Nestroy-Gespräche 2004: Referate (Exposés)

Zwei vor und Eins zurück?

 

 

 

Jürgen Hein (Münster/W., D):
Rückblick (30 Jahre Nestroy-Gespräche) und Einführung

War Nestroy ein Aphoristiker? Wie ist sein Witz im Blick auf sprachliche Handlungsspiele und Publikumserwartungen neu zu deuten? Welche Originalität entfaltet er auf der Grundlage seiner literarischen Quellen? Welches Kunstverständnis artikuliert sich in seinen Possen?

Um diese und andere Fragen wird es gehen. Auch der theater-, literatur- und kulturgeschichtliche Kontext sowie Interpretationen zu Der Zerrissene (1844) und zu der zu Lebzeiten Nestroys nicht aufgeführten Posse „Nur keck!“ (1855) stehen ebenso im Mittelpunkt des Interesses wie Fragen der Publikumslenkung, Aspekte des Volkstheaters vor und nach Nestroy – insbesondere bei Ferdinand Raimund – und im Blick auf den Wandel der (komischen) Volksfigur.

Wie in den vergangenen Jahren wird auch den ‚Fortsetzungen’ der Posse in Operette, Hörspiel, Film und im politischen Lied bis hin zu Übersetzungen (Der böse Geist Lumpacivagabundus [1833] ins Niederländische) und Bearbeitungen (Helmut Qualtingers Fassung von Das Haus der Temperamente [1837]) Aufmerksamkeit geschenkt.

Im dreißigsten Jahr „Internationale Nestroy-Gespräche“ ist ein vorläufiges Resümee fällig. Heißt es wirklich, wie das Motto nahe legt: „Zwei vor und Eins zurück“? Gilt hier die Feststellung Gottlieb Herbs aus Der Schützling (1847), dass der Fortschritt „viel größer ausschaut, als er wirklich ist“ (HKA Stücke 24/II, S. 91)?

Wo stehen wir heute? Antworten werden die heurigen Referate und die Diskussion am Ende der Tagung geben, die unter der Perspektive steht: „Nestroy im 21. Jahrhundert: Theater versus Wissenschaft?“
Dazu sei ein kurzer Rückblick mit einigen Überlegungen zur Diskussion gestattet.

 

Stefan Kaszyński (Poznań, PL):
War Nestroy ein Aphoristiker?

Der Beitrag soll ein Versuch sein, Nestroys aphorismusartig zugespitzte Formulierungen  und poetologisch  in sich geschlossene Textfragmente vom  Standpunkt der Aphorismusforschung zu betrachten. Dieser Gesichtspunkt steht zwar nicht im Widerspruch zu der traditionsreichen Nestroyphilologie, er erstellt aber sicherlich einen neuen literarhistorischen und gattungstheoretischen Kontext, in dem Nestroys aphoristische Aussagen in anderen stilistischen und ästhetischen Kategorien als seine Possen und Theaterstücke interpretiert werden können. Nicht der literarische Stoff, die dramatische Konstruktion oder die Bühnenfähigkeit der leichten Komödien Nestroys bilden den Vordergrund dieser Überlegung, sondern der poetologische Status der in die dramatische Handlung eingebauten paradoxen, absichtlich absurd ausformulierten Textfragmente, bei denen man die Art des aphoristischen Denkens (Paul Requadt) attestieren und nachweisen kann. Nestroys eigenartige Arbeitsmethode erlaubt es, seine aphoristischen Aussagen nicht nur als gedankliche Leitbilder größerer Zusammenhänge zu sehen, man kann sie  auch als eigenständige Bewusstseinsstrukturen außerhalb ihres Kontexts weltanschaulich und poetologisch zu interpretieren. Ausschlaggebend für eine derartige Betrachtungsweise des aphoristischen Nachlasses von Nestroy sind: zum einen der sich aus der Arbeitsweise ergebende konstitutive Status der Aphorismen, und zum anderen die rezeptionsästhetische Verwertung der Aphorismen, bei der der Status nicht ausschließlich von der Autorenintention, sondern auch gleichermaßen vom medialen Ort der Vervielfältigung abhängt. Eine Fragestellung nach der strukturellen und gedanklichen Autonomie der Aphorismen von Nestroy kann literarhistorisch von der Nestroyphilologie als weiterführend akzeptiert werden, im Sinne der Aphorismusforschung bildet sie aber eine methodologische Herausforderung, mit gattungstheoretischen und weltanschaulichen Konsequenzen. Nestroys Aphoristik ist ein Beispiel, wo der Forschungsstandpunkt, und nicht das theoretische Selbstbewusstsein des Autors, gattungsbestimmend wirken. Immerhin ist Nestroy kein Einzelfall in der Geschichte des österreichischen Aphorismus, dessen recht umfangreiches Aphorismuswerk methodologische Debatten und grundlegende theoretische Meinungsverschiedenheiten der Literarhistoriker auslöste, vor ihm waren es Franz Grillparzer, nach ihm Franz Kafka, Robert Musil und Heimito von Doderer. Er steht damit in guter Gesellschaft und das ist ganz und gar im Sinne der modernen Aphorismusgeschichte. Nestroys später Befürworter, der versierte Aphoristiker Karl Kraus, hätte mit der gattungsgemäßen Einordnung der sonderbaren Kurztexte Nestroys sicherlich keine theoretischen Probleme. Nestroy hat zweifelsohne kunstvolle Aphorismen geschrieben, ob er ein Aphoristiker war, hört sich nach wie vor wie ein Streit um des Kaisers Bart an. Der Aphoristiker lebt schließlich von programmierten Widersprüchen. Die Tatsache, dass man ihn nicht eindeutig qualifizieren kann, gehört zu den erkennbaren Merkmalen der Zunft.

 

Edgar Yates (Exeter, GB):
Nestroy im Jahr 1854/55: Zur Entstehung und Nichtaufführung von „Nur keck!“

Das Referat geht der Frage nach, inwieweit die bekanntlich lückenhafte Doku­mentation der Bio­graphie Nestroys dazu beitragen kann, zum ersten die Entstehungs­geschichte von „Nur keck!“ und zum anderen Nestroys Entscheidung, das fast vollständige Stück 1855 schließlich nicht aufführen zu lassen, zu klären.

Zeittafel: 1854:

1. Februar: Uraufführung der Posse Theaterg’schichten. 14. Juni – 27. Juli: Gastspiele in Graz (14.–25. Juni), Linz (28. Juni – 5. Juli), Berlin (8.–20. Juli) und Brünn (22.–27. Juli). 14. August: Carl Carl stirbt in Bad Ischl.

31. August, 1. September: „Das Testament des Theaterdirectors Carl“ in der Theaterzeitung veröffentlicht: [Ich] verordne […] ausdrücklich, daß das Theater Directions-Geschäft bei diesem Theater weder von meinen Erben in ihrer Gesammtheit noch von einem Einzelnen meiner Erben, sei es als Eigenthümer oder Pachter, oder in was immer für einen Namen habenden Eigenschaft, weder öffentlich noch stillschweigend, weder allein noch in Compagnie mit einer fremden nicht zu meinen Erben gehörigen Person, selbst geleitet und betrieben werden darf. Diejenigen meiner Erben, welche gegen dieses mein ausdrückliches Verbot handeln, sollen der ihnen nach diesem meinem Testament zufallenden Erbtheile für immer verlustig sein […]. 6. Oktober: Brief an Robert Stolz, Kapellmeister des Theaters in Pest (Briefe 1977, Nr. 68). 9. Oktober: Nestroy pachtet das Carltheater für zehn Jahre. 10. Oktober: Brief an Scholz (Briefe 1977, Nr. 69); Vertrag (9.Oktober) in der Anlage. 16. Oktober: Nestroy bestätigt in einem Brief an Stainhauser, „daß ich mich herzlich freue, nicht nur den thätigen umsichtigen Geschäftsmann, sondern auch den lang-jährigen Freund für mein neues Unternehmen gewonnen zu haben“ (Briefe 1977, Nr. 70). 28. Oktober: Nestroy erhält die Konzession. 1. November: Nestroys Direktion des Carltheaters öffnet mit einer Aufführung von Das Mädl aus der Vorstadt: Das bis zum Erdrücken volle Haus hatte sich sozusagen eingefunden, um Herrn Nestroy zu installiren, ihm die Fortdauer seiner Gunst zuzusichern und zugleich Glück zu wünschen. Der stürmische Empfang, der ihm bei seinem Erscheinen entgegenscholl, pflanzte sich bis ans Ende der Vorstellung fort. Der Prolog von M. G. Saphir trug Herr Nestroy drastisch vor und er wurde vom Publicum freundlich aufgenommen. Die Vorstellung selbst: „Das Mädel aus der Vorstadt“, sicherlich eines der wirksamsten, witzhältigsten und lebendigsten seiner Stücke, erhielt das Publikum in ununterbrochen froher und heiterer Stimmung und alle Darstellenden, Nestroy à la tête, wurden durch Beifall ausgezeichnet. [Der Humorist, 3. November 1854].

1855:

19. Februar: Brief an Moriz Märzroth: „Nachdem Ihre Ansichten über die Vorstadtbühnen mit den meinigen in keiner Beziehung übereinstimmend sein können, sehe ich mich veranlaßt, auf jegliches, Ihrer Feder entflossenes Stück für meine Bühne zu verzichten“ (Briefe 1977, Nr. 79). 12. März: Brief an Karoline Köfer, mit den Buchstaben „L. B. v. R.“ unterzeichnet (Briefe 1977, Nr. 80). 15. März: Beginn der Friedensverhandlungen zur Beendigung des Krimkrieges in Wien. 20. April: In Bäuerles Theaterzeitung erscheint die Nachricht, Nestroy habe „die Aufführung des von ihm geschriebenen neuen Stückes“ hinausgeschoben. 11. Mai: Brief an Adolf Müller: „Mit dem größten Bedauern beeile ich mich Ihnen anzuzeigen, daß Ihre mir gestern schriftlich mitgetheilten Propositionen mit meinen Verhältnissen nicht vereinbar sind“ (Briefe 1977, Nr. 82). Ab 8. Juli: Nestroy erstmals in Ischl; 12. Juli: Brief an Grois: „[…] in den Bergen habe ich schon sehr hoch verstigen, die Dachsteingruppe hat eine zu große Anziehung für mich“ (Briefe 1977, Nr. 83). 16., 18. Juli: Nestroy tritt als Schnoferl (Das Mädl aus der Vorstadt) und Titus Feuerfuchs (Der Talisman) in zwei Wohltätigkeitsvorstellungen in Ischl auf. 7. November: „Herr Nestroy hat sein neuestes Stück beendet, es heißt: ‚Nur keck!‘“ (Theaterzeitung). 22. November: Ansuchen Nestroys um „allergnädigste Fortsetzung des Abonnements für die k. k. Hofloge im Carl Theater“ (Faksimile: Nestroyana 21 [2001], S. 129 f.).

 

Ulrike Tanzer (Salzburg, A):
Kunst und Künstlerfiguren in Nestroys Werk

Das 19. Jahrhundert ist nicht nur die Blütezeit des Virtuosentums, sondern auch die Zeit, die sich zunehmend kritisch mit dem Virtuosen als artistische Ausnahmeerscheinung auseinandersetzt. Der Vortrag stellt (zeitgenössische) Beschreibungen Nestroys, an einem exemplarischen Beispiel (Friedrich Schlögl) festgemacht, in den Kontext der Virtuositätsdebatte und zeigt dann an zwei Stücken der Jahre 1834 und 1835, Müller, Kohlenbrenner und Sesseltrager sowie Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab, wie Nestroy selbst das Thema Kunst und Künstlerfiguren auf der Vorstadtbühne behandelt.

Die Problematik schaffender versus ausführender Künstler ist hierbei von zentraler Bedeutung und findet sich nicht nur in den Kritiken über Nestroy, sondern auch in Nestroys Stücken selbst, vor allem in Nestroys Posse Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab. Was das Virtuosentum im speziellen betrifft, so ist die Bandbreite der Auseinandersetzung denkbar groß und reicht von bloßen Anspielungen (etwa auf den berühmten Violinvirtuosen Niccoló Paganini) bis zum parodistisch-kritischen Umgang mit der Virtuositätsthematik.

 

Burkhard Meyer-Sickendiek (München, D.):
Politeness: Pragmalinguistische Überlegungen zum Sprachwitz Nestroys

In der Geschichte der Satire unterscheidet man seit der Renaissance eine heitere und eine strafende Form, klassisches Vorbild dieser Differenzierung sind die römischen Autoren Horaz und Juvenal. Auch auf moderne satirische Literaturen ließe sich diese Differenz übertragen: etwa auf die whiggistische Satire um Shaftesbury als einer heiteren einerseits; die toryistische Satire um Swift als einer strafenden andererseits; oder aber auf die österreichische Satire, an deren Beginn mit dem heiteren Johann Nestroy und dem strafenden Karl Kraus ein ähnliches Oppositionspaar steht. Mein Vortrag unternimmt den Versuch, diese Unterscheidung von heiterer und strafender Satire anhand eines Begriffes zu diskutieren, der sowohl in der Theoriegeschichte der Satire wie auch in der pragmalinguistischen Theorie der Ironie eine wichtige Rolle spielt: den Begriff der Höflichkeit bzw. der politeness.

Meine Überlegungen zu Nestroy setzen dabei zweierlei voraus: Zum einen die whiggistische Satiretheorie um Anthony Ashley Cooper, den späteren Earl of Shaftesbury, sowie Autoren wie Richard Steele oder Joseph Addison, die in den whiggistischen moralischen Wochenblättern The Tatler und The Spectateur ein am Paradigma des polite writing orientiertes Satirekonzept forderten. Bei diesem verbindet sich die These Shaftesburys, dass sittliche Einsicht ihren Ursprung in einem moralischen Sinn (moral sense) des Menschen habe, mit der Maxime, die Satire nur noch dazu zu gebrauchen, ohne Haß oder Rache gesellschaftliche Übel und Laster aufzudecken, um die Gesellschaft zu läutern und zu heilen; nicht aber die Personen anzugreifen, die sie verüben. Diese Kategorie der politeness besitzt interessanterweise auch in der pragmalinguistischen Forschung zu Ironie und Sarkasmus einen wichtigen Stellenwert. Er lässt sich anhand der Ironie-Theorie der Linguisten Penelope Brown, Stephen Levinson und Julia Jorgensen fassen, die im Anschluß an Arbeiten Erving Goffmanns ironische Sprechweisen als Formen höflicher Rede deuten. Auch dabei steht die Verhinderung des Gesichts- bzw. Imageverlustes realer bzw. historischer Personen im Vordergrund: durch „indirekte“ Formulierungen, also Ausdrucksformen, in denen der auffordernde Charakter einer Äußerung nur angedeutet und nicht explizit wird, wird die „gesichtsbedrohende“ Kraft einer Äußerung abgeschwächt.

Unter Bezugnahme dieser Kategorie der Höflichkeit versucht mein Vortrag, Nestroys Sprachwitz in eine Tradition „höflicher“ Satire einzureihen, wie diese von Shaftesburys formuliert worden ist. Dabei steht insbesondere das Revolutionsstück „Freiheit in Krähwinkel“ im Mittelpunkt meines Interesses. Ziel meines Vortrags ist es, anhand einer genauen Textlektüre diese Feinheit der Nestroyschen Ironie aufzuzeigen. Sie geht, dies ist die These, in der an Nestroy anschließenden Satire Karl Kraus’ eindeutig verloren. Das Bild Nestroys als eines scharfzüngigen modernen Satirikers, welches sich in der Nestroy-Forschung seit dem einschlägigen Aufsatz Karl Kraus’ Nestroy und die Nachwelt – insbesondere durch die wichtige Arbeit Franz Mautners etabliert hat, lässt sich vor dem Hintergrund dieses „politeness“ -Konzeptes wohl nur mehr mit Einschränkung halten.

 

Rudolf Drux (Köln, D):
Der Zerrissene: J.N. Nestroys Zeichnung einer paradigmatischen Gestalt der Restaurationszeit in ihrem dramengeschichtlichen Kontext

Als eine der markanten „Signaturen“ (H. Heine) der Restaurationszeit kann die ,Zerrissenheit‘ gelten, die sogar „als metaphysisches Phänomen“ (F. Sengle) begriffen wurde, sei sie doch der psychische Ausdruck jenes tiefen Risses, der die Welt durchziehe, seit ihre universellen Ordnungssysteme ihre Verbindlichkeit verloren haben. Damit allerdings lassen sich die konkreten Erscheinungsformen und Verhaltensmuster der „Zerrissenen“, die A. v. Ungern-Sternberg im Titel seiner Novelle von 1832 exponiert, nur unzureichend erfassen; jedenfalls haben zeitgenössische Dramatiker wie Grabbe, Grillparzer oder Büchner sie genauer zu analysieren versucht, indem sie sie als modische Attitüde entlarvten und mit politischen Zuständen und sozialen Konstellationen in Verbindung brachten.

Im Kontext ihrer dramatischen Reflexion ist Johann Nepomuk Nestroys Schauspiel Der Zerrissene (1844) als treffende Beschreibung und eine (bei aller durch Gattung und Vorlage bedingten Vereinfachung) durchaus differenzierte Erklärung dieser zeittypischen Seelenlage zu lesen. Nachdem Grabbe über die Larmoyanz der kleinbürgerlichen Kunstproduzenten in einem regulierten Kulturbetrieb gespottet und Büchner den „langen Sonntag“ der im Bund immer noch herrschenden und von den geschundenen Bauern materiell und ideell unterhaltenen Adelskaste attackiert hatte, nimmt Nestroy in seiner Posse den „Kapitalisten“ aufs Korn, der unter der „enorm horriblen Göttin“ Langeweile leidet, „die gerade die Reichen zu ihrem Priestertum verdammt“ (I, 5). Trotz dieser schweren Last ist sich der Grundbesitzer Lips bewusst: „Armut ist ohne Zweifel das Schrecklichste“, weshalb er auch für „zehn Millionen“ nicht auf seinen Wohlstand verzichten würde. In witzig pointierter Paradoxie zeigt sich die Zerrissenheit so als ein sozioökonomischer Widerspruch, der im Stück expliziert und komödiengerecht aufgelöst wird.

Wie aber Prinz Leonce, der zwischenzeitlich mit seiner Melancholie „niedergekommen“ zu sein glaubt, am zwanghaft glücklichen Schluss von Leonce und Lena (1836) sich wieder in die Mechanismen des spätabsolutistischen Hofstaates einfügt, so dürfte auch Lips mittels seiner Komplettierung durch die „ganze eh’liche Hälfte“ (III, 11) keine endgültige Heilung von seinem Leiden beschert sein. Denn sie verlangte nichts weniger als eine Veränderung der Grundlagen der „abgelebten modernen Gesellschaft“, für die, wie Georg Büchner 1836 an Karl Gutzkow schrieb, nun einmal das politische Zusammenspiel von Adel und Bourgeoisie ebenso wie die „entsetzlichste Langeweile“ kennzeichnend ist.

 

Henk J. Koning (Putten, NL):
De booze Geest Lumpacivagabundus of: Het liederlijke klaverblad oder von der (Un-)Übersetzbarkeit einer Nestroyschen Zauberposse

Anhand von zwei Übertragungen soll der Frage nachgegangen werden, in wieweit es möglich ist ein Nestroysches Stück einem niederländischen Publikum sinngemäß nahezubringen.

Die erste von J.A. Aalbers (1858), die im Auftrag des berühmten Theaterunternehmers Abraham van Lier angefertigt wurde, verschafft uns einen Einblick in die Adaptionspraxis dieses führenden Amsterdamer Schauspieldirektors.Textbeispiele aus handgeschriebenen Souffleurheften zeigen was aus dieser Wiener Zauberposse geworden ist und welche Freiheiten sich der Übersetzer erlaubt hat.

Auf einer Amateurbühne in der südniederländischen Provinz Brabant wird in diesem Sommer von dem Theaterkonsulenten und Dramaturgen Marcel Schmeits ebenfalls Der böse Geist Lumpacivagabundus inszeniert. Seine Übersetzung (De Boze Geest Lumpazivagabundus of De Drie Losbollen) will keine buchstabengetreue Wiedergabe von Nestroys Stück sein, sondern möchte auf dessen Aktualität hinweisen. Was macht Schmeits aus dem Original, in wieweit gelingt es ihm, den Wortwitz  Nestroys ins Niederländische umzusetzen, und wie geht er mit dem obligatorischen  Zauberrahmen und den Quodlibets um? Fragen dieser Art sollen anhand von Textbeispielen erörtert werden.

 

Urs Helmensdorfer (Zuoz, CH):
Nestroys „Mündlichkeit“ – Präsentation einer Hörspielproduktion von Der alte Mann mit der jungen Frau

Nestroy am Radio? Eine Posse nur mit den Ohren genießen? das Schaubare weglassen? Ein Unding? Vielleicht. Und doch ist es immer wieder versucht worden, von Karl Kraus wahrscheinlich als Erstem.

Vorgestellt wird eine Hörspielproduktion von Radio Studio Bern aus dem Jahre 1973. Es war – nach 25 Jahren – die erste Inszenierung dieses ernsten Nestroy nach der Uraufführung am 14. Mai 1948 im Theater in der Josefstadt. Zu Nestroys Lebzeiten ist das Werk ja aus politischen Gründen nie gespielt worden. Noch heute wird es nur selten aufgeführt, obwohl es in der Nestroyforschung als Meisterwerk gilt.

Wie der Regisseur des Hörspiels dazu kam und welches die Probleme bei den Aufnahmen waren, wird er in seiner Moderation erzählen und dabei auch die Protagonisten vorstellen – so Hanns Ernst Jäger in der Nestroyrolle des Herrn von Kern.

 

Fred Walla (Newcastle, AUS):
„Verspäteter Stern erster Größe“: Michel Masson als Quelle Nestroys

1926 entdeckte August Sauer in Michel Massons „Das Sandkorn“ die Quelle für Nestroys größten Erfolg bei der Kritik: den „Unbedeutenden“. Siebzig Jahre später war ich in der Lage auf andere Arbeiten, die direkt oder indirekt auf Masson zurückgehen als Quellen Nestroys hinzuweisen: Die französischen Vaudevilles „L’inévitable“ als weitere Nebenquelle für den „Unbedeutenden“ und „La Ferme de Bondi“ als Quelle für den „Alten Mann mit der jungen Frau“ (,„Da werden doch die deutschen Affen nicht lange zurückbleiben“. Neue französische Quellen zu Joahnn Nestroy‘, Études Germaniques 51 (1966), pp. 283–305).

Urs Helmensdorfer (Stücke 27/I) erkannte die novellistische Fassung „La Femme du Réfractaire“ als die eigentliche Hauptquelle des „Alten Manns“ und wies auch auf die novellistische Fassung des „Inévitable“ hin. Seither hat Hugo Aust auch „Albertine“, einen Roman nach Masson als Quelle für „Mein Freund“ entdeckt.

Der Vortrag beschäftigt sich mit den zwei Versionen des „L’inévitable“ und zeigt auf, dass Nestroy beide Fassungen des Werkes kannte. Die Erzählung endet tragisch, das Vaudeville mit einem ,happy end‘. Der Beweis für die (Mit)benützunng des Lustspiels wird dadurch erbracht, dass Nestroy eine Szene daraus in den „Papieren des Teufels“ benützte.

Weiters wird gezeigt, wie Nestroy einen Strang der Handlung aus Massons Erzählung „La Fabrique“ für die Handlung um Rochus Dickfell in „Nur Ruhe!“ benützte; für die Nebenhandlung, wenn man das Geschehen nacherzählt, für die Haupthandlung, wenn man vom Anteil im Stück ausgeht. Die Quelle für die ernste Liebeshandlung, die nur einen dünnen Rahmen bildet, fehlt noch.

Ein drittrangiger französischer Trivialautor, heute total unbekannt, stellt sich als einer der führenden Quellenautoren Nestroys heraus: Ein verspäteter Stern erster Größe, um Nestroy (leicht abgewandelt) zu zitieren.

 

David Robb (Belfast, GB):
Von Krähwinkel bis Da Da eR. Clowneske Revolutionäre in der deutschen und österreichischen theatralischen Tradition

Dieser Vortrag vergleicht zwei clowneske Produktionen aus zwei revolutionären Zeiten in der deutschen und österreichischen Geschichte: Johann Nestroys Freiheit in Krähwinkel aus der 1848er Revolution in Österreich und Wenzel und Menschings satirische Revue Letztes aus der Da Da eR aus der friedlichen Revolution in der DDR von 1989. Beide stellen eine clowneske Behandlung der jeweiligen Revolutionen dar; beide spotten den politischen Mächten zuweilen auf eine bemerkenswert ähnliche Art und Weise. Darüber hinaus zeigen beide jedoch einen komischen Ansatz gegenüber dem ganzen Thema der Revolution und all ihrer Protagonisten: die Revolutionäre werden selber als einfach unfähig dargestellt: als Leute, die die Revolution bloß spielen. In dieser Hinsicht schreibt Rudolf Münz von der farcenhaften Theatralisierung der 1848er Revolution im alltäglichen Leben. Wenzel und Mensching sind sich dessen 1989 auch bewußt. „Aber das Volk ist wie immer der Lage nicht gewachsen“ heißt eines der Lieder: die Menschen interessieren sich mehr für Windel, Zwiebelsuppe und Käsepreise als für politischen Fortschritt. In Krähwinkel wird dieser ambivalente Ansatz durch Ultras harlekineske „Multiplizität der Persönlichkeiten“ betont. Dadurch ist es schwierig, die genaue politische Haltung Nestroys festzustellen. Ebenso in Letztes aus der Da Da eR beuten Wenzel und Mensching dieses Potential der Clownsmaske aus, indem sie verschiedene karikierte Sozialrollen annehmen. So begegnet man einer dialogischen Wechselwirkung zwischen den verschiedenen politischen Agendas der Zeit, sei es diejenige der in Verruf gekommenen Führung, der gewendeten Stasimitarbeiter, der enttäuschten Liberalen oder des nationalistischen Lynchmobs. Das alles wirft ein Schlaglicht auf die Problematik, wenn man die karnevalistische Ästhetik einfach als Waffe der Unterdrückten sieht. Somit wird das zweideutige Verhältnis zwischen dem Karnevalesken und der politischen Subversion reflektiert.

 

Arnold Klaffenböck (Strobl, A):
Nestroy im ‚Kalten Krieg‘: Das Haus der Temperamente in der Bearbeitung von Qualtinger/Merz

Helmut Qualtinger (1928–86) und Carl Merz (eigentlich Carl Czell, 1906–79) traten gemeinsam seit 1946 im Wiener Kellertheater und Kabarett auf. Außerdem waren sie für den Hörfunk tätig, schrieben Drehbücher und Artikel für den „(Neuen) Kurier“. Als Schriftsteller schlossen sie eine arbeitsteilige Partnerschaft, bis sie sich 1965 trennten.

Weniger bekannt ist ihre Tätigkeit als Bearbeiter von Bühnenstücken, darunter auch welche Johann Nestroys. Für die Wiener Festwochen 1953 adaptierten Qualtinger und Merz „Das Haus der Temperamente“, das Gustav Manker im Volkstheater inszenierte. In diese Posse aus dem Vormärz wurden Konfliktpotentiale der Gegenwart der frühen Fünfzigerjahre projiziert. Das Stück um menschliche Charaktere und Liebe erhielt nämlich eine politische Lesart: Die vier Bräutigame wichen mental entsprechenden Vertretern der Besatzungsmächte, die sich in Österreich „eingemietet“ hatten und nicht daran zu denken schienen, das Land jemals wieder zu verlassen.

Die Kritik reagierte damals ähnlich wie die Beobachter der Uraufführung 1837: Sie lobte den ersten Akt, während sie beim zweiten allerlei Unschlüssigkeiten zu erkennen glaubte. Die Einrichtung des Stückes von Qualtinger und Merz litt unter Mängeln, die aus der Vorlage stammten und die die Bearbeiter trotz massiver Eingriffe letztlich nicht ausgleichen konnten.

Im Carl-Merz-Nachlass, den zur Zeit der Thomas Sessler Verlag in Wien verwahrt, haben sich das Typoskript mit den handschriftlichen Eintragungen und Ergänzungen, daneben verschiedene Szenenentwürfe sowie eine Alternative zum Couplet Schlankels erhalten. Diese Dokumente lassen es nachvollziehen, auf welche Weise Nestroys Stück während des jahrelangen Ringens um den Abschluss des Staatsvertrags mit den Alliierten für Belange der österreichischen Politik umgedeutet und im Sinne der Ideologie des „Kalten Krieges“ nach 1945 benützt wurde.

Qualtinger und Merz übten in ihrer Fassung von „Das Haus der Temperamente“ noch recht vorsichtig Kritik im Sinne des Antikommunismus und verliehen dem Stück unterhaltsam-lustspielhafte Züge. Ihre Adaption stand freilich auch erst am Beginn einer Reihe von Stücken für den Hörfunksender „Rotweißrot“ und der Kabarettrevuen von „Das Brettl vor dem Kopf“ bis hin zu „Hackl vor’m Kreuz“, bei denen dann Agitation und Konformismus ein zentrales Anliegen bilden sollten.

 

Fanny Platelle (Nancy, F):
Die komische Figur in Ferdinand Raimunds „Original-Zauberspielen“

1823 beginnt F. Raimund, der schon eine mehrjährige Erfahrung als Schauspieler im komischen Fach hat, seine eigenen Zauberspiele zu schreiben. Seine Begeisterung für das Burgtheater und seine „tragische Neigung“ veranlassen ihn, die Wiener Volkskomödie zu „veredeln“. Diese Orientierung zeigt sich in dem Stil (Höherstufung des Sprachstils und der Komik) und in der Funktion der Stücke, die entsprechend dem „aufklärerischen“ Komödienkonzept sittlich-moralische Werte vermitteln und die Zuschauer unterhalten und belehren sollen. Handlung, Zauberwelt und nicht zuletzt die komische Figur, die Raimunds Rolle war, werden in diesem Sinne umgedeutet und umfunktioniert. Im Hinblick auf Natur und Funktion der Komik kann man die komischen Personen in Raimunds „Original-Zauberspielen“ in drei Gruppen einteilen:

In den parodistischen Zauberspielen Der Barometermacher auf der Zauberinsel (1823) und Der Diamant des Geisterkönigs (1824) ist die komische Person weitgehend traditionell angelegt. Bei Bartholomäus Quecksilber dominiert die parodierende, bei Florian Waschblau, der ähnlich Kasperl die komische Parallele zu seinem Herrn Eduard bildet, die Unzulänglichkeitskomik. Dennoch lassen sich schon Züge erkennen, die für die weitere Entwicklung der Raimundschen komischen Figur von Bedeutung sind: Quecksilber steht im Mittelpunkt der Handlung, wie später Rappelkopf im Alpenkönig und Menschenfeind. Vor allem aber weist Florian Waschblau moralische Tugenden auf, die für die traditionelle lustige Person unüblich sind. Seine Hingabe an seinen Herrn und seine Liebe zu seiner weiblichen Partnerin Mariandl (Lieder) vermögen den Zuschauer lächelnd zu ergreifen.

In den halbtragischen „Original-Zauberspielen“ Die gefesselte Phantasie (1826–28), Moisasurs Zauberfluch (1827) und Die unheilbringende Zauberkrone (1829), in den Raimund „hohe“ Literatur anstrebt, verringert sich der Spielraum der komischen Figur. Der Harfenist Nachtigall tritt erst am Ende des 1. Akts auf, der Bauer Gluthahn verschwindet vor Ende des Stückes. Moralisch dominieren die negativen Züge (Grobheit bei Nachtigall, Bosheit bei Gluthahn, Feigheit bei dem Schneider Simplicius Zitternadel). Die „semantische Funktion“ der komischen Person besteht darin, als Gegenbild die moralischen Tugenden der ernsten Helden kontrastierend hervorzuheben. Dennoch vermag Raimund, ihr keine ebenbürtige „tragische“ Gestalt entgegenzusetzen, so dass die komische Figur echter und lebendiger wirkt als die idealen Vertreter der Tugend. Handelt es sich bei Nachtigall und Zitternadel um Unzulänglichkeitskomik, so stellt Gluthahn im Wiener Volkstheater einen „Extremfall“ dar, indem die traditionelle Komik bei ihm einer Art von schwarzem Humor gewichen ist.

Die Originalität der Raimundschen komischen Figur tritt in den „romantischen Original-Zaubermärchen“ und -spielen Der Bauer als Millionär (1826), Der Alpenkönig und der Menschenfeind (1828) und Der Verschwender (1834) am deutlichsten zutage. Die komische Person steht im Mittelpunkt der Handlung (Rappelkopf; Valentin zusammen mit Flottwell im 3. Akt), bzw. eines Handlungsstrangs (Wurzel). Sie erfährt eine psychologische Vertiefung: im Gegensatz zum traditionellen komischen Typus ist sie im Stück einer psychologischen Entwicklung unterworfen (der geldgierige Bauer Fortunatus Wurzel und der Menschenfeind Rappelkopf bessern sich, der Diener und Tischler Valentin Holzwurm wird sein eigener Herr). Im gleichen Maße vertieft sich ihre Komik zur Tragikomik (Rappelkopf), bzw. zum „Humor“ (Wurzel und Valentin). Damit werden die Voraussetzungen für die neue „semantische Funktion“ der komischen Figur geschaffen: Sie wird zum Träger der ethisch-moralischen Werte, die das Stück vermitteln soll (Rappelkopf bekennt sich zur Menschenliebe, Wurzel zur Zufriedenheit und Valentin erkennt das Schicksal, das sich an ihm offenbart). Die Aufwertung der komischen Person bildet im zeitgenössischen Wiener Volkstheater etwas Neues, wenn auch Raimund bei der moralischen Überlegenheit des Wiener (Klein-)Bürgers bleibt und keine politische Folge daraus zieht. Diese neue Rolle bedeutet aber eine veränderte Einstellung des Publikums: Statt sich wie in der Satire von der komischen Figur zu distanzieren, soll es sich mit ihr identifizieren und mitfühlend zur Einsicht kommen. Die Betrachtungsperspektive wird vom Intellekt (erkennendes, befreiendes Lachen) auf das Gemüt und Gefühl verlagert.

Dennoch zeigen innere Spannungen (z.B. Rappelkopfs plötzliche Besserung und zweideutige Schlussworte), dass das Ideal sich schwer mit der Wirklichkeit vertragen lässt. Darin besteht die „Modernität“, aber auch die Tragik von Raimunds Zauberspielen. Der dargestellte Wiener (Klein-)Bürger bleibt ein Wunschbild. In Raimunds letztem Stück, dem Verschwender, verschiebt die Fee Cheristane die Ideale ins Jenseits („Wir werden uns gewiss einst wieder sehen / Dort! In der Liebe grenzenlosem Reich, / Wo alle Geister sich begegnen dürfen“). Valentins „Freundschaft“ mit dem eigenen Tode – Ausdruck der höchsten Lebensweisheit – erscheint zwei Jahre vor Raimunds Selbstmord als erster Schritt in dieser Richtung.

Die komische Figur spielt in Raimunds „veredelter“ Volkskomödie eine hervorragende Rolle. Psychologisch vertieft wird sie zur Verkünderin ethisch-moralischer Werte (Rappelkopf), bzw. zur Verkörperung einer Lebensweisheit (Wurzel als Aschenmann, Valentin im Hobellied), die sie direkt oder indirekt erfahren hat. Ihre kennzeichnenden Merkmale (Volkstümlichkeit, Rampenposition) werden eingesetzt, um Einklang zu schaffen und das Publikum mitfühlend zur Einsicht zu bringen. In der lustigen Person gelingt es Raimund, Komik und Ernst, Unterhaltung und Belehrung überzeugend zu vereinen, nicht zuletzt weil die Sprache, der „szenische Dialekt“, von großer Wirkung ist. Die komischen Figuren haben in hohem Maße zum Erfolg von Raimunds „Original-Zauberspielen“ beigetragen. Ihre Wirkkraft bewährt sich heute noch.

 

Walter Pape (Köln, D):
Die tiefere Bedeutung des Wurststurzes

Zur Hypersemantisierung performativer Akte und des Kontingenten in Nestroys Komödien aus kulturwissenschaftlicher Sicht. Ein nicht ganz ernsthaftes Projekt für das 21. Jahrhundert. „Denn die größten Gelehrten haben von der Wahrheit nie mehr als eine Ahnung g’habt.“

 

Marion Linhardt (Bayreuth, D):
„Volkstheater“ versus „Operette“? Zum Konzept einer theatralischen Topographie Wiens

In Paris, London und Wien bildete sich im 18. Jahrhundert ein Geflecht theatralischer Massenunterhaltung heraus, deren spezifische Ausrichtung in unmittelbarem Zusammenhang mit den jeweiligen topographischen und demographischen Gegebenheiten dieser Großstädte stand. Das (musikalische) Unterhaltungstheater Wiens gewann seine Bedeutung als „Volkstheater“ nicht zuletzt aus dem institutionellen und ästhetischen Gegenüber zum Hoftheater; verbunden mit einer vom Hoftheater unterschiedenen städtischen Sphäre, mit der Vorstadt, vermochte das Unterhaltungstheater in Wien eine in dieser Form in Paris und London unbekannte identitätsstiftende Funktion für eine breite Schicht der Bevölkerung zu entwickeln. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde dieses „Volkstheater“ verschiedentlich auf den Prüfstand gestellt: war es noch das „echte“, „ursprüngliche“ Wiener Volkstheater, oder drohte dessen Niedergang? Die „Einführung“ der Pariser Operette an den Vorstadttheatern seit den späten 1850er Jahren und die Hinwendung mehrerer Wiener Kapellmeister zu diesem Genre verlieh der Debatte bislang unbekannte Dimensionen. Bald etablierte sich die Behauptung einer „Verdrängung“ des „Volkstheaters“ durch die „Operette“, eine Sichtweise, die auch im 20. Jahrhundert noch zahlreiche Anhänger fand. Die These der Verdrängung geht ebenso wie neuere, systematisch ausgerichtete Versuche einer Gattungsbestimmung von der Annahme aus, „Volksstück“ (Posse? Quodlibet? Lebensbild? Charakterbild?) und „Operette“ ließen sich eindeutig definieren. Demgegenüber wäre für Wien zu zeigen, wie sich Gattungsbezeichnungen aus den Gegebenheiten der theatralischen Topographie, wie Publikumsstrukturen, Werbestrategien, Konzessionsbestimmungen etc., herleiteten und daß die jeweils gewählten Begriffe nicht zwingend Aufschluß über die musikdramatische Anlage der Werke geben. Die Verankerung der Theater im städtischen Raum war es, die, wie schon um 1800, auch noch im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert die Struktur des Unterhaltungstheaters mit seinen Faktoren Produktion, Dramaturgie und Rezeption bestimmte. Diese Struktur fächerte sich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts entsprechend den städtischen Veränderungen immer weiter auf und bot einen Rahmen für Posse und Schwank, für Operette, Feerie und Varieté. Die sich stetig weiter differenzierende Stadt als gemeinsame Grundlage der vielfältigen Formen des Unterhaltungstheaters zu entschlüsseln, wäre eine Option für eine integrale Theatergeschichtsschreibung, die sich „Volksstück“ und „Operette“, bislang von unterschiedlichen Wissenschaftlergruppen behandelt und in der Regel als „Sprechtheater“ bzw. „Musiktheater“ unterschiedlichen Disziplinen zugeordnet, gleichermaßen zuwendet.

 

Thorsten Fitzon (Berlin, D):
Posse und Publikum – Nestroys intendierter Zuschauer

Über das Publikum der Wiener Vorstadttheater ist nur wenig bekannt. Die Abgrenzung zu den Besuchern des Hoftheaters und Versuche, die soziale Zusammensetzung zu rekonstruieren, konnten kaum dazu beitragen, die ,Rolle‘ der Zuschauer hinreichend zu charakterisieren. Kritiken, Eingriffe der Zensur, oder deren Vorwegnahme in jenen Manuskripten, die der Zensur vorgelegt wurden, können zwar einzelne Schlaglichter in den Zuschauerraum werfen, Rückschlüsse auf die Funktion, die dem Publikum bei der Realisierung eines Stückes zukommt, lassen sich aus ihnen jedoch nur bedingt ziehen.

Hinter Diderots „Vierter Wand“ bleibt der unbestimmbare Zuschauer scheinbar vom Schaffensprozess ausgeschlossen und so verwundert es nicht, wenn er auch nicht den dramatis personae zugerechnet wird. Dennoch bildet jedes noch so heterogen zusammengesetzte Publikum im Augenblick der Aufführung eine Einheit, deren Funktion sich nicht in der bloßen Beobachtung erschöpft, sondern in Akklamation – gleichviel ob zustimmend oder ablehnend – erfüllt. Das intendierte Lachen und die strukturelle Offenheit der Posse für das Stegreifspiel, das weniger auf die Handlung als auf die Wirkung zielt und somit ähnlich wie die aparte Rede im Zuschauer seinen unmittelbaren Adressaten findet, eröffnen den Dialog über die Bühnenschranke hinweg. Aus Bühnenbild und Requisite, Szenenwechsel, der Faktur der Dialoge und nicht zuletzt aus dem epischen Charakter der Monologe erklingt ein Appell an das Publikum, der analog zum Akt des Lesens einen spezifischen und intendierten Akt des Zuschauens erfordert.

Eine exemplarische Analyse jener Possen, die Nestroy in den 1840er Jahren während der wirtschaftlichen Krise der Vorstadttheater schrieb, zeigt, dass die Mitarbeit des Zuschauers im Sinne eines spectator in theatro grundsätzlich angelegt war und sich nicht darauf beschränkte, den herrschenden Publikumsgeschmack lediglich auf der Bühne zu antizipieren. Allusionen, semantische Verschiebungen und Strategien der epischen Distanzierung sind die häufigsten Techniken, die nach einer Aktualisierung durch das Publikum verlangen. Die Veränderungen, die Nestroy gegenüber seinen französischen und englischen Vorlagen unternahm, verweisen ebenfalls auf einen Zuschauer, der im weiteren Sinn als ein Akteur gedacht werden muss. So erschöpfte sich Nestroys Anverwandlung der erfolgreichen ausländischen Vorlagen nicht in der Übertragung der Schauplätze, der Dialekteinfärbung und der Einführung eines Wiener Personals, sondern sie wirkte sich auch auf die Tektonik und Psychologisierung des Handlungsverlaufs aus.

Zwar ist das Modell eines intendierten aktiven Zuschauers nicht ausschließlich im Wiener Volkstheater oder etwa nur bei Nestroy angelegt, jedoch enthalten seine auf Desillusionierung angelegten Satiren eine hohe Dichte an Textsignalen, die das Publikum zur Mitarbeit auffordern. Die Posse mit ihrer fortlaufenden, zum Teil aneinander gereihten Komik erfordert dabei mehr als andere Gattungen eine kontinuierliche Verständigung mit dem Publikum, das nicht nur zum Schluss applaudieren darf.

 

Mathias Spohr (Zürich, CH):
Easy Rider (1969) von Dennis Hopper, Kultfilm und erstes Roadmovie – eine Bearbeitung von Nestroys Der böse Geist Lumpacivagabundus?

Johann Nestroys Welterfolg Der böse Geist Lumpacivagabundus (1833) fällt in eine Umbruchszeit zwischen der Pariser Junirevolution und der dortigen Gründung des „Bunds der Geächteten“ durch deutschsprachige Handwerksgesellen. Ein ganz ähnliches zeitgeschichtliches Umfeld hat Dennis Hoppers filmischer Sensationserfolg Easy Rider (1969) in der Aufbruchszeit der 1968er Jahre. Hier wie dort geht es um soziale Ungebundenheit und ihr Konfliktpotenzial. Hier wie dort steht der breite Publikumserfolg in merkwürdigem Widerspruch zur anarchischen Botschaft und zum dramatur-gischen Manko eines „weak plot“. Und bei genauerer Betrachtung gibt es zahlreiche inhaltliche Übereinstimmungen, angefangen bei der Grundaussage: Wozu ist die Straße da?, mit der Easy Rider die Gattung der Roadmovies begründete. Wie könnten sie erklärt werden?

Gewiss mag eine solche Fragestellung den Trieb zur philologischen Spurensuche entfachen, aber hier soll die Gemeinsamkeit in einem größeren historischen Zusammenhang gesehen werden: dem Tabubereich der barocken, aber bis heute lebendigen Vanitas-Motivik mit ihrer Trias Vergänglichkeit, Gleichgültigkeit und Selbstherrlichkeit als Grundeigenschaften der Schrift. Es gehört seit dem späteren 19. Jahrhundert zum ideologischen Kern einer „Geisteswissenschaft“, diese Trias ins Positive zu verklären, also zu Dauerhaftigkeit, Chancengleichheit und Selbstbewusstsein im Angesicht von „Autoren“. Was im barocken Sinne die Ambivalenz betont, fällt im akademischen Betrieb dann unter den Tisch; eine Strategie, die sich nicht mehr aufrechterhalten lässt.