Nestroy-Gespräche 2011: Bericht

Routine und Experiment bei Raimund und Nestroy

 

 

Die 37. Internationalen Nestroy-Gespräche (1. bis 5. Juli 2011) auf Schloss Altkettenhof (Justiz-Bildungszentrum) widmeten sich „Routine und Experiment bei Raimund und Nestroy“. Die bei den 39. Nestroy-Spielen 2011 unter Nestroys Entwurfstitel Der Mann an der Spitze aufgeführte Posse Lady und Schneider (1849) führte im politischen Kontext der zeitgenössischen Aufnahme wie der heutigen Wirkungsmöglichkeiten ins Zentrum der Tagungsthematik.

Das Volkstheater verlangt einen routinierten Umgang mit der „Tradition“ und zugleich immer auch etwas „Neues“, den gekonnten Einsatz komischer Elemente und zugleich eine Art und Weise, diese neu zu ‚spielen‘. Routine kann hier stereotype Gewohnheit, aber auch technisch gekonntes Handwerk sein, ein ambivalentes dialektisches Zusammenspiel von Routine und Experiment, wie es vor allem in der zeitgenössischen Bewertung der jeweils „neuen“ und anderen Komik bei Raimund und Nestroy wahrgenommen wurde.

Was heißt Routine bei Raimund, wie vertragen sich Festhalten am Erprobten und seine Ambition, die „Niederungen“ des „Lachtheaters“ zu überwinden? Einerseits leben seine Dramen von Anleihen an das traditionelle Zaubertheater, andererseits ist ihre Struktur von einer Stilmischung geprägt, von einem erneuerten allegorischen Theater, in dem Sprach-, Stil-, Spiel- und Wirklichkeitsebenen sowie Wirkungsabsichten neu profiliert werden. Raimund gelang es aber letztlich nicht, den Ernst im komischen Volkstheater durchzusetzen.

Wie steht es um Nestroys Routine? Wollte er wirklich „Dichter nur der Posse“ sein, oder lässt sich Krapfls Aussage in Der holländische Bauer „Ich bin der Kolumbus einer neuen Methode“ [1] auch auf die Praxis der Theaterschriftstellerei übertragen? [2] Ist die politische Posse bei Nestroy ein Experiment? Sind bei der Posse mit ihren erprobten Rezepten überhaupt Experimente möglich? Zumindest bei seinen Misserfolgen – z. B. Eine Wohnung ist zu vermieten oder Nur Ruhe! – ist Nestroy in anderer Weise als Raimund an die Grenzen des im Unterhaltungstheater Möglichen gestoßen.

Auch Erfolg und Erfüllung der Erwartungen des Publikums und der Theaterkritik sowie der Ausgleich zwischen Bildungsanspruch und kommerziellem Unterhaltungstheater werden vom Spannungsfeld zwischen Routine und Experiment bestimmt. Dabei stellt sich die Frage, wie es um die Experimente mit den Elementen des „anderen Theaters“ (Rudolf Münz) im „regelgerechten“ Drama steht, um die „Literarisierung“ des Volkstheaters und um die Integration von ‚hohen‘ und ‚niederen‘ Stilelementen.

Eröffnet wurden die Gespräche mit Peter Grubers Inszenierung von Der Mann an der Spitze oder Lady und Schneider. Der bearbeitete und aus anderen Possen ergänzte Text ermöglichte auf dem historisch-politischen Hintergrund den Transfer in unsere Gegenwart. [3]

Galina Hristeva (Stuttgart, D) betrachtete Nestroys Geschichtsauffassung im Kontext der Hegel’schen Dialektik und zeigte an Der böse Geist Lumpacivagabundus und anderen Possen sowie den Revolutionsstücken die Ambivalenz von Routine und Experiment, die Suche nach Freiheit und Befreiung aus dem Alltagsleben und den Umgang mit dem geschichtlichen Handeln der Menschen. Die politischen Possen seien neu zu bewerten; Lady und Schneider sei kein „Resignationsdrama“.

Walter Pape (Köln, D) zeigte mit gattungspoetologischen und wirkungsästhetischen Argumenten, wie die Verknüpfung von Lustspiel und Realgeschichte im auf sich selbst verweisenden Komödienspiel zu einer Privatisierung oder gar Zersetzung des politischen Gehalts führe. Insofern könne bei Nestroy von Experimenten mit der politischen Komödie keine Rede sein.

Hans-Jürgen Schrader (Genf, CH) analysierte unter dem Titel „Experimente und Routinen in Sachen Liebe und Ehe“ den „bürgerlichen Kleinkrieg“ im Rollenspiel der Komödie, die satirisch und desillusionierend Flucht- und Ausbruchsversuche bis in Experimente mit den Happy Endings hinein entlarvt, radikalisiert in dem erst 1923 uraufgeführten Einakter Zeitvertreib (1858), mit dem Nestroy auf Friedrich Dürrenmatt vorausweise.

Dass die Komik nicht der Verklärung der ‚Verhältnisse‘ dient, sondern vergnügliche Erkenntnis leistet, wenn die ‚falsche‘ Routine der Figuren „auf den Kopf“ gestellt und demaskiert wird, zeigte auch Andrea Hanna (Belfast, GB) mit Rückgriff auf Bachtin an Raimunds Rappelkopf in Der Alpenkönig und der Menschenfeind und Nestroy Der Tod am Hochzeitstag.

Marion Linhardt (Bayreuth, D) führte mit einem Impulsreferat zum „politischen Nestroy“ in die Diskussion zu Stück und Inszenierung ein, wobei sie zunächst Ergebnisse früherer Nestroy-Gespräche wie der einschlägigen Forschung resümierte, die Bandbreite der Sichtweisen skizzierte (u. a. Theater und Politik, gesellschaftlicher Wandel und soziale Frage, Nestroys politische Haltung und sein Umgang mit der Zensur, politisches Bewusstsein des Publikums), um dann im Kontext der Studie Hartmut Rosas Lady und Schneider als „Stück über die Moderne“ zu charakterisieren. [4] Peter Gruber sieht in der Hauptfigur Heugeign den „Vorläufer eines heute in fast allen Demokratien auf dem Vormarsch befindlichen Politikertypus“. [5]

Die Diskussion der Aufführung griff auch auf Interpretationsansätze der Referate von Hristeva und Pape zurück. Hervorgehoben wurden u. a. die Kritik an feudalen Gesellschaftsstrukturen, Reminiszenzen an Schillers Kabale und Liebe, ferner, dass die thematische Durchführung auf Kosten der Komik und der theatralischen Wirksamkeit gehe, dafür trete das politische Sprechen selbst mit seinem satirischen Zerrbild in den Vordergrund und verleihe dem Stück einen parabelhaften Zug.

Franz Schüppen (Herne, D) sah in Heugeign ein Sprachrohr Nestroys, der in der Verbindung von Privatleben und Politik einem „neuen Realismus“ mit Konsequenzen für ein lehrhaftes Volkstheater verpflichtet sei.

Für Rudolf Muhs (London, GB) enthält das Stück keine Parteinahme Nestroys, aber es sei ein Kommentar zum Zeitgeschehen, der vor allem die Diskrepanz zwischen der politischen Theorie und der Lösung der sozialen Frage, zwischen dem Frankfurter „Professorenparlament“ und den Nöten des „gemeinen“ Volks zeige. Heugeign – keine Karikatur eines Opportunisten – verweise mit der Schlussfrage „Also gar kein politischer Hintergrund?“ nicht auf eine nur komödiantische Intrige, sondern auf die vor allem im Auftrittsmonolog (I, 8) sichtbare Doppelbödigkeit. Die possenhafte „antifeministische Schlussgeste“ deute auch auf die ungelöste politische Problematik nach dem Rücktritt Kaiser Ferdinands und die Situation des Volks, „ein Ries in der Wiegen“ (I, 8).

In diesen Kontext stellte Sigurd Paul Scheichl (Innsbruck, A) seine Interpretation von Eduard von Bauernfelds Familienkomödie Großjährig (1846, Druck 1849), deren politische Dimension sich nicht im witzigen Dialog, sondern in der Figurenkonstellation finde, die in allegorischer Weise unterschiedliche politische Haltungen mit Kritik an Metternich und dem Kaiserhaus repräsentiere.

Ein weiterer Schwerpunkt war Ferdinand Raimund gewidmet. – Thomas Aigner (Wien, A) stellte anhand neu entdeckter Musikhandschriften zu Das Mädchen aus der Feenwelt oder Der Bauer als Millionär (Melodieentwurf zu „Brüderlein fein“) und Die gefesselte Phantasie (Quodlibet der Phantasie, „Heurigenlied“) die Bedeutung Raimunds als Mitkomponist heraus. [6]

Thomas Steiert (Bayreuth, D) verfolgte die Rezeption der Gefesselten Phantasie vom „Festspiel“ zur Eröffnung des Raimund-Theaters 1893 bis zu Adaptionen mit der Musik von Franz Schuberts Die Zauberharfe (1820) und verschiedenen Bearbeitungen, zuletzt 2006 in Gutenstein, wo wieder auf die Originalmusik von Wenzel Müller zurückgegriffen wurde.

Susanne Winter (Salzburg, A) verglich Raimunds Zaubertheater mit Carlo Gozzis Fiabe teatrali, [7] stellte strukturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede heraus, vor allem den Einfluss orientalischer Märchen und die Akzentuierung einer eigenen theatralen Wirklichkeit in der Verbindung von ‚Spiel‘ und ‚Wunderbarem‘, wobei im Unterschied zu Gozzi bei Raimund keine homogene Märchenwelt mehr entstehe und die Figuren wirklichkeitsnäher agierten. 

Daniel Ehrmann (Salzburg, A) untersuchte den Einfluss der Aufklärung und des klassischen Humanitätsideals auf das österreichische Biedermeier und bei Raimund, besonders dessen Transferleistung – wohl auch unter dem Einfluss Christoph Martin Wielands [8] – in Der Verschwender: Julius Flottwell, der seine Affekte nicht beherrschen kann, werde im Kontext eines humanistischen Konzepts, das der Diener Valentin vertritt, in die Sozialität zurückgeholt, wobei die Komisierung die Verbindung hoher und niederer Elemente leiste. Über die zum Kitsch neigende restaurative Tendenz des Stückschlusses, die „Lernbarkeit der Tugend“ und die Diskrepanz zwischen Autonomie und Einfügung in eine stabilisierte Ordnung, ließe sich streiten.

Roman Lach (Braunschweig, D) versuchte eine Neuinterpretation von Raimunds Die unheilbringende Zauberkrone als Experiment mit dem hohen Pathos der Tragödie in Kontrast mit dem Komischen, was durch den gesteigerten Einsatz der Bühnentechnik zu einem „Tableau-Charakter“ und einer „Klapptechnik“ führe. Insofern könne man bei diesem „Welttheater“-Versuch auch von Theater auf dem Theater sprechen.

Einen weiteren Beitrag zur Lustspieldebatte um 1800, zur Ausbildung einer „Wiener Komödie“ und zur Annäherung des „Unterhaltungsstücks“ des Burgtheaters an Produktionen des Volkstheaters bot Matthias Mansky (Wien, A) am Beispiel von Christian Gottlob Klemm und Stephanie d. J. [9] Beide gelten als „Reformatoren“ der Wiener Bühne, die sich auch an der sächsischen Komödie und dem rührenden Lustspiel orientierten und die beim Publikum beliebte Komik des Hanswurst und „à la Bernardon“ domestizierten. Klemm habe in Der Schuster als Goldmacher (1765) ein Gegenstück zu Kurz-Bernardon geschrieben. Stephanie d. J. rückt Frau Mariandel oder Die natürliche Zauberei (1773) in die Nähe dieser Dramaturgie, wobei aber der Zauber rational erklärt und als Schwindel entlarvt werde.

Martin Stern (Basel, CH) stellte Nestroy neben Gustave Flaubert und sah beide in ihrem Kampf gegen die Dummheit als sprachsatirische Pessimisten des fortschrittsgläubigen 19. Jahrhunderts. 

Arnold Klaffenböck (Strobl, A) zeichnete ein Porträt des Schauspielers Kurt Sowinetz (1928–1991), der die zeitgenössische Rezeption Raimunds und Nestroys zwischen Routine und Experiment mitgeprägt habe; besonders in Erinnerung bleibe die virtuose Gestaltung des Zwirn in Der böse Geist Lumpacivagabundus.

In der Sektion „Funde, Fragen, Berichte“ informierte Gabor Kerekes (Budapest, H) über Nestroy in ungarischen Literaturgeschichten seit 1900 und arbeitete im Kontext verschiedener Theaterkulturen und politischer Horizonte unterschiedliche Rezeptionsphasen und Bewertungen heraus.

Alice Waginger (Wien, A) berichtete über die Wiederentdeckung von Karl Meisls Boieldieu/Scribe-Parodie Die schwarze Frau (1826; Musik von Adolf Müller), in der Wenzel Scholz fast 150mal den Ratsdiener Klapperl [10] spielte und auch Nestroy und seine Lebensgefährtin Marie Weiler auftraten. Die Wiederaufführung 2010 in Gmunden war eine gelungene Verbindung von Kunst, Wissenschaft, Theorie und Praxis.

Matthias Schleifer (Bamberg, D) las eigene Nestroy-Sonette und wies auf die sonettartige Struktur einiger Couplets hin (z. B. das Auftrittslied Peter Spans in Der Unbedeutende).

Schließlich führte eine Exkursion unter der Leitung Walter Obermaiers (Wien, A) aus Anlass des 200. Geburtstags von Franz Liszt (1811–1886) ins Burgenland, das zu Liszts Lebzeiten noch Teil der ungarischen Hälfte der Österreichisch-Ungarischen Monarchie war, zunächst zur Pfarrkirche in Unterfrauenhaid, in der Liszt getauft wurde, dann zum Geburtshaus in Raiding (Doborján) und zur Ausstellung „Lisztomania“ im Burgenländischen Landesmuseum in Eisenstadt. Liszt verbrachte wesentliche Jahre seines Lebens auch in Wien und gehört zum kulturellen Umfeld Nestroys, von dem er auch wahrgenommen wurde, u. a. im Kontext „musikalischer Wunderkinder“, wie Coupletstrophen in Der Färber und sein Zwillingsbruder („A Bub von Neun Jahr’n spielt Etüden von Li[z]t“) und Einen Jux will er sich machen („Und doch liest man Clavierkonzert fast alle Tag / An allen Ecken, aber im Preis geben s’ dem Lißt nicht viel nach –“) beweisen.

Die Schlussdiskussion zog ein Resümee und gab einen Ausblick auf Nestroys 150. Todesjahr 2012.
(Jürgen Hein)

 

 

1 Vgl. auch Johann Nestroy, „Reserve“ und andere Notizen, hg. von W. Edgar Yates (Quodlibet, Bd. 2), 2., verbesserte Auflage, Wien 2003, S. 67 (Nr. 169).
2 Vgl. Jürgen Hein, ‚„… bin Dichter nur der Posse“. Ein Albumblatt Nestroys aus dem Jahr 1846‘, Nestroyana 16 (1996), S. 24 f.
3 Zum zeitgenössischen Kontext und zur Interpretation vgl. Stücke 26/II, 1 ff., 158–162, 171–196.
4 Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a. M. 2005. Zu Geschwindigkeit und Entfremdung als Zeichen der Moderne bei Nestroy vgl. auch Richard Reichensperger, ‚Johann Nestroy und Walter Benjamin‘, in: Noch einmal Dichtung und Politik. Vom Text zum politisch-sozialen Kontext und zurück, hg. von Oswald Panagl und Walter Weiss, Wien, Köln, Graz 2000, S. 121–140.
5 Programmheft der 39. Nestroy-Spiele Schwechat 2011, S. 8.
6 Vgl. Thomas Aigner, ‚Musikhandschriften Ferdinand Raimunds‘, in: Jahrbuch der Österreich-Bibliothek in St. Petersburg 8 (2007/2008) [2009], S. 58–72.
7 Vgl. Susanne Winter, Von illusionärer Wirklichkeit und wahrer Illusion. Zu Carlo Gozzis Fiabe teatrali, Frankfurt a. M. 2007. 
8 Vgl. Eugen Thurnher, ‚Raimund und Wieland‘, in: Sprachkunst als Weltgestaltung. Festschrift für Herbert Seidler, Wien 1966, S. 317–333.
9 Vgl. die Berichte über die Vorträge bei den Internationalen Nestroy-Gesprächen 2006–2010 und Matthias Mansky, Cornelius von Ayrenhoff. Eine Monografie, Diss. Wien 2010.
10 Vgl. Abb. in Wenzel Scholz und Die chinesische Prinzessin, hg. von Jürgen Hein (Quodlibet, Bd. 5), Wien 2003, S. 94.