Zwei vor und Eins zurück?
Die 30. Internationalen Nestroy-Gespräche (26. bis 30. Juni 2004) nahmen Themen früherer Gespräche auf und entdeckten neue Aspekte und andere Perspektiven. Wie sind Nestroys Witz und Satire im Blick auf verborgene Traditionen, sprachliche Handlungsspiele und Publikumserwartungen neu zu deuten? Welche Originalität entfaltet er auf der Grundlage seiner literarischen Quellen? Welches Kunstverständnis artikuliert sich in seinen Possen? Wie steht es um Wiederkehr und Domestizierung hanswurstischer Elemente? Um diese und andere Fragen ging es im theater-, literatur- und kulturgeschichtlichen Kontext.
Stefan Kaszyński (Poznań, PL) griff die von der Forschung kontrovers diskutierte Frage auf, ob Nestroy ein Aphoristiker war. Mit der Unterscheidung zwischen Aphorismus als intentionaler Gedanke und als Rezeptionsform scheint es möglich, Nestroys „doppelten Blick“ besser zu erkennen: Aphoristische Wendungen werden zur Akzentuierung der Mehrdeutigkeit von Texten und des Zusammenspiels von Handlung und Sprachreflexion eingesetzt. Die Umwandlung von Handlung in Reflexion könnte durch eine nähere Untersuchung von Nestroys Schreibstrategien und zum Umgang mit seinen Einfällen – z.B. in der Verwendung der „Reserve“ – erhärtet werden. Abschließend stellte Kaszyn´ski Nestroy in die Tradition des österreichischen Aphorismus. In der Diskussion wurde auch auf die durch das theatrale Ereignis bestimmten Bonmots hingewiesen. Ob aphoristische Wendungen die Banalität der Handlung betonen, blieb offen.
W. Edgar Yates (Exeter, GB) betrachtete die Posse „Nur keck!“ (1855) – eine Wiener Spielart der europäischen Komödie à la Ein Florentiner Strohhut (nach Eugène Labiche) – im Kontext ihrer Entstehung und nannte mögliche Gründe für den Abbruch der Arbeiten an ihr und die schließlich nicht realisierte Aufführung, darunter vor allem das zunehmend hektischer werdenden Berufsleben durch die Übernahme der Direktion des Carl-Theaters und Probleme im Privatleben (Köfer-Affäre). Nestroys Aktivitäten als Theaterdirektor erschienen im neuen Licht.
Peter Gruber (Wien), der Regisseur der Schwechater „Nur keck!“-Inszenierung 2004, betonte die Andersartigkeit dieses Stückes gegenüber den Possen, die „zwingende Auftritte“ bieten und von den Schauspielern weniger Reaktionsschnelligkeit verlangen. Er bemerkte Parallelen zu Carlo Goldoni wie zur Situationsdramaturgie von Labiche und Feydeau. Das permanente Rollenspiel enthülle die Oberflächlichkeit der Gesellschaft, die hinter „kompetenter Coolness“ ihre Unsicherheit nur notdürftig verbergen könne. Die Komödie als Lebensform weist schon auf Arthur Schnitzler voraus und bietet zugleich Möglichkeiten für aktuelle Bezüge, die in der Aufführung ‚ausgespielt‘ wurden.
Ulrike Tanzer (Salzburg) untersuchte „Kunst und Künstlerfiguren in Nestroys Werk“, vor allem die Virtuosendebatte mit der Kritik an der Ausstellung nur äußerlicher Fertigkeiten und Satire auf die gesellschaftliche Kunstbewertung (Signor Nero in Müller, Kohlenbrenner und Sesseltrager, Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab, beide 1834), die letztlich auch Publikumskritik impliziert.
Burkhard Meyer-Sickendiek (München) schlug mit Rückgriff auf neuere Ironie-Theorien und Hinweis auf die satirisch-republikanische Tradition vor, den Sprachwitz Nestroys weniger von Schillers Satire-Theorie oder aus der Perspektive der „strafenden“ Satire Karl Kraus’ zu betrachten, sondern als „heitere“, urban-gesellige Form, die der „politeness“ verpflichtet sei. Offen blieb, wie sich dieses Konzept mit der Tradition des Wiener Volkstheaters und der aggressiven Komik Nestroys vereinbaren läßt.
Rudolf Drux (Köln) charakterisierte auf dem Hintergrund neuerer Forschung den nur ‚gespielten Zerrissenen‘ im gleichnamigen Stück, akzentuierte die sozialgeschichtliche Konkretisierung der Zerrissenheit und zog Parallelen zu Georg Büchners Leonce und Lena. Das Spiel mit Täuschung und Selbsttäuschung wurde auch von ihm als wesentliches Merkmal von Nestroys Komödienstil herausgestellt.
Thorsten Fitzon (Freiburg i. Br.) versuchte mit Rückgriff auf rezeptionsästhetische Kategorien eine Rekonstruktion der aktiven Rolle des impliziten Zuschauers in Nestroys Possen der 40er Jahre, die vom Spiel mit theatraler Kommunikation zwischen Bühne und Publikum geprägt sind.
Fanny Platelle (Nancy, F) betrachtete den Einfluß der Spaßmacher-Tradition auf Ferdinand Raimund und stellte seine vertiefte Komik, die Integration der komischen Figur und die Verbürgerlichung des ‚Asozialen‘ heraus. Dies führe zu einer anderen „Sympathielenkung“ des Publikums. Die Diskussion regte an, die Hintergründigkeit des Biedermeierlichen bei Raimund stärker in den Blick zu nehmen.
Fred Walla (Newcastle, AUS) legte weitere Ergebnisse seiner Recherchen zu Nestroys französischen Quellen vor und zeigte, wie dieser sich insbesondere von den Erzählungen Michel Massons nicht nur stofflich-thematisch anregen ließ (u.a. Die Papiere des Teufels, 1840; Nur Ruhe!, 1843; Der Unbedeutende, 1846; Der alte Mann mit der jungen Frau, 1849, Mein Freund, 1850).
Jürgen Hein (Münster/W.) machte auf einen Handschriftenfund aus Privatbesitz zu den Vorarbeiten für Höllenangst (1849) und auf Editionsprobleme der geplanten neuen historisch-kritischen Raimundausgabe aufmerksam.
Marion Linhardt (Bayreuth) revidierte die These, die Operette habe das Volkstheater verdrängt. Sie beschrieb das Konzept einer „theatralischen Topographie Wiens“, in der Posse mit Gesang und Operette zugleich als Genres eines theatralen Massenmediums die verschiedenen Spielstätten bedominieren. Indem „Alt-Wien“ selbst zum Gegenstand der Operette wird, weichen die Vorurteile gegenüber der Gattung einer sentimentalen Haltung.
Henk J. Koning (Putten, NL) zeigte am Beispiel zweier Übersetzungen von Der böse Geist Lumpacivagabundus (1833) aus den Jahren 1858 und 2003 die besonderen Schwierigkeiten des mentalen Kulturtransfers des Komischen in eine Nachbarsprache.
Mathias Spohr (Zürich) entdeckte Parallelen zwischen Der böse Geist Lumpacivagabundus und dem ‚Kultfilm‘ Easy Rider (1969), beides Erfolge eines Unterhaltungsmediums, das anthropologische Konstanten und ähnliche Umbruchsituationen (1830, 1968) thematisiert, indem Flucht, Ungebundenheit und „Besserung“ miteinander verknüpft werden.
David Robb (Belfast, GB) thematisierte mit Michail Bachtin die Karnevalisierung des Bewußtseins in Umbruchphasen am Beispiel von Freiheit in Krähwinkel (1848) und in der satirischen Revue Letztes aus der Da Da eR (1989) von Hans-Eckardt Wenzel und Steffen Mensching. In beiden Fällen geht es um die clowneske Verspottung einer politischen ‚Wende‘ und Satire auf die Herrschenden, in der zum Teil Revolution nur gespielt wird, politische und theatrale Bühne ineinander verwoben sind. Das harlekineske Volkstheater (Rudolf Münz) läßt Nestroys politische Haltung schillernd und eindeutige Interpretationen unmöglich werden.
Arnold Klaffenböck (Strobl, A) arbeitete Helmut Qualtingers und Carl Merz’ Bearbeitung von Das Haus der Temperamente (1838) aus dem Jahre 1953 als Spiegelbild der Besatzungspolitik im „Kalten Krieg“ heraus. Hinter der vordergründigen Liebesgeschichte geht es um die Freiheit Österreichs, das als Opfer und Spielball der Weltpolitik dargestellt wird. Im Kostüm des Lustspiels entwirft die Bearbeitung eine politische Vision.
Urs Helmensdorfer (Zuoz, CH) bot interessante Einblicke in seine Hörspielproduktion von Der alte Mann mit der jungen Frau (Radio Studio Bern 1973), Walter Pape (Köln) eine ebenso geschliffene wie amüsante Wissenschaftsparodie zur „tieferen Bedeutung des Wurststurzes“ in „Nur keck!““ (II, 29; HKA Stücke 34, S. 76). Eine Exkursion führte unter der Leitung von Otmar Nestroy (Graz) nach Bratislava, wo Nestroy einst im Engagement war, worüber Hermann Böhm (Wien) berichtete.
Im dreißigsten Jahr „Internationale Nestroy-Gespräche“ wurde ein vorläufiges Resümee gezogen. Paßt das Motto „Zwei vor und Eins zurück“?. Sah der „Fortschritt […] viel größer aus […], als er wirklich ist“ (Gottlieb Herb in Der Schützling, 1847; HKA Stücke 24/II, S. 91)? Die Diskussion mit Wendelin Schmidt-Dengler (Wien), u.a. zu seiner These, Nestroys Werk sei „zu wichtig, um es den Regisseuren zu überlassen“, beim Lesen sei „eindeutig ein Sur-plus im Vergleich zum Zuschauen zu erzielen“, bewertete die Forschungsergebnisse und gab für künftige Gespräche neue Anregungen.