast drei Jahrzehnten Abwesenheit von den Wiener Bühnen kam Ferdinand Raimunds Original-Zauberspiel Die gefesselte Phantasie 1893 anlässlich der Eröffnung des Raimund-Theaters erneut zur Aufführung. In seiner programmatischen Schrift zur Theaterneugründung bezeichnete Adam Müller-Guttenbrunn Raimunds Stück als „das geborene Festspiel zur Eröffnung eines Volksschauspielhauses“. Der Festspielidee verpflichtet war auch die musikalische Neufassung der Gefesselten Phantasie durch Felix Mottl, die im Rahmen der Schubert-Feier 1897 in Karlsruhe auf die Bühne kam. Unter Verwendung der Musik von Schuberts stofflich verwandtem Melodram Die Zauberharfe (1820) schuf Mottl eine Version, die im Laufe des 20. Jahrhunderts gleichermaßen der Würdigung von Raimund wie von Schubert diente. 1910 im Druck erschienen, bildete Mottls Bearbeitung die Grundlage etwa für die Burgtheater-Produktion der Gefesselten Phantasie 1936 (zum 100. Todestag von Raimund), die Franz Salmhofer wiederum um einige musikalische Nummern erweiterte, sowie für spätere Einstudierungen am Theater in der Josefstadt. 

Von eher experimentellem Charakter – den Festspielakzent vernachlässigend – dürfte die Produktion durch die Künstlergruppe „Der Blaue Bienenkorb“ gewesen sein, die 1920 im Wiener Komödienhaus mit Grete Wiesenthal in der Rolle der Phantasie herauskam. Wenngleich die derzeitige Quellenlage – nur wenige Rezensionen dieser Aufführung liegen vor – eine detaillierte Auseinandersetzung nicht ermöglicht, bleibt festzuhalten, dass die mimisch-tänzerische Darstellung der zentralen Rolle durch die Wiesenthal dem Stück ein der Wiener Moderne verpflichtetes Erscheinungsbild verlieh.

 

Martin Stern
Fortschrittswahn und Dummheit bei Johann Nestroy und Gustave Flaubert

Das fortschrittsgläubige 19. Jahrhundert hat vor Nietzsche nur wenige dezidierte Kritiker am allgemeinen Optimismus von Wissenschaft und Politik hervorgebracht. Zu den originellsten und schärfsten dürften Nestroy und Flaubert zählen. Für beide gehörte die bedenkenlose Fortschrittshoffnung zu den fundamentalen Dummheiten der Menschheit. Diese Dummheit an ihren Figuren zu demonstrieren, wurde mindestens zu einem Teilziel einiger ihrer Werke. Auf diese konzentriert sich das Referat. Ein erster, kürzerer Teil befasst sich mit einigen einschlägigen Possen Nestroys, so unter anderem mit Szenen und Liedern in Der Schützling, Gegen Thorheit giebt es kein Mittel, Der alte Mann mit der jungen Frau, Glück Missbrauch und Rückkehr, Kampl oder das Mädchen mit Millionen und die Nähterin und Das Gewürzkrämerkleeblatt. Oft sind es Figuren, die Nestroy selbst spielte, die ihrem Misstrauen gegenüber Fortschrittshoffnungen und/oder ihrem Ärger über Dummheiten Ausdruck geben. Das legt einen Vergleich mit dem letzten, unvollendet gebliebenen Roman Flauberts nahe, in welchem der zwanzig Jahre später geborene Franzose mit Leidenschaft exemplarische Dummheiten persiflierte, mit Bouvard et Pécuchet. Ihm ist der etwas längere zweite Teil des Referats gewidmet. Dabei ist natürlich die Differenz der beiden Medien Posse und Roman zu beachten, sowie die unterschiedliche Disposition der Autoren und ihres kulturellen Hintergrunds. Nestroy war ein Viel- und Schnellschreiber; Flaubert verbrachte oft Tage über einer einzigen Seite. Nestroy hatte ein wankelmütiges Publikum mit Überraschungen zu befriedigen und durfte dessen Erwartungen nicht ungestraft enttäuschen; Flaubert war der menschlichen Banalität und ihrem Jargon auf der Spur, und zwar rücksichtslos bis zum Sarkasmus, er hatte nie die Absicht, seine Leser zum Lachen zu bringen. Nestroy situierte seine Figuren zumeist in der sozial mehrschichtigen Metropole der Monarchie; Flaubert mied in seinem Roman Paris und schrieb über Mentalitäten im Dorf, in der Kleinstadt, in der Provinz. Doch beide verband, wenn ich richtig sehe, ein tiefer (Schopenhauerischer?) Pessimismus. Er löst bei Nestroy zumeist Zustimmung und Lachen aus, bei Flaubert Empathie und gelegentlich auch Entsetzen. Das 20. und begonnene 21. Jahrhundert hat uns wohl gezeigt, dass nicht die Mehrheitsphilosophie des 19. Jahrhunderts Recht hatte, sondern die wenigen Skeptiker – wie Nestroy und Flaubert.

 

Alice Waginger
Das Opernprojekt „Die schwarze Frau“ von Carl Meisl und Adolph Müller sen.

Die parodierende Posse mit Gesang in 3 Akten „Die schwarze Frau“, verfasst von Carl Meisl mit der Musik von Adolph Müller sen. ist eine Parodie auf die Opera comique „La Dame blanche“ von François Boieldieu und Eugéne Scribé. Sie wurde am 1. Dezember 1826 im Theater in der Josefstadt in Wien uraufgeführt. Das Stück lief 25 Jahre lang als Erfolgs- und Repertoirestück der Theatertruppe um Direktor Carl Carl, und feierte auch im deutschsprachigen Ausland Triumphe, bevor es in Vergessenheit geriet. Es war nicht nur ein Karrieresprungbrett für den Komponisten Adolph Müller, der dadurch seine ersten großen Erfolge feierte, sondern auch für den Komiker Wenzel Scholz, der sich mit dem Charakter des Ratsdieners Klapperl, der fortan mit ihm identifiziert wurde, in Wien etablierte. Einige Seitenstücke und Fortsetzungen mit teilweise denselben Figuren entstanden in der Folge in Wien, ohne sich jedoch länger auf der Bühne halten zu können. 

Sämtliche Quellen von und über diese Parodie (Partituren, Textbücher, Drucke, Seitenstücken, Rezensionen) liegen in rauen Mengen in diversen Wiener Bibliotheken verteilt und harrten der Ausgrabung Die  Referentin hat diese im Rahmen ihrer Diplomarbeit am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Wien eingehend studiert und sie zum Zweck einer Wiederaufführung bearbeitet. Die von Schottland in den Krähwinkelort Gänsewitz verlegte Handlung dreht sich um ein junges Mädchen, das – als Geistererscheinung „die schwarze Frau“ verkleidet – seinen Vormund davon abbringen möchte, ihrer und ihres Erbes habhaft zu werden. Diese Geschichte wurde beim Musiktheaterfrühling 2011 im oberösterreichischen Gmunden zum ersten Mal seit ca. 160 Jahren mit jungen Gesangs- und InstrumentalstudentInnen in Szene gesetzt und vom anwesenden Publikum begeistert aufgenommen. Offenbar ging vom einstigen Witz und Charme des Stückes nichts verloren.

 

Susanne Winter
Lachkultur und Märchenwelt bei Carlo Gozzi und Ferdinand Raimund

Zwischen Ferdinand Raimund und Carlo Gozzi, zwischen Wien und Venedig sind die Parallelen derart zahlreich und teilweise so überraschend, daß sich eine vergleichende Betrachtung förmlich aufdrängt. Das Anekdotische der Beziehungen hinter sich lassend, soll der Vortrag einige formale, strukturelle und inhaltliche Aspekte von Gozzis und Raimunds Theater in vergleichender Perspektive vorstellen.

Wenn Gozzi seine zwischen 1761 und 1765 entstandenen Theaterstücke als Fiabe teatrali, Theatermärchen, und Raimund die seinen als Zauberspiel oder Zaubermärchen bezeichnen, liegt der Akzent beide Male auf dem Märchenhaften, und das Komische scheint höchstens in einem Epitheton auf. Charakteristisch für die Fiabe teatrali wie die Zauberspiele ist die Kombination zweier Welten, bei Gozzi von Märchenwelt und Maskentheater, bei Raimund von übernatürlicher Welt und Menschenwelt sowie das Zusammentreffen von Ernst und Komik. Gozzis Fiabe teatrali und Raimunds Zauberspiele zeichnen sich durch ein Experimentieren mit traditionellen dramatischen Genres und überkommenen darstellerischen Techniken aus, wobei sie zeittypischen literarisch-poetologischen Tendenzen wie der zunehmenden Literarisierung des Theaters oder dem Anspruch auf moralische Nützlichkeit und geistes- wie sozialgeschichtlichen Gegebenheiten auf ganz unterschiedliche Weise Rechnung tragen.

Im ersten Teil des Vortrags wird zunächst die „Machart“ der Fiabe teatrali und der Zauberspiele aufgezeigt, um auf dieser Grundlage Ähnlichkeiten und Unterschiede näher zu bestimmen und den immer wieder konstatierten Bezug zwischen Raimunds und Gozzis Theaterstücken in struktureller Hinsicht zu beleuchten. Unter den Aspekten der Auswahl bestimmter Elemente aus den Grundkomponenten des Märchens und der Commedia dell’arte bei Gozzi und des übernatürlichen beziehungsweise allegorischen Bereichs und der menschlichen Welt bei Raimund, wie auch ihrer Gewichtung und der Art und Weise ihrer Kombination treten die strukturellen und dramaturgischen Charakteristika von Fiabe teatrali und Zauberspielen deutlich zutage.

Am Beispiel dreier Stücke von Raimund, Der Barometermacher auf der Zauberinsel, Der Diamant des Geisterkönigs und Der Verschwender, werden in einem zweiten Teil inhaltliche oder motivische Bezüge zu einigen Fiabe teatrali Gozzis untersucht. Insbesondere anhand von La donna serpente und dem Zaubermärchen Der Verschwender, in denen dieselbe Fee, nämlich Cherestanì bzw. Cheristane, eine entscheidende Rolle spielt, läßt sich der Umgang mit der Märchensphäre, mit Märchenhandlung und nicht-menschlichen Personen, mit komischen Figuren und Elementen, mit dem Verhältnis von theatraler und nicht-theatraler Wirklichkeit, mit Illusionsbildung und Illusionsbrechung anschaulich zeigen.

Wenn auch für die Charakterisierung der Fiabe teatrali wie der Zauberspiele gegensätzliche Begriffspaare wie Ernst und Komik, Märchen und Alltag, Prosa und Vers zutreffen, ist der Umgang mit diesen Dichotomien doch grundsätzlich verschieden: Gozzi hebt den Kontrast hervor, unterstreicht ihn bewußt und betont damit die artifizielle, wirklichkeitsferne Gestaltung der Fiabe teatrali. Darüber hinaus kommt dem Kontrast im Kontext aufklärerischer Nivellierungstendenzen eine bedeutungstragende Funktion zu, mittels derer die Fiabe teatrali dem Vorwurf, nur der Evasion zu dienen, entgehen. Raimund dagegen zielt auf eine harmonisierende Mischung der gegensätzlichen Elemente, auf eine Verbindung von nicht-menschlicher und menschlicher Sphäre, die der betont amimetischen Intention Gozzis entgegensteht, jedoch ebenfalls einen deutlich illusionären Charakter aufweist. In Gozzis Fiabe teatrali wie in Raimunds Zaubermärchen erfolgt der Verweis auf die Realität in indirekter Weise, sei es in Form der Allegorie, sei es in Form der Metapher.