Nestroy-Gespräche 2003: Bericht

„’is jetzt schön überhaupt, wenn m’r an etwas noch glaubt“

 

 

 

Unter dem Motto aus Höllenangst (1849) „’s is jetzt schön überhaupt, wenn m’r an etwas noch glaubt“ wurden neue Aspekte und andere Perspektiven entdeckt.

Otto G. Schindler (Wien) rekonstruierte Herkunft und Entwicklung des bis in die Vorstadt- und Provinztheater des Biedermeier beliebten „Thiergesprächs“, ein Reimspiel, das auf die Tradition der Commedia dell’arte und die Volksliteratur zurückgeht. In Wien erschien 1692 die erste gedruckte Version der „Tirade“ des Gelehrten. Eingang fand sie in Kasperl, der Hausherr in der Narrengasse (1781). Der Nestroy-Komponist Adolph Müller hat sie für Wenzel Scholz bearbeitet. Es zeigt sich, wie lohnenswert es ist, auch weniger deutlichen Spuren der Commedia dell’arte und ihrer Literarisierung im Wiener Theater nachzugehen.

Gerald Stieg (Paris) zog unter der Perspektive „Alkohol im Lied und auf dem Theater“ eine Linie von Wolfgang Amadeus Mozart über Ferdinand Raimund (Köhlerszene in Der Alpenkönig und der Menschenfeind, 1828), Nestroy (Der böse Geist Lumpacivagabundus, 1833), Karl Kraus (Die letzten Tagen der Menschheit, 1919) und die „alkoholisierte Verantwortungslosigkeit“ bei Elias Canetti, Ödön von Horváth und andere bis zum „Wienerlied“ und Wiener Kabarett der Nachkriegszeit und unternahm den Versuch, aus der Behandlung des Alkohols und seiner Wirkungen eine Typologie des Komischen abzuleiten und gegenüber der tragischen Darstellung bei Ludwig Anzengruber (Das vierte Gebot, 1877) und Gerhart Hauptmann (Vor Sonnenaufgang, 1889) oder auch der Alkoholseligkeit der Operette abzugrenzen.

Rudolf Muhs (London) zeigte, welche Vorstellungen über Engländer und Englisches in Nestroys Werk eingegangen ist und welche dramaturgische Funktion diese England-Bezüge haben. Die Figuren entstammen der Tradition des komischen Theaterengländers, zu dessen stereotypen Eigenschaften Reichtum, karierte Anzüge, Spleen und die Neigung zum Selbstmord gehören. Nestroy spielt mit Elementen dieser Tradition, verspottet Anglomanie in Der Zerrissene (1844), dekonstruiert das Klischee vom reichen England in Freiheit in Krähwinkel (1848); in Lady und Schneider (1849) seien keine karikaturistischen Züge zu entdecken; Lord Inslbull in Theaterg’schichten […] (1854) scheine ein Rückfall in die Tradition der frühen Stücke zu sein. Der Motivwandel zeige, wie sensibel Nestroy den Gang der Englanddebatte im deutschsprachigen Raum registrierte und reflektierte.

Stefan Willer (Berlin) untersuchte an bekannten Beispielen, wie Nestroy den gespielten und bespielten Raum für seine Komödien nutzt (Zu ebener Erde und erster Stock [1835], Eine Wohnung ist zu vermieten […] [1837]; Das Haus der Temperamente [1838]). Er wies nach, daß das „Lokale“ sich nicht auf eine thematische oder dekorative Verwendung beschränkt, sondern eine Selbstreflexion der Räumlichkeit des Theaters biete. Auch sei die Nestroysche Dramensprache – u.a. mit Fiktionsbruch, Symbolik der Räume, Theatralisierung – durch deiktische Hindeutung auf den Raum gekennzeichnet.

Walter Pape (Köln) analysierte „Sprache, Stimme und Gebärde, Verstellung und Verkleidung im dramatischen Dialog in Nestroys Komödien“ mit Bezug auf das psychologische Theater des 18. Jahrhunderts und fragte, inwiefern die unterschiedlichen ,Sprachen‘ einer Figur (Sprache, Gestik, Mimik, Kleid, Geld) verläßliche Zeichen im dramatischen Dialog sind und woran die Verstellung im gesellschaftliche Verkleidungsspiel erkennbar ist. Anthropologische Skepsis führe bei Nestroy zur Entlarvung von maskenhafter Verkleidung (z.B. Titus in Der Talisman [1840], Nebel in Liebesgeschichten und Heurathssachen [1843]).

Ein Schwerpunkt der Gespräche lag bei theaterpoetologischen und stilistischen Fragen der Komödie als „Sprachhandlungsspiel“ innerhalb der Zeichen- und Kommunikationssysteme des Theaters, die in einem „Workshop“ zur Dialoggestaltung (Monika Dannerer und Ulrike Tanzer, Salzburg) bis hin zur „Rhetorik des Schweigens“ bei Nestroy (Matthias Schleifer, Bamberg) vertieft und mit übergreifenden Fragen der Stilisierung und Typisierung (Martin Stern, Basel) verknüpft wurden. – Literaturwissenschaftliche und linguistische Analysen zur Dialoggestaltung in Höllenangst erhellten, in welcher Weise Nestroy über Sprachhandlungsmuster verfügte, die er wohl durch Beobachtung ,natürlicher‘ Alltagssituationen gewann und in „Stimmenvielfalt“ (Bachtin) theatralisch verwertete. – Interessant war der Hinweis Matthias Schleifers, das Motiv des Schweigens durchziehe die gesamte Posse Das Mädl aus der Vorstadt (1841); das Schweigen halte das Spiel zusammen und sei „beredt“ für das Publikum. – Martin Stern machte auf eine bislang unbeachtete Notiz Hugo von Hofmannsthals aufmerksam: „Nestroy. Das Stilisieren der Reichen wie Spielkartenfiguren […]“ und zeigte an Textbeispielen Nestroys Verfahren der Typisierung als Verbindung von Komödien- und Lebenswelt-Figuren, auch im Blick auf die Rollenträger neben ihm (Wenzel Scholz, Louis Grois u.a.) und die ,Ausgestelltheit‘ auf dem Theater.

Ein kommentiertes Konzert mit prägnanten Beispielen zur Coupletkunst bot Urs Helmensdorfer (Zuoz, CH): „Wie klingt ein Nestroy-Lied?“; die Bandbreite der Ausdrucksmittel zwischen Singen und Sprechen wurde ebenso deutlich wie die integrale dramaturgische Funktion der Couplets.

Matjaž Birk (Maribor, SLO) untersuchte die durch Wechselbeziehungen zwischen der deutsch-österreichischen und slowenischen Kultur geprägte Aufnahme Nestroys in Laibach (Ljubljana) im Vormärz, darüber hinaus die Rezeption bis in die Gegenwart. Dabei zog er Parallelen zwischen der Rezeption in der slowenischen Provinz und in Wien, ergänzt durch einen Blick auf die kroatischen Rezeption.

Fred Walla (Newcastle, AUS) berichtete über den Fund einer bislang unbekannten Nebenquelle zu Die Familien Zwirn, Knieriem und Leim (1834): Ludwig August Ifflands Stück Der Komet (1796), das Nestroy wohl durch die Neuauflage der Lustspiele Ifflands kannte. – Jürgen Hein (Münster/W.) versuchte die Nachweis einer Mitautorschaft Nestroys bei der anonym aufgeführten Posse Wenzel Scholz und Die chinesische Prinzessin (1856).

Anthony Coulson (Dublin) zeigte in Fortsetzung seines Vortrags 2002 am Beispiel der Verfilmungen von Der böse Geist Lumpacivagabundus 1936 und 1956 die Umdeutung Nestroys als „Heimatdichter“, der in unterhaltender Weise das Klischee vom „guten Volk“ bedient, wobei vom Originaltext nur noch wenig übrig bleibt.

Wolfgang Hackl (Innsbruck) diskutierte „Verwicklungen der jüngsten ,Nestroy‘-Preisverleihungen“, die nicht zuletzt durch die Laudatio von André Heller auf Claus Peymann, die er als „Märchen, einem Theaterstoff im Sinne Nestroys“ mit politischen Invektiven nutzte, in die Schlagzeilen der österreichischen Medien gerieten. Obwohl der Preis an sich nicht dem Werk Nestroy gilt, repräsentiere er Facetten der aktuellen Nestroyrezeption in Österreich, indem die Initiatoren den Dichter als prominenten Namenspatron nutzen, ihn damit ehren, aber zugleich auch in den Kontext von „Bambi“ und „Oscar“ stellen. Deutlich wurde seine (kultur-)politische Instrumentalisierung.

Die Nestroy-Spiele Schwechat widmeten sich ein Jahr nach ihrem 30-jähriges Jubiläum mit einer eindrucksvollen Inszenierung Peter Grubers Nestroys postrevolutionärer Posse Höllenangst, die mit der grundsätzlichen Infragestellung jeglicher Illusion eine nur possenhafte Verharmlosung vermied und die parabelhafte Handlung in ein aktuelles soziales und ökonomisches Spannungsfeld stellte. Dabei griff Peter Gruber weder auf die Originalmusik vom Michael Hebenstreit noch auf die Komposition von Hanns Eisler für die Aufführung 1948 in der „Scala“ zurück, sondern vertraute neuer musikalischer Akzentsetzung durch Otto M. Zykan. Die von Nestroy angelegte Dialektik von „dummer Teufel“ und intellektuellem Durchblick blieb ebenso erhalten wie die Kritik an den Errungenschaften der Aufklärung (vgl. auch Couplets und „Schicksalsmonolog“) und eine kaum beschädigte Utopie: „’s is jetzt schön überhaupt, wenn m’r an etwas noch glaubt“.

Die von Walter Obermaier (Wien) geleitete Exkursion führte zu Nestroy- und Raimund-Orten nach Reichenau und Gutenstein (Raimund-Grab, -Gedenkstätte, -Villa).
(Jürgen Hein)