Nestroy-Gespräche 2005: Bericht

„Mit Gwalt muß der Mensch Melancholisch da werdn“
Raimund und Nestroy im kulturellen Gedächtnis

 

 

 

Die 31. Internationalen Nestroy-Gespräche widmeten sich dem Thema „Raimund und Nestroy im kulturellen Gedächtnis“. Von den Thesen Aleida und Jan Assmanns ausgehend [1], wurde u. a. gefragt: Ist das Theater ein lebendiges „Archiv“, ein Ort des inszenierten Gedächtnisses, der Wissensbewahrung und der Erinnerung? Wie kann das Performative bewahrt werden, gibt es ein theatrales Gedächtnis? Wie können Traditionsstrom und Traditionsbruch, Kanonisierung und Auslegungs- bzw. Inszenierungskultur begriffen werden? Wie haben die „negativen Formen eines Vergessens durch Auslagerung und eines Verdrängens durch Manipulation, Zensur, Vernichtung, Umschreibung und Ersetzung“ (Assmann) die Rezeption Raimunds und Nestroys beeinflusst und beeinflussen sie weiter?

Über welches kulturelle Gedächtnis verfügten Raimund und Nestroy und welches strukturierten und ‚bedienten‘ sie? Welche Formen von „Erinnern“ – auch an die Tradition – haben sie gewählt und weitergegeben?

Einen Schwerpunkt bildete Entstehung und Rezeption von Nestroys Der confuse Zauberer (1832). Sigurd P. Scheichl (Innsbruck, A) betonte die besondere, auf Publikumserwartungen gerichtete und mit Stilbrüchen arbeitende Sprachkomik mit „absurder Verletzung von Gesprächsregeln“. [2] Diskutiert wurde, ob sich die Zauberposse als ‚Sprachkomödie’ konstituiere und auf Horváths „Sprachmaske“ vorausweise. Fred Walla (Newcastle, AUS) wies ergänzend auf den Entstehungskontext hin – z. B. Nähe zu Der Tod am Hochzeitstag –, stellte aber angesichts der Überlieferung infrage, ob das Stück überhaupt ein ‚echter‘ Nestroy sei. In der Diskussion wurde darauf hingewiesen, dass die Autorisation des Spieltextes für die Aufführung eine Rolle spiele. In diesem Kontext ist auch das Plädoyer von Urs Helmensdorfer (Zuoz, CH) für ein „Autorrecht des ausübenden Künstlers“ zu beachten.

Peter Gruber (Wien), der Regisseur der Schwechater Der confuse Zauber-Inszenierung 2005, griff für seine Fassung auch auf das Fragment Treue und Flatterhaftigkeit zurück. [3] Die Inszenierung will hinter der „Kasperl-Oberfläche“ und der Privatgeschichte um eheliche Treue tiefenpsychologische Aspekte und politische Anspielungen mit Kritik an der (heutigen) Spaßgesellschaft mit vergleichbarer Doppelmoral sichtbar machen. [4]

W. Edgar Yates (Exeter, GB) nahm das Jahr 1832 mit Nestroys Eintritt in das Ensemble des Theaters an der Wien und unter Theaterdirektor Karl Carl als Fallbeispiel für eine noch zu schreibende Biographie. Klagen über den Verfall der Volksbühnen begleiten seinen ‚Aufstieg‘ in Wien; 1832 ist ein erfolgreiches Jahr für Nestroy, die Hälfte des Spielplans bestand aus seinen Stücken, und er legte Grundstein für den seine Karriere begleitenden Erfolg von Der böse Geist Lumpacivagabundus (1833).

Johann Hüttner (Wien, A) charakterisierte die Wanderjahre Raimunds und Nestroys auf den Provinztheatern unter deren spezifischen Produktionsbedingungen; beide hätten sich nur entfalten und ihr Rollenfach durchbrechen können, indem sie Autoren wurden.

Horst Jarka (Missoula, USA) gab einen Überblick über das Papier- und Puppentheater und seine Bedeutung für die Rezeption Raimunds und Nestroys. Er beschrieb nicht nur Beispiele aus dem 19. Jahrhundert, [5] sondern verfolgte Linien bis in die 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Neben reiner Unterhaltung als Zimmer- oder Tischtheater war der Bildungsaspekt des Papiertheaters nicht zu unterschätzen. Von Raimunds Stücken sind Papiertheaterfassungen vom Alpenkönig und vom Verschwender, von Nestroy nur Lumpazivagabundus erhalten. Raimund auf der Puppenbühne wurde in der Nazizeit gespielt, in der das Puppentheater gefördert wurde. Der zum Reichtum verführte Bauer, der reumütig zur Scholle zurückkehrt, paßte ins politische Programm. In der DDR spielten die berühmten Hohnsteiner Puppenspieler den Bauer als Millionär. Der Barometermacher auf der Zauberinsel folgte, wobei der beliebte Hohnsteiner Kasper den Quecksilber spielte. Jarka berichtete auch über seine Experimente, den Alpenkönig und den Zerrissenen mit amerikanischen Deutschstudenten mit Handpuppen aufzuführen.

Elke Brüns (Berlin, D) untersuchte Die beiden Nachtwandler (1836) auf ökonomisches Wissen der Zeit und wie sich dieses thematisch im literarischen Feld konstituiert. [6] Die Posse markiere den Wandel von alten zu neuen ökonomischen Lehren, die das Verhältnis von Geld, Arbeit und Leben anders definieren. Mit einem Blick auf Raimunds Der Verschwender (1834) zeige sich, wie die Zufriedenheitsästhetik in die Wissensstruktur der Zeit eingebettet sei.

Martin Stern (Basel, CH) brachte neue Erkenntnisse zum Raimund- und Nestroy-Bild Hugo von Hofmannsthals, der Nestroy geachtet, aber nicht „geliebt“ habe. In Raimunds „Volkstümlichkeit“ fand er „Heilendes in verwirrter Zeit“ und auch Rechtfertigung für sein eigenes Werk zwischen Tradition und „Moderne“. Für die völkische Umdeutung bei Josef Nadler, Heinz Kindermann und Herbert Cysarz sei er nicht verantwortlich zu machen.

Arnold Klaffenböck (Strobl, A) skizzierte Raimund und das „Alt-Wiener Antlitz“ in Künstler- und Liebesromanen. [7] Hinter dem sentimentalen Kult der wiederentdeckten Biedermeierkultur sei Identitätssuche spürbar, die im metaphysischen, unzerstörbaren Wien einen nicht bedrohten Ort findet, an dem sich Stadtlandschaft und Natur durchdringen. Mit den Augen Schuberts, Beethovens und Raimunds lerne der Leser dieses Wien kennen und lieben. Raimund erlebe ‚seine‘ Stadt als Maske: die leidende Stadt spiegele seine Befindlichkeit wider.

Marc Lacheny (Paris, F) betrachtete Grillparzer, Raimund und Nestroy im Urteil von Karl Kraus; dieser habe seine Bewunderung für Raimund nicht entfaltet, die Ablehnung des Epigrammatikers Grillparzer ästhetisch nicht rechtfertigt, Nestroys Vorrangstellung ist bekannt. [8]

Klaus Kastberger (Wien, A) entdeckte im Blick auf den Nachlaß Horváths ein bislang wenig bekanntes Kapitel, seine Zulieferungsarbeit für die Filmindustrie des Nationalsozialismus (u.a. die Mitwirkung am Drehbuch für Einen Jux will er sich machen). Der Vergleich zwischen Nestroys und Horváths Figurenrede, besonders phraseologische Parallelen, brachte neue Erkenntnisse. Während Nestroy gleichsam in mehreren Anläufen Sprachwitz erzeuge, erschöpfe sich bei Horváth die Phrase bei ihrem ersten Aufscheinen in sich selbst. Bei ihm funktionierten die Diskurse unabhängig von den Sprechenden. [9]

Johann Sonnleitner (Wien, A) verfolgte Spuren Raimunds und seiner Rezeption in den 30er bis 50er Jahren des 20. Jahrhunderts in Elfriede Jelineks Posse Burgtheater (ED 1982; UA 1985). [10] Bernhard Doppler (Berlin/Paderborn, D) entdeckte Raimund-Zitate als „Subtexte“ in Peter Handkes Theater als intertextuelles Spiel mit ‚Resten’ des Volkstheaters, aber auch eine Fortsetzung der „Rappelkopf“-Thematik in einer „Poetik der Wut“.

Rudi Schweikert (Mannheim, D) stellte Arno Schmidt als Leser Raimunds und Nestroys vor, der mit seiner literarischen Transformierungsarbeit auch einen Beitrag zum kulturellen Gedächtnis leistete. Franz Schüppen (Herne, D) betrachtete Raimund und Nestroy in Friedrich Sengles Epochendarstellung und zeigte das widersprüchliche „kulturelle Gedächtnis der Germanistik“ auf. [11]

Im Podiumsgespräch diskutierten Elisabeth Schabus-Kant, Heiner Boberski, Peter Gruber, Hans Höller und Walter Obermaier, moderiert von Daniela Strigl, das Rahmenthema aus den unterschiedlichen Perspektiven von Schule, Universität, Archiv, Theater und Theaterkritik. Mit Egon Friedell könne man konstatieren, dass Nestroy, die „Memoiren“ einer Epoche geschrieben habe, [12] was im kulturellen Gedächtnis der „Nachwelt“ in den einzelnen Institutionen durchaus aktiv rezipiert worden sei, allerdings habe die NS-Zeit einen Kulturbruch herbeigeführt, der schließlich auch für die Verharmlosung nach 1945 und Klischeebildungen mitverantwortlich ist. Angesprochen wurden Inszenierungstraditionen (“Nestroypflege“; „Raimundstil“), die es zu durchbrechen gelte, ferner neue Kulturdiskurse, ein revidierter Volksbegriff und das Interesse für Phantastik und Sprachbewusstsein, das mit Raimund und Nestroy verbindet. Das Theater könne seine Rolle als „Erinnerungsanstalt“ nur spielen, wenn Konsens zwischen Kultur, Kanon und Kommunikation besteht, wobei auch unterdrückte oder vergessene Spieltraditionen die ‚Lücken‘ zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis schließen helfen.

Sprachwitz und Sprachspiel ‚im Geiste Nestroys‘ bot Alois Brandstetter (Klagenfurt, A) mit einer Lesung eigener Texte. – Mit Walter Obermaier (Wien, A) wurde der Wiener Zentralfriedhof zum Erinnerungsort; ein literarischer Spaziergang führte von den Vorgängern und Zeitgenossen Raimunds und Nestroys bis zu Karl Kraus und Arthur Schnitzler sowie bedeutenden Raimund- und Nestroy-Interpreten des 19. und 20. Jahrhunderts. [13]

Für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Gesprächen gab es keinen Grund, dem Motto aus Der confuse Zauberer zu folgen: „Mit Gwalt muß der Mensch / Melancholisch da werdn“.

 

 

1 Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 2002.
2 Sigurd Paul Scheichl, Schmafu und Schmamock, Sprachkomik und Figurendarstellung im Confusen Zauberer, Nestroyana 26 (2006), S. 25–35.
3 Zum Zusammenhang  und zur editorischen Entscheidung vgl. Johann Nestroy, Stücke 3, hg. von Sigurd Paul Scheichl, Wien 2004, bes. S. 83–85, 123–125 u. 374–376.
4 Peter Grubers, Der confuse Zauberer – ein konfuses Stück? Nestroyana 26 (2006), S. 115–124.
5 Horst Jarka, Nestroyana 27 (2007); vgl. allgemein Georg Garde, Theatergeschichte im Spiegel der Kindertheater, Copenhagen 1971, S. 232–235; Kurt Pflüger / Helmut Herbst: Schreibers Kindertheater, Eine Monographie, Pinneberg 1986, S. 94, 102 und 112; Raimund im Papiertheater; Ferdinand Raimund und das Wiener Theater seiner Zeit im Spiegel des Papiertheaters. Katalog des Österreichischen Museums für Volkskunde, Wien 1986.
6 Elke Brüns, Die beiden Nachtwandler oder das Notwendige und das Überflüssige: Mangelwirtschaft und Begehren des ökonomischen Menschen, Nestroyana 26 (2006), S. 36–47.
7 Arnold Klaffenböck, Ferdinand Raimund und das „Alt-Wiener Antlitz“. Bilder urbaner Identität in der Unterhaltungsliteratur zwischen 1900 und 1945, Nestroyana 26 (2006), S. 148–164; vgl. auch Arnold Klaffenböck, Sehnsucht nach Alt-Wien, Texte zur Stadt, die niemals war, Wien 2005.
8 Marc Lacheny, Das „Dreigestirn“ Grillparzer – Nestroy – Raimund im Urteil von Karl Kraus, Nestroyana 26 (2006), S. 77–91.
9 Klaus Kastberger, 200 Jahre Bosheit. Nestroy und Horváth – ein forcierter Vergleich, Nestroyana 26 (2006), S. 62–76.
10 Johann Sonnleitner, „Raimund schau oba“, Zu Elfriede Jelineks Burgtheater, in: „besser schön lokal reden als schlecht hochdeutsch“, Ferdinand Raimund in neuer Sicht, hg. von Hubert Christian Ehalt und Jürgen Hein, Wien 2006, S. 95–108.
11 Vgl. Sengle, Friedrich, Biedermeierzeit, Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. 3 Bde, Stuttgart 1971/72 und 1980; Raimund Bd. 3, S. 1–56; Nestroy, Bd. 3, S. 191–264.
12 Friedell: „Seine Werke sind eine Art Memoirenliteratur, im Grunde die einzige, die es gibt“; Das ist klassisch (1922), zit. nach: Johann Nestroy, Lektüre für Minuten, Gedanken aus seinen Büchern, hg. und mit einer Vorrede von Egon Friedell, Frankfurt/M. 2001, S. 14.
13 Walter Obermaier, „Grab ein appartes, ja nicht unter Creti und pleti in ein Dutzendgrab hinein“. Ein literarischer Spaziergang auf dem Wiener Zentralfriedhof rund um Johann Nepomuk Nestroy, Nestroyana 26 (2006), S. 7–24.