Nestroy-Gespräche 2007: Referate (Exposés)

„… ’s kommt Alls auf a Gwohnheit nur an“
Raimund und Nestroy: Kanon, Kontext, Inszenierung

 

 

 

Jürgen Hein: Einführung

Mit Glück, Mißbrauch und Rückkehr oder Das Geheimnis des grauen Hauses (1838) bringen die 35. Nestroy-Spiele Schwechat ein Stück, das trotz der erfolgreichen zeitgenössischen Rezeption in Wien und im deutschen Sprachraum – u.a. in Hamburg und Prag – keinen Eingang in den Nestroy-Kanon des 20. Jahrhunderts gefunden hat, von Aufführungen 1952 im Schönbrunner Schlosstheater, 1963 im Salzburger Landestheater und 1971 im Burgtheater abgesehen. Zu Lebzeiten Nestroys gehörte es zu den meistgespielten Possen, ihm selbst wurde in der Rolle des Blasius Rohr sogar ein Denkmal gesetzt. [1]

Gespannt sein darf man auf die Schwechater Inszenierung und die Wiederentdeckung einer zu Unrecht vergessenen Posse mit aktueller sozialer Thematik.

Für die 33. Internationalen Nestroy-Gespräche ergeben sich im Kontext der Posse und ihres theatralen wie sozialen Umfelds anregende und interessante Aspekte.

Schon von der zeitgenössischen Kritik wurden Vergleiche mit Ferdinand Raimund und der Tradition des „Besserungsstückes“ angestellt. Die Posse in fünf Akten ist für Nestroys Entwicklung als Dramatiker bedeutsam, und es stellen sich Fragen nach dem Ernst in der Komödie und der Affinität zum Tragikomischen bei Raimund und Nestroy und bis zu Ödön von Horváth und zum Gegenwartstheater.

Die Rezeption der Posse lenkt den Blick auf Aspekte der Wirkung Nestroys im norddeutschen Sprachraum, den er selbst bereiste, [2] ferner auch allgemein auf die Spaßmacher-Rolle, auf die Position Raimunds und seiner Komik im Kontext der Tradition, sowie auf Kanonfragen („Rekanonisierung“ des Kasperl; Aspekte des „Theaterkanons“ im Spannungsfeld von Volkstheater und Bildungstheater).

Nach Erika Fischer-Lichte kehrt mit Nestroys Komik, an der vor allem die „Jungdeutschen“ Anstoß nahmen, „der groteske Leib des Karnevals auf die Bühne zurück“, allerdings erfülle „er keine Entlastungsfunktion mehr, sondern eine Erkenntnisfunktion“, [3] eine interessante These für die Diskussion!

Die Raimund- und Nestroyzeit im Spiegel von Briefen – Konradin Kreutzer (1780–1849) – und das Theater aus der Perspektive Adalbert Stifters (1805–1868) soll in Referaten erhellt werden.

Bild und Funktion der Natur bei Raimund und Spezifika seiner Dramaturgie im Theaterkontext des 19. und 20. Jahrhunderts bilden einen weiteren Schwerpunkt.

Auch das Themenfeld „Mädchen aus der Feenwelt und Mädeln aus der Vorstadt“ bedarf weiterer Erforschung. Zwei Vorträge widmen sich den Feenwelten der Therese Krones (1801–1830) einerseits und der Theatergeschäftswelt der Margaretha Carl (1788–1861) andererseits. Sie war die Gattin Karl Carls, von Nestroys Freund Ernst Stainhauser „Napoleon des Theaters“ genannt, über dessen „menschliche Qualitäten“ die Meinungen auseinander gingen. [4]

Die Nestroy-Rezeption auf den stehenden Bühnen im außerösterreichischen deutschen Sprachraum, insbesondere in Berlins, und damit verbunden die Bildung eines Nestroy-Kanons, ist nach wie vor ein Desiderat der Forschung. [5]

Dazu als Illustration und Anregung zur Diskussion zwei Zitate aus Theodor Fontanes Roman Graf Petöfy (1884): [6]

„Ich hör’ es gern“, erwiderte die Gräfin, „dass Ihnen unser Wien gefällt. Es ist nicht immer so. Das norddeutsche Wesen ist doch sehr anders.“

„Sehr anders“, wiederholte die junge Schauspielerin. „Gewiß. Aber vielleicht liegt gerade hierin der Grund, daß sich das Norddeutsche zu dem Wienerischen hingezogen fühlt, denn das Wienerische hat neben dem Vorzuge der Umgänglichkeit auch noch andere Vorzüge, die das in den Schatten stellen, was gelegentlich mit zuviel Güte gegen uns als unsere besondere Tugend betrachtet wird. Wir empfinden tief das Unausreichende des bloß Angelernten. Eine Sehnsucht nach dem Einfacheren, Natürlicheren regt sich beständig in uns, und diese Sehnsucht ist vielleicht unser Bestes.“

Die Wiener sind ein Vergnügungsvolk und gehen ins Theater, um unter Lachen und Weinen sich etwas vormachen zu lassen, aber auch der Passionierteste fühlt sich schließlich auf einem Parkett- oder Parterreplatz immer noch wie zu Gast. Anders der Franzose. Der ist da zu Hause, füllt die Hälfte seines Daseins mit Fiktionen aus, und wie die Stücke sein Leben bestimmen, so bestimmt das Leben seine Stücke. Jedes ist Fortsetzung und Konsequenz des andern, und als letztes Resultat haben wir dann auch selbstverständlich ein mit Theater gesättigtes Leben und ein mit Leben gesättigtes Theater. Also Realismus!

Das Verhältnis von szenischen Bildern, Raumgestaltung und Bühne bei Raimund und Nestroy ist noch wenig erforscht. [7]

Inszenierungsaspekte und „szenographische Praxis“ im internationalen Kontext bilden einen weiteren Schwerpunkt der Vorträge und Diskussion.

 

 

1 Das Denkmal, von Oskar Thiede gestaltet, wurde am 22. Juni 1929 vor dem Nestroy-Hof in der Praterstraße (ab 1932 Nestroyplatz) enthüllt, nach dem Krieg am 18. November 1950 im Reinhardt-Seminar (Palais Cumberland) und am 2. September 1983 in der Nähe des ersten Standorts wieder aufgestellt; vgl. Karl Zimmel, Zur Geschichte des Nestroy-Denkmals, Nestroyana 5 (1983/84), S. 21–26.
2 Vgl. die Karte „Stehende Bühnen 1789 bis 1830“ in meinem Abstract.
3 Erika Fischer-Lichte, Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tübingen und Basel 1993, S. 189.
4 „Kann man also Honoriger seyn als ich es bin??“ Briefe des Theaterdirektors Carl Carl und seiner Frau Margaretha Carl an Charlotte Birch-Pfeiffer, hg. von Birgit Pargner und W. Edgar Yates (Quodlibet 6), Wien 2004, S. 25.
5 Vgl. die Karte „Stehende Bühnen 1789 bis 1830“ in meinem Abstract; vgl. die Karte „Theaterbauten und als Theater eingerichtete Säle um 1790“ aus: Herbert A. Frenzel, Geschichte des Theaters, Daten und Dokumente 1470–1890, München 2. Aufl. 1984, S. 335.
6 Zit. nach der Reclam-Ausgabe, Stuttgart 1998, S. 15 f. und 54 f.
7 Vgl. allgemein: Joachim Hintze: Das Raumproblem im modernen deutschen Drama und Theater, Marburg 1969.

 

Elke Brüns
Landschaften und Liebesräume
Zu Raimunds ‹Der Alpenkönig und der Menschenfeind›

Das Zauberspiel Der Alpenkönig und der Menschenfeind kontrastiert in seinen zwei Titelfiguren Gesellschaft und Natur. Beiden scheinen getrennte Sphären zu repräsentieren: Das Haus des Menschenfeindes wird von Besitzer selbst als „Asyl der Falschheit“ wahrgenommen und gestaltet sich aufgrund dieser Fehlwahrnehmung als Raum problematischer sozialer Beziehungen. Durch den Eingriff des Alpenkönigs wird dieser Raum in einen ‚Liebesraum‘ transformiert. Der Palast des Alpenkönigs könnte damit als Utopie einer versöhnenden Natur erscheinen. Doch wird diese Aufteilung schon vom Alpenkönig selbst hinterfragt, da er den Menschenfeind darauf hinweist, daß auch die Natur „Giftiges“ kenne. Der Vortrag stellt die Frage nach Bild und Funktion der Natur in Raimunds Stück.

 

Gertrude Gerwig
Bewundert viel und viel gescholten
Glücklose Nestroy-Aufführungen in Berlin

Nicht immer sind Erstaufführungen von Nestroy Stücken in Berlin positiv aufgenommen worden. Es gibt auch einige „Flops“, obwohl dieses moderne Wort nicht unbedingt mit Nestroy in Verbindung zu bringen ist; sagen wir besser: Nestroys Stücke sind durchgefallen!

Nachdem er sich in Berlin am Königsstädtischen Theater im Jahr 1834 mit der erfolgreichen Erstaufführung von Lumpacivagabundus einen Namen bei Publikum und Kritikern gemacht hat, folgen die nächsten Erfolge im Jahr 1835 mit Eulenspiegel und 1836 mit Zu ebener Erde und erster Stock. Doch im Mai 1836 kommt Der Treulose auf nur vier Aufführungen; zu flüchtig und langweilig bearbeitet, wird kritisiert. Im November 1836 schafft Robert der Teufel sogar nur eine Aufführung und verschwindet komplett vom Spielplan. Nach der erfolgreichen Premiere vom Jux im Mai 1842, folgt im Dezember die Aufführung von Glück, Missbrauch und Rückkehr oder Das Geheimnis des grauen Hauses, welche sowohl vom Publikum, als auch von den Kritikern als total unmoralisch abgelehnt wird. Nach dieser einmaligen Vorstellung taucht das Stück erst wieder im Jahr 1854 im Vorstädtischen Theater auf. Die Posse Unverhofft wird zwar öfter aufgeführt, ist aber beim Berliner Publikum auch nicht sehr gefragt; im Jahr 1845, bei Nestroys zweitem Gastspiel in Berlin, nur 3-mal gespielt und noch eine Aufführung 1847, wieder beim Nestroy-Gastspiel. 1854 folgen noch zwei Aufführungen in der Königsstadt, anlässlich eines Gastspiels von Herrn Tomaselli vom Theater in der Josefstadt.

Zur Sprache kommen noch zwei weitere, nicht besonders erfolgreiche Stücke, und es wird der Versuch unternommen, diesen Misserfolgen auf den Grund zu gehen. Ist es die Thematik, sind es einzelne Rollen in den Possen, die Publikum und Kritikern missfallen? Oder finden sich andere Gründe, warum ein Kritiker die Aufführung einer Posse schlecht bewertet?

 

Herwig Gottwald
Adalbert Stifter und das Theater

Der Erzähler Adalbert Stifter ist zwar nicht als Dramatiker hervorgetreten, er hatte auch vor dem Theater an sich eine gewisse Scheu, beschäftigte sich aber doch sowohl theoretisch als auch in seinen Dichtungen selbst mit Fragen des Dramas und der Aufführungspraxis.

Dem Theater des Jungen Deutschland wie der Entwicklung der österreichischen Theaterszene nach 1848 begegnete er mit immer größer werdender Skepsis, die sich vor allem in seinen Theaterkritiken, aber auch in darüber hinausreichenden allgemeiner gehaltenen Aufsätzen niederschlug. In diesem Vortrag sollen zuerst Stifters Beziehungen zum Wiener Burgtheater, vor allem zur Schauspielerfamilie Rettich (u.a. zu Julie Rettich, der er mehrere Artikel widmete), sowie zum Linzer Theater erläutert werden. Im weiteren werden Stifters Ansichten über die Aufgaben des Theaters im allgemeinen (besonders in bezug auf die Dramentheorien der Aufklärung und der Klassik) in deren literarischen und kulturgeschichtlichen Kontexten erörtert werden (vgl. die Aufsätze „Zur dramatischen Kunst“, „Theater in Linz“, „Über Beziehung des Theaters zum Volke“). In den Zusammenhang seiner Tätigkeit als Kritiker gehören auch seine Vorträge zu Schiller anläßlich der Feier von dessen 100. Geburtstag. Stifters Beziehung zu großen Theaterdichtern der Tradition, von Aischylos über Shakespeare bis Schiller, soll anhand der genannten Texte sowie ausgewählter Briefstellen erläutert werden.

Den Abschluß des Vortrags wird die berühmte Theater-Szene aus dem Nachsommer (Bd. I, Kap. 6) bilden: Der Held des Romans, Heinrich Drendorf, besucht eine Aufführung des King Lear im Wiener Burgtheater, die ausführlich beschrieben wird. Die lebensentscheidende erste Begegnung Heinrichs mit seiner späteren Frau Natalie findet anläßlich dieses Theaterbesuchs statt, der damit zu einem zentralen Erlebnis in dessen Bildungsweg avanciert. Stifters eigene Shakespeare-Begeisterung wird hier ebenso deutlich wie seine Auffassungen von Zweck, moralischen Aufgaben und Wirkungspotentialen des Theaters.

 

Jürgen Hein
Nestroy auf den Spielplänen deutscher Stadttheater des 19. Jahrhunderts
Eine vorläufige Bestandsaufnahme

„Ganz abgschabn kommt zu ein Director nach Wien
Ein Schauspieler und sagt: „Ich komm jetzt von Berlin,
Von Braunschweig und Hamburg hab Anträge ich,
In Hannover und Bremen reißt man sich um mich,
Beym Abschied, da warf man mir Kränze sogar“ –
Und ’s ist Alles nit wahr, es is Alles nit wahr!“
[1]

Die Nennung norddeutscher Bühnen in dieser Coupletstrophe ist keine Fiktion. In Flögels Geschichte des Groteskkomischen heißt es 1862: „Leider haben gerade die verwerflichsten Nestroy’schen Stücke auch auf den norddeutschen Theatern die größte Anziehungskraft ausgeübt, weit mehr als Schiller und Goethe“, und Otto Weddigen hält in seiner Geschichte der Theater Deutschlands rückblickend fest: „Welche Lachstürme entfesselten die Possen Nestroys, allen voran Lumpazivagabundus!“ [2] Nestroys Popularität ist nicht allein durch seine Gastspiele belegt, die weite Verbreitung seiner Stücke läßt sich auch in den Spielplänen der Theater im deutschsprachigen Raum belegen, die freilich nur in wenigen Fällen dokumentiert oder theatergeschichtlich aufgearbeitet sind. Die lokalen Theatergeschichten begnügen sich oft nur mit Resümees der Spielzeiten und Hervorhebung von herausragenden Theaterereignissen.

Die mitgeteilten Funde sind den leichter zugänglichen örtlichen Theatergeschichten entnommen. Berücksichtigt wurden in erster Linie die stehenden Bühnen, wobei man die Spielpläne der Hoftheater eigens analysieren müßte. [3] Wichtig wäre überdies eine Untersuchung der fahrenden Truppen. Die Theater der Donaumonarchie bleiben in diesem Beitrag ebenso ausgeklammert wie weitgehend Nestroys Gastspiele selbst, die einer eigenen Darstellung bedürfen. Allerdings wäre den Wechselbeziehungen nachzugehen.

Die erklärtermaßen vorläufige und unvollständige Dokumentation aus etwas über 45 lokalen Theatergeschichten will keine Bewertung versuchen, z.B. hinsichtlich der Aufnahme Nestroys außerhalb Wiens und Österreichs, der Unterschiede zwischen norddeutschem und süddeutsch-österreichischem „Humor“, des Wandels in der Auffassung vor und nach 1848, des Stellenwerts der „Lokalkomik“ in der Schauspielkunst usw.; alles dies muß einer späteren Auswertung der Rezeptionsdokumente, einschließlich der Gastspiele Nestroys, vorbehalten bleiben.

1 Johann Nestroy: Die verhängnißvolle Faschings-Nacht, HKA Stücke 15, hg. von Louise Adey Huish, Wien 1995, S. 167: III,1, Lied des Lorenz , 6. Strophe. In der Ausgabe von Chiavacci und Ganghofer heißt es zu Beginn des 5. Verses „In Frankfurt, da warf man […]“.
2 Flögels Geschichte des Groteskkomischen, neu bearb. und erweitert von Friedrich W. Ebeling, Leipzig 1862, S. 203; Weddigen, Otto: Geschichte der Theater Deutschlands in hundert Abhandlungen dargestellt nebst einem einleitenden Rückblick zur Geschichte der dramatischen Dichtkunst und Schauspielkunst, 2 Bde., Berlin 1904/06, S. 797.
3 Vgl. die Karte „Orte mit stehenden Bühnen“ mit den eingezeichneten Reise- und Gastspielorten Nestroys, entnommen aus: Geschichte der deutschen Literatur, 1789 bis 1830, Von Autorenkollektiven […], Bd. 7, Berlin 1978, S. 736; Nestroys Reisen und Gastspielorte wurden von mir ergänzt.

 

Herbert Herzmann
Nestroy als kritischer Realist

Obwohl die Theaterreformer der Aufklärung bestrebt waren, die sinnlichen Elemente von der Bühne zu verdrängen und durch das Wort zu ersetzen, blieb der Körper des Schauspielers weiterhin ein wichtiges Instrument seiner Kunst: Er sollte sich nun gleichsam wie ein Text lesen lassen. Richard Alewyn vertrat die These, dass sich die sinnliche Natur des Hanswurst im Sprachwitz seiner Nachfolger erhalten und „seine hintergründigste Gewalt“ bei Nestroy erreicht habe. Dessen virtuoser Umgang mit dem Wort weist ihn einerseits als Erben des Worttheaters des 18. Jahrhunderts aus, andererseits greift er bewusst auf die Mittel des von den Aufklärern bekämpften Hanswursttheaters zurück. So finden wir in seinen Stücken immer wieder die Rückführung von Redewendungen auf ihren physischen Ursprung. Wenn ein junger Mann von den Worten einer jungen Frau „ergriffen“ wird und daraufhin ihre Hand tatsächlich ergreift, erweist sich, wie prekär die Zähmung des Körpers durch die Sprache ist. Nestroy lässt aber die Sinnlichkeit auch ganz konkret als Körper auf die Bühne zurückkehren. Er wusste, dass beide, der Intellekt und der Körper, mit Mängeln behaftet und daher aufeinander angewiesen sind. Da die Figuren Nestroys widersprüchliche sprachliche und körperliche Signale aussenden, werden die Zuschauer dazu angehalten, sie zu deuten. Auf diese Weise kommt nicht nur dem Wort, sondern auch dem Körper, wie Erika Fischer-Lichte feststellt, „eine Erkenntnisfunktion“ zu.

Was Nestroy als Schauspieler betrifft, so fühlten sich manche prominente Zeitgenossen, beispielsweise Karl Gutzkow und Friedrich Theodor Vischer, von seiner Mimik und Gestik abgestoßen, weil sie ihrer Meinung nach zur „Verwilderung des Volkscharakters“ beitrugen und uns an die tierische Natur des Menschen erinnerten. Die Vertreibung des Hanswurst von der deutschen Bühne hatte in Wien offenbar nicht mit der notwendigen deutschen Gründlichkeit stattgefunden. Hatte es sich die Aufklärung zum Ziel gesetzt, den Menschen mittels der Vernunft von seiner tierischen Natur zu befreien, so richtete sich nun Nestroys Dramatik, ähnlich wie bereits die Pantomime des 18. Jahrhunderts, gegen den „Monopolzwang“ des Wortes (Harald Fricke) und versuchte, dem Leib seine Sprache zurückzugeben.

Wenn wir unter Text „eine Folge künstlicher Zeichen mit festgelegter Bedeutung“ (Erika Fischer-Lichte) verstehen und erwarten, dass der Körper des Schauspielers wie ein Text zu „lesen“ sei, bilden, streng genommen, nur solche körperliche Signale einen Text, die von der Konvention festgelegt sind und daher von allen verstanden werden (z. B. Hand aufs Herz Legen). Da jedoch einerseits solche Zeichen über lange Zeiträume hindurch zu quasi natürlichen werden und andererseits gute Schauspieler „natürliche“ Signale (z. B. Weinen, Erbleichen) wie künstliche Zeichen verwenden können, wird die Grenze zwischen Künstlichkeit und Natürlichkeit durchlässig.

Ein Schauspieler, der sich in seine Rolle hineinversetzt, bringt es zuwege, „natürliche“ körperliche Signale wie künstliche zu seinen Zwecken einzusetzen, also etwa wirkliche Tränen zu vergießen. Die von Nestroy erschaffenen Rollen machen die „Abständigkeit“ des Menschen zu sich selbst (Helmuth Plessner) sichtbar und verlangen daher vom Schauspieler keine Identifikation, sondern Distanz: Den Worte, Mienen, Gesten und Verkleidungen seiner dramatis personae usw. kommt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, mehr Zeige- als Ausdrucksfunktion zu, sie richten sich gleichzeitig an Gesprächspartner innerhalb des Dramas und an Zuschauer außerhalb des Dramas (an das Publikum).

Nestroys Dramatik stellt die Gegensätze von Innen und Außen, Geist und Körper, Verstand und Gefühl, Kunst und Natur, auf denen die rationalistische Weltanschauung beruhte, in Frage. Es ist vielleicht kein Zufall, dass zu Nestroys Lebzeiten der Möbiusring entdeckt wurde, dessen Innen- und Außenseite nicht zu unterschieden sind. Die Moderne der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entdeckte die Unsicherheit einer Welt, in der die Gegensätze (Innen und Außen, Ich und Welt, Schein und Sein, Traum und Wirklichkeit, Lüge und Wahrheit, Spiel und Realität) ineinanderflossen und das Ich seine Konturen verlor. Nestroy wusste bereits ein halbes Jahrhundert vorher, dass Wirklichkeit und Wahrheit nichts Feststehendes und von der Umwelt Isolierbares sind, und dass der Mensch sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln der Wortsprache und der Körpersprache in Szene setzen muss, um sich dem zu anzunähern, was er sein könnte.

 

Carola Hilmes
Carl Carls „bessere Hälfte“

Nicht nur Mädchen aus der Feenwelt und Mädls aus der Vorstadt spielen als Figuren im Wiener Volkstheater eine wichtige Rolle. Auch den realen Frauen – den Schauspielerinnen, Stückeschreiberinnen und Zuschauerinnen – kommen im Alt-Wiener Vorstadttheater entscheidende Aufgaben zu, die noch kaum erforscht sind. In meinem Referat möchte ich, den Einfluss von Margaretha Carl (1788–1861), der Ehegattin des Theaterdirektors Carl Carl, auf das Theater an der Wien vorstellen. Das betrifft die Programmgestaltung, die Geschäftsführung und die Aufführungspraxis. Zu diesen Themenbereichen liegen derzeit lediglich die „Briefe des Theaterdirektors Carl Carl und seiner Frau Margaretha Carl an Charlotte Birch-Pfeiffer“ (hrsg. von Birgit Pargner und W. Edgar Yates, Wien 2004) vor. Um die Bedeutung von Margaretha Carl umfassend zu würdigen, sind Studien im Theaterarchiv in Wien nötig.

 

Johann Hüttner
Wortspiele für Insider: Raimunds und Nestroys lokale Anspielungen und ihre Umsetzungsschwierigkeiten in modernen Inszenierungen

Lokale Anspielungen bei Ferdinand Raimund und Johann Nestroy auf Örtlichkeiten, Gewohnheiten, etc. werfen viele Fragen auf:

Dorothy Prohaska zeigte schon 1970 die Veränderungen der lokalen Anspielungen im Werk von Ferdinand Raimund auf. Läßt sich diese Beobachtung auf Nestroy übertragen?

Wie unterscheiden sich die Anspielungen von den sonstigen Wortspielen?

  • Läßt sich Chauvinismus einerseits und Subversion andererseits orten?
  • Welche Funktionen haben überhaupt solche Anspielungen?
  • Handelt es sich um verfremdende parodistische Techniken?
  • Sind sie Symptome für ein Theaterselbstverständnis im Umbruch?
  • Oder Possentechnik?

Soweit aufgrund der Handschriftenlage der Schaffensprozess nachvollziehbar ist, soll auch untersucht werden, wie solche Anspielungen entwickelt bzw. wieder zurückgenommen werden.

Die größte Schwierigkeit moderner Inszenierungen scheint mir die Vermittlung der Sprachebenen und –spannungen zu sein. Oft wird eine Wienerische Dialektfärbung bereits als adäquate Qualifikation empfunden. Wie ist es jedoch um den Umgang mit lokalen Anspielungen bestellt? Läßt er sich mit sprachlicher Nivellierung und Simplifizierung, einer Anpassung an ein vermeintlich verstehbares Vokabular vergleichen?

Im Kontext moderner Aneignung von Klassikern wäre auch an den Objekten Raimund und Nestroy zu fragen, wieweit an ihnen ähnliche oder unterschiedliche Strategien angewendet werden.

Soweit Film – bzw. Vidoematerial zugänglich ist, soll an unterschiedlichen Inszenierungskonzepten für Wien beispielhaft gezeigt werden, wie mit der Frage der lokalen Anspielungen umgegangen wird, bzw. ob und an welchen Stellen sich überhaupt noch „Lacher“ feststellen lassen. Einige der oben genannten Fragen sollen daher an Beispielen sowohl der Stücktexte wie auch der Inszenierungen behandelt werden.

Der Umgang mit Sprache und lokalen Anspielungen (topographische, Gewohnheiten etc.) kann vielleicht zu einer Diskussion führen, vielleicht auch auf den Unterschied zwischen zeitlos und geschichtslos hinweisen.

 

Ulrike Längle
„Tolle Weiber“

Um das 200-Jahr-Jubiläum des sogenannten „Krumbacher Weiberaufstandes“ von 1807 zu begehen, hat mir die Gemeinde Krumbach im vorderen Bregenzerwald vor einiger Zeit einen Auftrag für ein Theaterstück erteilt, das von der örtlichen Amateurtheatergruppe unter einem professionellen Regisseur (Augustin Jagg) aufgeführt werden sollte. Im Sommer 1807 – Vorarlberg gehörte seit 1806 zu Bayern, das die allgemeine Wehrpflicht eingeführt und außerdem zahlreiche religiöse Bräuche wie Prozessionen, Wetterläuten oder Wallfahrten verboten hatte – vertrieb eine Gruppe von Frauen und Mädchen unter der Führung der 51jährigen Bäuerin Christine Heidegger die bayerische Rekrutierungskommission aus dem Dorf, um Söhne, Brüder und Freunde vor dem Militärdienst zu bewahren. Zwei Tage später marschierten Hunderte von Frauen und Männern nach Bezau, um dort das Landgericht zu stürmen und die Bayern zu verjagen. Der Aufstand scheiterte, weil die anderen Dörfer nicht mitmachten. Die Bayern schickten 600 Soldaten samt zwei Kanonen zur Demütigung der rebellischen neuen Landeskinder in den Bregenzerwald, ca. 70 Leute wurden verhaftet und verhört. Schließlich endete die ganze Aktion unblutig: alle Beteiligten wurden begnadigt, mußten jedoch hohe Geldstrafen zahlen.

Aufgrund der Natur der historischen Vorlage – es ist kein Wilhelm-Tell-Stoff, keine Jeanne d’Arc-Geschichte und keine Lysistrata und es gibt (höchst undramatisch) keine Toten (wie bei Andreas Hofer zwei Jahre später) – entschloß ich mich, eine Tragikomödie zu schreiben, die im großen und ganzen den historischen Tatsachen folgt. Diese Tatsachen mußten jedoch erst durch intensive Archivarbeit erschlossen werden.

 

Marion Linhardt
Zur szenographischen Praxis in den europäischen Theaterzentren des frühen 19. Jahrhunderts
Die Wiener Vorstadttheater im Kontext

London, Paris und Wien präsentierten sich im 19. Jahrhundert als Theaterzentren, deren jeweilige strukturelle Eigenart nicht zuletzt aus dem Gegenüber von „ersten Häusern“ – in London den sogenannten Patent Theatres, in Paris den Théâtres principaux, in Wien den beiden Hoftheatern – und einer immer stärker ausdifferenzierten kommerziellen Theaterszene in den Vorstädten und an den Boulevards resultierte. Dies gilt zumal für die erste Hälfte des Jahrhunderts, in der die teils strikte Reglementierung im Bereich der Theaterkonzessionen eigentümliche Genres und szenographische Praktiken hervorbrachte.

Das Erscheinungsbild von Theaterereignissen – das, was sich dem Auge des Theaterbesuchers darbot – war also einerseits geprägt von gesetzlichen Vorgaben und ihren dramaturgischen und aufführungspraktischen Konsequenzen. Andererseits lassen sich im frühen 19. Jahrhundert technische und ästhetische Entwicklungen beobachten, die innovative Impulse für die szenische Umsetzung gaben: bühnentechnische und beleuchtungstechnische Neuerungen, neue optische Medien wie Panorama und Diorama mit ihrem Einfluß auf die Bühnenmalerei, Modifikationen des Raumrepertoires u.v.m.

Der Vortrag will ausgewählte Einzelaspekte dieser historischen Konstellation schlaglichtartig beleuchten und dabei der Frage nachgehen, inwieweit die Praxis an den Wiener Vorstadttheatern im Umfeld Nestroys und Raimunds mit derjenigen an den Londoner Minor Theatres und an den Pariser Théâtres secondaires bzw. den dortigen Spectacles de curiosité zu vergleichen ist.

 

Matthias Mansky
Ferdinand Raimunds Schockdramaturgie

Besonders die jüngere Raimund-Forschung ist dafür verantwortlich, dass das über Jahrzehnte hinweg geprägte Bild vom naiv-sentimentalen Biedermeierdichter allmählich seine Konturen verliert. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass das Nebeneinander von Komik und Tragik bzw. märchenhafter Geisterwelt und sozialen Lebensängsten auf eine viel komplexere Dramaturgie schließen lässt, als man sie bisher den Stücken Ferdinand Raimunds attestiert hat.

Jutta Landa hat in einer aufschlussreichen Analyse zum österreichischen Theater des 20. Jahrhunderts besonders der rezeptionsästhetischen Wirkung des Schocks einen hohen Stellenwert beigemessen. Der Schock als unerwarteter Angriff auf die Emotionalität, der sich einerseits gegen die Bühnenillusion wendet, sie andererseits allerdings für seine Wirkung voraussetzt, scheint auch in der Kontrastdramatik Raimunds bedeutend.

Robert Musil hat anlässlich einer Burgtheateraufführung von Der Alpenkönig und der Menschenfeind auf das dramatische Verfahren Raimunds, das antagonistische Bilder beinahe nahtlos zu verknüpfen und still und heimlich zu reharmonisieren weiß, hingewiesen.

Auch zahlreiche zeitgenössische Rezensionen stoßen sich an den abrupten Übergängen der Dramaturgie. Raimunds Zaubermärchen, die sich dem Publikum noch ganz im Gewand der Vorstadtkomödie präsentieren, drohen aus einer „dramaturgischen Üblichkeit“ (Klotz) auszubrechen. Besonders im komischen Personal und in possenüblichen Sequenzen werden reale Lebensängste, Unmenschlichkeit und Brutalität der Protagonisten demaskiert. Raimund befördert durch dramaturgische Brüche das Dekor seiner Märchenwelten immer wieder auf den Boden der Realität zurück. So erscheinen auch seine Dramenschlüsse meist unmotiviert und fragil.

Während Raimund die Brutalität und Bedrohlichkeit seiner Szenen durch Komik, Sentimentalität oder Märchenzauber erneut zu decouvrieren weiß, werden die abrupt auftretenden Schockeffekte im österreichischen Theater der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhundert zum wirkungsästhetischen Endziel.

Raimunds Dramaturgie erweist sich als weitaus fortschrittlicher, als man es seinen naiv anmutenden Märchendramen gemeiniglich zutraut. In seinen Stücken lässt sich ein vor-avantgardistisches Potential erkennen, das bereits auf modernere Theaterformen vorausdeutet.

 

Beatrix Müller-Kampel
Kasperl – Seine Entkanonisierung und Rekanonisierung im Puppentheater des 19. Jahrhunderts

Spätestens seit ihrer Prägung durch Johann Joseph La Roche schreibt sich der Kasperl als Figur des Personen- wie des Puppentheaters in die Geschichte des europäischen Kanons Lustiger Figuren ein – wie auch umgekehrt in jene der Ent- und Rekanonisierung einer bestimmten Form des theatralen Lachens. Die Wandlungen des Kasperls betreffen

  • die Geschichte der Lustigen Zentralfigur auf den Theatern Europas insbesondere vom 17. Jahrhundert bis in die jüngste Vergangenheit (Aussehen, fiktive topische Herkunft und Biographie, charakterliche Besonderheiten, Formen und Funktionen der Komik);
  • die Geschichte der theatralen Präsentationsformen dieser Lustigen Figuren (Personentheater, Marionettentheater, Handpuppentheater);
  • die Geschichte des intendierten und realen Publikums (Erwachsene versus Kinder);
  • schließlich die vielfältig ineinander verflochtene Geschichte der Kulturen und der damit verbundenen, jedoch kaum einmal ineinsfallenden ‚Nationen’ beziehungsweise Staaten, in denen die Lustigen Figuren erheitern sollten.

Die Geschichte des Puppen-Kasperls im 19. Jahrhundert dokumentiert die ebenso wechselvollen wie ungewöhnlichen Prozesse der Ent- und Rekanonisierung einer Figur, die stets nur dem Bereich des Popularkanons angehört hatte (im Gegensatz zu den ‚ästhetischen’ Expertenkanones der Hochliteratur). Zeitlich parallel zu ihrem beinahe gänzlichen Verschwinden aus dem praktizierten Erfolgskanon des Puppentheaters für Erwachsene erfuhr die Figur durch Franz Graf von Pocci im Kasperl Larifari, einem künstlich-künstlerischen Verschnitt aus diversen europäischen Vorbildern, ihre Rekanonisierung für Kinder – welche letztere wiederum abermals außerhalb der ‚künstlerischen’ Kanonisierung erfolgt: Als Angehörigem der großen Sippe europäischer Lustigmacher, die immer schon im Ruche des Vulgären standen, wie auch als Figur des Kindertheaters, das auch heute noch außerhalb des Blickfelds kanonbildender Instanzen steht, bleibt dem Kasperl der Zutritt zum Parnass des Kanons gleich doppelt verwehrt.

 

Walter Obermaier | Gunhild Oberzaucher-Schüller
Die (Feen-)welten der Therese Krones

„Ach Gott, Geben – nicht Nehmen – wäre meine Glückseligkeit.“ (Kolportierter Ausspruch von Therese Krones)

Begünstigt durch ihren frühen Tod – Raimunds „Jugend“ starb nicht einmal dreißigjährig 1830 –, hatten sich bereits im mittleren 19. Jahrhundert Therese-Krones-Legenden gefestigt, die schnell Teil eines „Alt-Wien-Bildes“ wurden. Analog zu den Veränderungen, denen dieses Bild in der Folge unterworfen war, und gemäß den Zuckerschichten, die man (besonders im Ständestaat und in der Zeit des Nationalsozialismus) über das Biedermeier breitete, baute man um die Krones Feenwelten, die nicht nur durch ihr „holdseliges Lächeln“ gekennzeichnet waren, sondern in denen gar, „wenn sie den Mund öffnete, die Seele der Wienerstadt“ selbst zu vernehmen war.

Gelingt es, den verklärenden Blick auf Therese Krones zu durchdringen, die „süßen Schichten“, die die Zeit über sie gelegt hatte, abzutragen, finden wird eine ebenso witzige, wie intelligente, sich oftmals selbst persiflierende Schauspielerin, die wahrscheinlich zu den wirklich Großen ihrer Zeit gehörte. Ebenbürtig neben den Legenden des Leopoldstädter Theaters stehend, gelang es der Krones nämlich, die Grenzen jenes Rollentypus zu überschreiten, die ihr die Theaterkonvention der Zeit auferlegt hatte. Eben dieser neue, der Krones-Typus war es, der wiederum die künstlerische Phantasie eines Dichters wie Raimund anregte.

 

Martin Stern
Sowohl als auch. Über Nestroys Affinität zur Tragikomik

Das Referat gibt einleitend einen Überblick über Theorien des Tragikomischen im Drama auf komparatistischer Basis. Es erinnert daran, wie populär die Gattung „tragicomédie“ in der europäischen Vorklassik war, während der Name allerdings ganz Anderes meinte als die bis heute beliebte Formel „Tragikomik“. Erst mit der Romantik setzte sich im ästhetischen Diskurs ein integrativer Begriff durch, der eine gegenseitige Durchdringung lachhafter und trauriger Elemente als moderne, besonders anspruchsvolle dichterische Aufgabe postulierte. – Ein Übergangsteil widmet sich – in Annäherung an Nestroy – den Thesen einschlägiger Forschungsbeiträge (Arntzen, Klotz u.a.), wonach die Tragödie ab ca. 1800 die Kompetenz zur Thematisierung gesellschaftsrelevanter Probleme verloren, beziehungsweise zunehmend an die „ernste Komödie“ abgetreten habe, wobei aber – wie auch die angelsächsische und französische Kritik hervorhebt – die Komödie „finster“ ( Beckett, Genet, Dürrenmatt) oder absurd (Ionesco, Adamov) geworden sei. – Der Dritte Teil zeigt an einem halben Dutzend Beispielen, wie Nestroy in Monologen und Couplets vom Früh- bis zum Spätwerk (und zwar oft bei Figuren, die er selbst verkörperte) unerbittlich das Paradox thematisierte, dass zwar gattungskonform als glückliches Possen-Ende die Heirat erstrebt wird, aber der Institution der bürgerlichen Ehe schlechte Prognosen gestellt werden, was einer latenten Tendenz zur Tragikomik bei Nestroy gleichkommt.

 

Till Gerrit Waidelich
Das Wiener Volkstheater aus dem Blickwinkel des Verschwender-Komponisten Conradin Kreutzer

Als Komponist von Raimunds Verschwender gehört Conradin Kreutzer zu den bekanntesten Komponisten des Wiener Volkstheaters. Während seiner Aufenthalte und Engagements in Wien von 1804–1810 sowie von 1822–1840 war er zwar primär an den Produktionen der Hoftheater interessiert und besuchte die Vorstadtbühnen vergleichsweise selten, aber in den Jahren an der Josephstadt 1834-1836 war er in ständigem Kontakt mit den Künstlern für dieses Genre.

Die daraus gewonnenen Eindrücke waren sowohl für seine Kompositionen als auch sonstige Dinge wichtig: Einflußnahme auf Szenisches und Empfehlungen von Künstlern an Kollegen und andere Häuser. Kreutzers sehr anschaulicher und unterhaltsamer Briefwechsel teilt zwar wenig neues zum Thema Volkstheater mit, doch oft aus ungewöhnlicher Perspektive.

 

W. Edgar Yates
„Ich kann meinem Dasein keinen Geschmack abgewinnen“: Blasius Rohr auf Reisen

Das Referat geht der Frage nach, warum Glück, Mißbrauch und Rückkehr zwanzig Jahre lang zwischen 1838 und etwa 1857 nicht nur in Wien, sondern auch in allen Teilen des deutschen Sprachraums – besonders bei Nestroys auswärtigen Gastspielen – zu seinen großen Erfolgen gehörte, später aber (auch zur Zeit der ‚Nestroy-Renaissance‘ nach dem Zweiten Weltkrieg) immer seltener aufgeführt worden ist.

URAUFFÜHRUNG, 10.3.1838, Theater an der Wien

1. Der Beyfall des außerordentlich zahlreich versammelten Publicums gab sich in einer Menge stürmischer Hervorrufungen kund. (Tuvora, Der Sammler, 17. März 1838)

2. Außer den vielen Vorzügen des Stückes und der Aufführung, welche in allen Theilen musterhaft zusammenging, erfreute das Publikum auch noch der Umstand, daß der Director, Hr. Carl, nach langer Zurückgezogenheit von der Bühne, zum ersten Male wieder als Darsteller, und zwar als vortrefflicher Darsteller, in einer halb ernsten halb heitern Vaterrolle erschien. Der Sturm von Beifall bei seinem Erscheinen war donnernd und höchst auszeichnend; sein Spiel musterhaft. Während des Stückes zwei Mal und am Schlusse noch drei Mal gerufen, wollte der Beifall auch nach der Anrede des Hrn. Carls nicht enden, die ungefähr die Worte enthielt, daß er nicht nur als Director, sondern von nun an, auch als Darsteller wieder seine Kräfte dieser Anstalt widmen, und nichts versäumen werde, den Flor seines Instituts zu erzwecken. (Theaterzeitung, 12. März 1838)

3. Eine vortreffliche Figur ist der Bediente Rochus, im welchem Hr. Nestroy eine ächt komische, gemüthliche, wir möchten sagen, nationelle Natur personificirte, wie sie dem didactischen Zwecke alles Bühnen- und Kunstwesens am besten zusagen, der aber auch fast die einzige, durchgeführte Charakterzeichnung gewährt; Blasius selbst ist sehr ungleich, inconsequent und haltlos, alle übrigen Gestalten unbedeutend oder gar verletzend […] (Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode, 17. März 1838)

4. Der Bruder Liederlich, der die Hauptperson spielt, ist ganz parodirt, er zeigt auch keine Spur einer moralischen Tendenz wie z.B. die Raimund’schen Figuren. (Der Adler, 19. März 1838)

GASTSPIELE

5. Hr. Nestroy ist zwar von seiner Krankheit hergestellt, doch gestatten seine Kräfte noch nicht die beabsichtigte Kunstreise nach Prag anzutreten. Er wird also die Freiheit während des Theaterschlusses zu seiner gänzlichen Erkräftigung benützen. (Theaterzeitung, 2. August 1838)

6. Hier darf keine gewaltige Zergliederung und ästhetische Secierung stattfinden. Hat man sich in solcher Posse recht satt gelacht, so ist das übliche Publicum, für welches sie geschrieben, wohl zufrieden, und bei uns Nordländern lacht man ja wohl auch gern einmal herzlich. (P.N., Hamburger Nachrichten, 5. Juli 1841)

7. Das melancholische Lächeln, wodurch Blasius die wiederholte Aufforderung, zu arbeiten, mit der Erklärung zurückweist, er sey viel zu unglücklich, um arbeiten zu können, erschien uns als eine bittere Satyre auf die Genußsucht und Arbeitsscheu verarmter Personen höherer und niederer Stände. (Anton Müller, Bohemia, 9. Juni 1840)

8. (Nestroy in Hamburg.) Hr. Nestroy ist in „Glück, Mißbrauch und Rückkehr“ am 4. Juli mit außerordentlichem Beifall auf dem Stadttheater in Hamburg als Gast aufgetreten. Das Haus war im Sinne des Wortes überfüllt, und der Applaus wirklich enthusiastisch. Er legte ein neues Couplet ein, das so allgemeinen ansprach, daß er mitten im Vortrage durch Bravorufen ausgezeichnet wurde, und mehr als sechs einzelne Motive wiederholen mußte. Man erinnert sich in Hamburg kaum an einen lärmenderen Beifall, als ihn Hr. Nestroy erhielt. (Theaterzeitung, 13. Juli 1831)

9. Was Hr. Nestroy mit seinem Blasius Rohr uns bietet, ist ein ganzer auf- und absteigender Lebenslauf, mit brennenden, enkaustischen Farben entworfen, sehr entschieden in der Anlage, keck in den Uibergängen und doch von siegreicher Wahrheit. (Bernhard Gutt, Bohemia, 16. Juli 1844)

PARIS

10. Man sagt jetzt, daß der Brand durch den großen, mit Gas beleuchteten Lustre entstanden sey, indem dieser beim Hinaufziehen nach der Vorstellung nicht gehörig ausgelöscht wurde. […] Mehr als 200 Familien sind brotlos geworden. (Theaterzeitung, 28. Juli 1838)