Nestroy-Gespräche 2002: Referate (Exposés)

Aus der Vorstadt in die Welt
oder „Na lasst man ein Jed’n sein Freud“

 

 

 

W. Edgar Yates
Die fragmentarische Biographie: Das Jahr 1841

1.–4., 10.–12., 16.–19., 21.–22., 27.–29. Jänner, Theater an der Wien: Aufführungen von Der Talisman am Theater an der Wien (Nestroy als Titus Feuerfuchs).

12. März: „Wir gestehen, über Manches in diesem Stücke gelacht zu haben, doch es waren dies nicht die schlechten Witze des Nestroy, sondern die Situationen des Franzosen, von dem Nestroy sich den Stoff geborgt hat. Der Canevas dieser Posse, dem Französischen entlehnt, ist in der That ganz belustigend; aber Nestroys Zuthaten sind gewöhnlicher Art.“ (Telegraph für Deutschland (Nr. 41), S. 164).

21. April: „Seitdem der Matador der Lokalpoesie, Nestroy, den „Erbschleicher“ einer ver-kümmerten französischen Broschüre abgeschrieben, stürzen unsere Possendichter, wie hungerige Handwerksburschen, über französische Romane und plündern sie aus, über französische Vaudevilles und äffen sie nach […]“ (Österreichisches Morgenblatt)

1.–25. Juni: Gastspiel in Prag.

3.–9. Juli: Gastspiel in Hamburg.

14. Juli: Gutzkows Telegraph für Deutschland: ablehnende Kritik über Nestroys Gastspiel in Hamburg [Glück, Mißbrauch und Rückkehr, Der Talisman].

31. Juli: Brief an einen Zeitungsherausgeber (Bäuerle?): „Sie waren so gütig mich zu fragen, ob ich wünschte, daß beyliegender Aufsatz des Telegraphen abgedruckt würde; darauf kann ich nur erwidern, daß Sie mich sehr verbinden, wenn es nicht geschieht. […] Gutzkow ist mir nicht freundlich gesinnt […]“ (HKA Briefe, S. 51 [Nr. 18]).

16. August, Theater an der Wien: Nestroy tritt in Die verhängnißvolle Faschings-Nacht auf.

18. August: Nestroys Rolle in Schickhs Die Entführung vom Maskenball wird von Johann Baptist Lang übernommen.

27. August, Morgenblatt für gebildete Leser („Korrespondenz-Nachrichten“ aus Prag): „Unter den Bühnengästen der letzten Zeit befand sich Nestroy. Er wurde wieder mit Jubel aufgenommen, hat aber die gute Laune der Prager auf eine zu harte Probe gesezt, indem er nicht bloß zwei bei uns durchgefallene Possen: ,Dreißig Jahre aus dem Leben eines Lumpen‘ und ,Robert der Teuxel‘ wieder auf das Repertoire brachte, sondern auch den Pragern zu seinen Beneficen ein paar ebenso schlechte Machwerke darbrachte: ,Der wilde Jäger oder das rothe Häuschen‘ und ,der Seiltänzer aus Liebe.‘“

7. September: Erklärung von Wilhelmine Nespiesny, die bekennt, „[…] daß ich bey der im Jahre 1827 geschehenen Tren[n]ung nicht von Herr[n] Nestroy aus seinem Hause gewiesen wurde, sondern eines mit einem damahls in Grätz sich befindlichen Grafen Batthyany unterhaltenen Liebesverhältnißes wegen entwichen bin […]“ [Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Handschriftensammlung, I.N. 208.457]

7. Oktober, Theater an der Wien: Nestroy tritt „nach langer und bedeutender Krankheit“ (Der Humorist, 9. Oktober) in Affe und Bräutigam auf. „Donnernder, endloser Beifall erdröhnte, als der Liebling des Publikums die Breter betrat“ (Tuvora, Theaterzeitung, 9. Oktober).

15. Oktober: „Lieber Müller! / Unseren mündlichen Übereinkommen gemäß haben Sie mir die zur Posse ,Das Mädl aus der Vorstadt‘ zu componierende Musick gegen ein Honorar von 80 fl. C.M. als rechtsmäßiges Eigenthum überlassen, welches Honorar ich mich am Tage nach der ersten Vorstellung obbenannter Posse Ihnen auszubezahlen habe, / Ihr bereitwilliger / J. Nestroy“ (HKA Briefe, S. 52 [Nr. 19])

23. Oktober, Theater an der Wien: Premiere von Friedrich Kaisers Die Zigeuner in der Steinmetzwerkstatt: Nestroy spielt „mit gewohnter Virtuosität, aber leider! noch immer nicht ohne die Anmahnungen einer schweren, kaum überstandenen Krankheit“ (Tuvora, Theaterzeitung, 25. Oktober). – Das Stück wird 20mal en suite aufgeführt (23. Oktober bis 12. November).

16. November, Brief an Straube: „In Betreff der besprochenen biographischen Notizen, habe ich die Ehre Ihnen eine bereits im Jahr [1]835 erschienene Skizze zu übersenden (Mittheilungen aus Wien von Pietznigg.) Dieselbe geht bis nach Erscheinung von ,Zu ebener Erde‘ etc.; die darauffolgenden Stücke kamen in folgender Ordnung: […]“ (HKA Briefe, S. 53 [Nr. 20]).

24. November, Theater an der Wien: Premiere der Posse Das Mädl aus der Vorstadt oder Ehrlich währt am längsten: „Das Publikum quittirte den Empfang eines jeden trefflichen Einfalls, dessen Zahl Legion war, mit einem Sturm von Applaus, und stellte dem geistvollen Manne auf einem Stempelbogen unschätzbarer Huld die lauteste Anerkennung über seine herrlichen Geistesgaben aus. Man rief ihn nicht; man jubelte ihn hervor, nach jeder Hauptscene, jedem Actschluße, zwei – drei – vier Mal bei jedem Anlasse“ (Theaterzeitung, 26. November).

25. November bis 9. Dezember, Theater an der Wien: Das Mädl aus der Vorstadt (Schnoferl), d. i. 16mal en suite, dann wieder am 11.–13., 15. und 17. Dezember.

18. Dezember, Theater an der Wien: Uraufführung des 1831 entstandenen Dramas Prinz Friedrich von Corsica (ohne Nestroys Mitwirkung).

28. Dezember: Brief an Gustav Frank über die Aufführung von Das Mädl aus der Vorstadt in Pest und Ofen (HKA Briefe, S. 55 f. [Nr. 22]); am selben Abend, Theater an der Wien: Glück, Mißbrauch und Rückkehr (Blasius Rohr).

31. Dezember, Theater an der Wien: Premiere von Friedrich Kaisers Charakterbild Geld!.

 

 

Literatur: Necker, Moritz: Johann Nestroy. Eine biographische-kritische Skizze. In: CG XII [Stuttgart: Bonz 1891], 93–218.
Rommel, Otto: Johann Nestroy. Ein Beitrag zur Geschichte der Wiener Volkskomödie [= SW XV], Wien: Schroll 1930.
Basil, Otto: Johann Nestroy in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1967.
Kahl, Kurt: Johann Nestroy oder Der wienerische Shakespeare. Wien: Molden 1970.
Mautner, Franz H.: Nestroy. Heidelberg: Stiehm 1974.
Ahrens, Helmut: Bis zum Lorbeer versteig’ ich mich nicht. Johann Nestroy – sein Leben. Frankfurt a.M.: Societäts-Verlag 1982.
Böhm, Hermann: ,Zwischen Brünn, Graz und Preßburg: Johann Nestroys Jahre in der österreichischen Theater-provinz. Aspekte und Probleme einer möglichen Nestroy-Biographie‘, in: Nestroyana 20 (2000), S. 113–133; „Bei die Zeitverhältnisse noch solche Privatverhältnisse“: Nestroys Alltag und dessen Dokumentation (Wiener Vorlesungen: Konversatorien und Studien, 10), Wien: WUV-Universitätsverlag 2001, S. 46–81.
Schübler, Walter: Nestroy. Eine Biographie in 30 Szenen, Salzburg, Wien: Residenz 2001. [Rez.: Hermann Böhm, Nestroyana 21/3–4 (2001), S. 174–176.]
Wagner, Renate: Nestroy zum Nachschlagen. Sein Leben – Sein Werk – Seine Zeit. Graz, Wien: Styria 2001. [Rez.: Ulrike Tanzer, Nestroyana 22/1–2 (2002), S. 71 f.]
Zeman, Herbert: Johann Nepomuk Nestroy. Wien: Holzhausen 2001.

 

 

 

 

 

 

Urs Helmensdorfer
,Nachdrucker‘ Nestroy – Das Patent vom 19. Oktober 1846

Unter Nachdruck verstehen wir heute die bloß kopierende Vervielfältigung einer schon veröffentlichten Vorlage ohne Erlaubnis und Abgeltung der Rechtsinhaber, also den Nachdruck im wörtlichen Sinn. Im Deutschen Bund hieß jede Nachbildung, jede Benutzung und Bearbeitung einer Vorlage ,Nachdruck‘. So galten als ,Nachdruck‘ auch die Übersetzung in eine andere Sprache, die Dramatisierung eines Romans, die Parodie eines Trauerspiels, ebenso die Aufführung eines Theaterstücks. Welche Nachbildung erlaubt, welche verboten ist, bestimmte wie heute das Gesetz – sofern und sobald es ein solches gab. Nachdrucksgesetz hiess, was wir heute Urheberrecht nennen.

Das Referat stellt das in der Literatur- wie Theaterwissenschaft kaum bekannte erste österreichische Autorrecht vor: die Ideen, die ihm zu Grunde liegen, die praktische Bedeutung seiner Paragraphen und die prinzipiellen Unterschiede zum heutigen Recht. Seit 1815 geplant, dauerte es einunddreißig Jahre, bis es von Kaiser Ferdinand I. kundgemacht und seine unverzügliche Anwendung befohlen werden konnte: Allerhöchstes Patent vom 19. Oktober 1846 zum Schutze des literarischen und artistischen Eigenthumes gegen unbefugte Veröffentlichung, Nachdruck und Nachbildung. Es gilt als die bedeutendste legislative Leistung Österreichs zwischen 1811, als das Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch eingeführt wurde, und 1848. Es blieb, nur wenig retuschiert, bis 1895 in Kraft.

Das neue Gesetz war keine blosse Theorie, auch kein „Weanerg’setz“, das niemand ernst genommen hätte. Es hat auf Schritt und Tritt in den Theater-Alltag eingegriffen. Nestroy, der studierte Jurist, kannte es genau. Beispiele illustrieren, wie er die Vorlagen nachdruckt, seine Possen verwertet und welchen Nutzen die Nachkommen daraus ziehen. – Kopien des Patents sind zum Mitnehmen aufgelegt.

 

Burkhard Meyer-Sickendiek:
Nestroy und der literarische Sarkasmus

Johann Nestroy ist einer der wenigen österreichischen Satiriker, dessen Witz weniger als „Komik der Herabsetzung“, denn vielmehr als „Komik der Heraufsetzung“ (Bernhard Greiner) begriffen werden muß. Insofern bewegt sich Nestroy stets am Rande der Satire, da eine heraufsetzende Komik nur bedingt dem Konzept der Satire entspricht. Ist doch die Heraufsetzung des belachten Gegenstandes ein Kennzeichen des Humors, der sich nach Helmut Arntzen von der Satire kategorial unterscheidet: im Humor wird eine verkehrte Welt bejaht, in der Satire wird diese verneint; der Humor ist also versöhnlich, die Satire dagegen unversöhnlich. Nestroy als Satiriker zu lesen, heißt demnach, die versöhnlichen Aspekte seines Witzes – im Sinne des Begriffes Humor – zu bezweifeln. Insofern verwundert es nicht, daß Karl Kraus in seinem Versuch über Nestroy als Satiriker den Begriff des Humor ersetzt durch weitaus aggressivere und zynischere Konzepte, die etwa in der bekannten Wendung „Dynamit in Watte“ zum Ausdruck kommen. Vergegenwärtigt man sich die daraus resultierende Diskussion um das „richtige Nestroybild“ – „Wiener Volkskomiker oder deutscher Satiriker?“ –, welche in kritischer Auseinandersetzung mit der Nestroy-Deutung Karl Kraus’ insbesondere in Friedrich Sengles „Biedermeierzeit“ geführt worden ist, so wird zweierlei deutlich: die Identifikation Nestroys als eines kritischen Satirikers im Sinne Karl Kraus’ geht zu weit; die Identifikation Nestroys als geselligen Humoristen geht nicht weit genug.

Der Vortrag unternimmt den Versuch, dieses Paradox zu umgehen, in dem er die Idee des „geselligen Humors“ nicht aufs Neue im Wiener Volksstück, sondern in der Tradition der klassischen Satire des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts nachzuweisen versucht. Dabei soll der Bezug zu dem von John Dryden im „discourse concerning the origin and process of satire“ (1693) ausgeführten und später von Shaftesbury erweiterten Begriff des „fine raillery“ hergestellt werden, der eben jene Momente geselligen Witzes bezeichnet, wie diese bei Nestroy zu finden sind. „Raillery“ bezeichnet eine Technik des feinen Stichelns, die ihren Ursprung in der höfischen und zugleich korrigierenden Konversation hat, in der die Gesellschaft ihre Normen durchsetzt und bestätigt, ohne ihr „Anderes“ – den satirischen Gegenstand – durch das Lachen zu vernichten. Dabei scheint es schwierig, diesen ursprünglich französischen Ausdruck adäquat ins Deutsche zu übersetzen, da die deutschen Wörter verlachen oder verspotten ein Element von Verachtung, jedenfalls aber eine Ungleichheit zwischen dem aktiven und überlegenen Spötter und dem passiven und unterlegenen Verspotteten konnotieren. Als Ausdruck einer von Wohlwollen und Urbanität geprägten Konversationskultur gleicht der Begriff „Raillery“ vielmehr jener vom Schnoferl aus Nestroys „Das Mädl aus der Vorstadt“ beschriebenen „ruhigen Sarkasmus-Languissance, wo man über alles räsoniert und andererseits wieder alles akzeptabel findet.“ Übersetzen läßt sich „Raillery“ also wohl am ehesten mit „Sarkasmus“.

Sarkastisch ist Nestroys Satire im Sinne dieser höfischen Witzkultur der klassischen Satire, welche allerdings von der modernen Satire Karl Krausscher Prägung zu unterscheiden ist. Denn deren zentrale Maxime – „to spare the Person but expose the Vices“ – findet in der Satire-Theorie Karl Kraus’ keinerlei Berücksichtigung; vielmehr wird nun die höhnische Diffamierung öffentlicher Personen – also die „Komik der Herabsetzung“ – zu einem zentralen Thema. Mit Karl Kraus setzt also eine Entwicklung in der modernen österreichischen Satire ein, die paradox ist: Nimmt sie doch auf Nestroy affirmativ Bezug, ohne dessen Witz im Sinne des erläuterten Konzepts des „fine raillery“ wirklich gerecht zu werden.

Anhand einer erneuten Lektüre der Posse „Höllenangst“ soll gezeigt werden, inwiefern sich Nestroy als sarkastischer Satiriker lesen läßt, wenn man den Begriff „Sarkasmus“ im Sinne der klassischen Satire begreift. Mit Blick auf Franz H. Mautners Lektüre des Stückes soll vergleichend gezeigt werden, welche Schwierigkeiten entstehen, wenn man den Sarkasmus dieses Stückes vor dem Hintergrund der modernen Satiretheorie Karl Kraus’ liest. Auf diese Weise lassen sich zweierlei Bereiche wechselseitig differenzieren: die Vorstellung vom Satiriker Nestroy einerseits, die Idee eines literarischen Sarkasmus und dessen verschiedenartigen Ausprägungen andererseits.

 

Walter Pape
„Überall mehr Zufall als Schicksal zu finden“: Tragödie und Possenstruktur am Beispiel von Schiller und Nestroy

In den Diskussionen um eine Poetik der Komödie spielt seit den Arbeiten von Helmut Arntzen und Rainer Warning das Verhältnis des Komischen (und seiner Theorien), der komischen Handlung(en) und der „anderweitigen Komödienhand-lung“ die zentrale Rolle. Dabei wurde auch die gattungsspezifische Selbständigkeit der Komödienhandlung in Zweifel gezogen. Neben der von Warning vorgeschlagenen strukturellen Analyse steht in der neueren Forschung – wie jüngst von Ralf Simon vorgetragen – eine Typologie von komödienspezifischen „Metahandlungen“, bei der die Typologie aus dem Verhältnis von „Welt versus privatem Raum“ hergeleitet und die komödienspezifische Handlungsstruktur als ein „Spiel im Spiel“ gesehen wird, das den Fehlbaren ,kuriert‘. Die meisten Komödientheorien (bis auf die Warnings) bewegen sich auf dem Höhenkamm der Komödienliteratur und zitieren immer wieder die gleichen Beispiele.

Es geht beim meinem Vortrag um die Vorläufer der Possendramaturgie, aber nicht nur im Hinblick auf die unmittelbaren Possen-Vorläufer, sondern auch hin-sichtlich der dramaturgischen Muster, wie sie bürgerliches Trauerspiel und Tragö-die bieten, konkret in diesem Fall: Ich will versuchen durch eine Konfrontation von mit Schillers die gängigen Traditionslinie aufbrechen.

„[…] das tyrannisch ernste Schicksal kommt mir in der populären Harlekins-Maske des Zufalls entgegen und reicht mir eine Art Versöhnungshand. Wir wollen seh’n, ob’s keine Fopperei is.“ Schlichts Worte kurz vor dem wohl glücklich zu nennenden Ende in Nestroys Mein Freund bringen das Verhältnis von Komödienpoetik zur Tragödienpoetik anschaulich auf den Punkt. Die Verkleidung des Schicksals weist auch darauf hin, daß dramatische Ereignisse von den Akteuren unterschiedlich wahrgenommen werden. Aus den unterschiedlichen Figuren-Perspektiven auf die Handlungsstruktur, der Handlungsverknüpfung selbst und dem (glücklichen) Ende des Stücks läßt sich das dem Stück zugrundeliegende Menschenbild erkennen, nämlich das ethische Problem der „Zurechenbarkeit von Handlungen und in Folge davon von Belohnung und Bestrafung“ sowie das theologische oder philosophische Problem des unentrinnbaren Fatums oder der Vorsehung. Hugo Aust hat vor anderthalb Jahrzehnten die „Possendramaturgie des Paares“ in diesem Stück und im Kontext des Nestroyschen Œuvres untersucht und dabei komödienimmanent auch dem Verhältnis von Zufall und Schicksal einige Aufmerksamkeit gewidmet. Ich will demgegenüber die Worte Schlichts als poetologischen Kommentar zu einem possenübergreifenden dramaturgischen Problem lesen und in den Kontext der aktuellen Diskussion um eine Theorie der Komödie stellen. Dazu werde ich zunächst diese Worte analysieren, dann vier Geschichten erzählen und schließlich die Geschichten „auf ihre Funktion als Ermöglichungsstruktur“ (Rainer Warning) für Komödie oder Tragödie befragen“.

 

Hanna Zimmermann
Travestie und Geschlechterrollen bei Johann Nestroy

1. Einleitung: Der Wechsel der Geschlechterrollen auf der Bühne ist ein beliebtes Motiv, das sich nicht nur bei Nestroy finden läßt. Die Travestie des Mannes zur Frau ist vor allem komisch, die Travestie der Frau zum Mann ist weniger komisch, als erotisch.

Die wichtigsten Voraussetzungen für ein gelungene (weil unterhaltsame Travestie):
– Zeitliche und räumliche Begrenzung
– Handlungsimmanente rational-pragmatische Notwendigkeit
– Der Zuschauer muß immer wissen, welches wahre Geschlecht der Akteur hat, muß dessen Travestie innerhalb der Handlung mitverfolgen können.

2. Die Frau als Mann: „Hosenrolle“ dient vor allem der erotischen Attraktion, da die sonst so wohlverhüllten Beine der Damen zur Schau gestellt werden. Beispiel hierfür gibt es auch bei Nestroy: „Freiheit in Krähwinkel“, „Zwölf Mädchen in Uniform“. Die „klassischen“ Hosenrollen sind Jünglinge: Pagen, Militärs, Studenten. Hierbei wird gerne auf das „weibliche Ensemble“ zurückgegriffen (v.a. in der Operette): hier werden in Massenszenen Frauengruppen als Soldaten, Bediente etc. auf die Bühne gebracht, wobei vor allem der visuelle und erotische Effekt im Vordergrund steht. In der Literatur steht vor allem das Motiv im Vordergrund, das die Frau dazu bringt, sich als Mann zu verkleiden. Sehr beliebt hier: Treue zu einem Mann (vgl. „Gustav Adolphs Page“), weil sich im Treuemotiv die weiblichen Tugenden Fürsorge Hingabe und Selbstlosigkeit spiegeln. Die Frau in Hosen wirkt nicht komisch, da sie sich sozial erhöht und damit an Stärke gewinnt, dadurch überwiegt eher die Faszination des Undenkbaren, bzw. das erotische Moment. Heutzutage ist ein Rückgang der weiblich-männlichen Travestie zu verzeichnen.

3. Der Mann als Frau: Der Mann in Frauenkleidern ist bis heute ein Garant für Komik. Er wirkt im Gegensatz zur Frau mehr komisch als erotisch. Er erniedrigt sich sozial, indem er die Insignien des traditionell schwächeren Geschlechtes anlegt, und in in diesem Verlust an Macht reizt er zum Lachen. Das Lachen schafft jedoch auch Distanz: die Möglichkeit eines weiblichen Mannes wird „ver-lacht“ (Verdrängungsmoment im Lachen). Es wird in der Literatur darauf hingewiesen, daß bei der Travestie des Mannes zur Frau nicht „eine Frau“, sondern „die Idee einer mit Weiblichkeit assoziierten Frau“ Ziel der Darstellung ist: Ein Stereotyp von Weiblichkeit wird dargestellt als Folge eines als männlich identifizierten Publikums.

Besonders bemerkenswert ist, daß im Gegensatz zur Frau in Männerkleidung, der Mann in Frauenkleidung sich auch heute noch ungebrochener Beliebtheit erfreut. Während sich die Insignien der Männlichkeit nach und nach zu geschlechtsneutralen Zeichen gewandelt haben, sind die Insignien der Weiblichkeit dieselben geblieben. Dadurch wird über Wilders „Manche mögen´s heiß“ ebenso gelacht wie über Nestroys Auftritt im Tütü in „Nagerl und Handschuh“.

4. Ein Nestroy in Frauenkleidern: „Zeitvertreib“ (1858) – Nestroys Stück „Zeitvertreib“ erfüllt alle Voraussetzungen einer komischen Travestie: rational-pragmatische Notwendigkeit, zeitliche Begrenzung und das stete Wissen des Publikums um die Travestie sind gegeben. Die Handlung: Weil er zum Hausarrest verurteilt ist, muß sich der Lebemann Feldern zusammen mit seinem Diener Bumml einen Weg einfallen lassen, wie sie dennoch zu galanten Abenteuern kommen können: Sie schreiben Stellen für Näherinnen aus, um so – selbst als Frauen verkleidet – die jungen Mädchen in ihre Wohnung zu locken.

Während Feldern sich in den Frauenkleidern überhaupt nicht wohlfühlt, identifiziert sich Bumml problemlos mit seiner Rolle als „Rosa“: Er wird eitel, achtet auf „honettes“ Aussehen und läßt sich von Stockmauer (der Feldern und ihn zum Hausarrest verurteilen ließ) den Hof machen. Dabei macht er sich (stereo-)typisch weibliche Eigenheiten, wie Eitelkeit und sexuelle Attraktion zu eigen und zu nutze.

5. männlich und weiblich bei Nestroy: „Die verhängnisvolle Faschingsnacht“ (1839) – In diesem Stück geht es nicht um den kleidungsspezifischen Geschlechtertausch, sondern um einen sozialen Rollentausch. Zeitliche Begrenzung und rational-pragmatische Begründungen sind nicht gegeben: Es wird ernst. Philipp und Helene führen eine Ehe, in der sie die Zügel fest in der Hand hält und er sich befehligen läßt. Sie wird als schlechter Charakter dargestellt und gesteht – am Schluß geläutert – ihrem Mann die Macht im Haus zu. Hier zeigt sich, daß wirklich nur der quasi-unfreiwillige Kleidertausch das Potential zur Komödie hat: Findet ein tatsächlicher Rollentausch der Geschlechter statt, so wibrd dies als verwerflich dargestellt. In der Possenrealität Nestroys wird die männliche Frau Helene ebenso geläutert wie der weibliche Mann Philipp.

Literatur zum Thema: Benedek, Susanne/Binder, Adolphe: Von tanzenden Kleidern und sprechenden Leibern. Crossdressing als Auflösung der Geschlechterpolarität?, Dortmund: Edition Ebersbach 1996. Holtmont, Alfred: Die Hosenrolle. Variationen über das Thema das Weib als Mann, München: Meyer & Jessen Verlag 1925. Lehnert, Gertrud: Maskeraden und Metamorphosen. Als Männer verkleidete Frauen in der Literatur, Würzburg: Königshausen und Neumann 1994. Linhardt, Marion: Inszenierung der Frau – Frau in der Inszenierung. Operette in Wien zwischen 1865 und 1900, Tutzing: Hans Schneider 1997.

 

Roswitha Box
Hanswurst als Familienvater: Nestroys Gundlhuber in Eine Wohnung ist zu vermiethen oder Der mißlungene Karneval

Das Augenmerk der vorliegenden Analyse ist auf die Vaterfigur des Herrn von Gundlhuber in Nestroys Posse Eine Wohnung ist zu vermiethen… gerichtet. Zwei Tatsachen heben diese Figur und damit das Stück aus dem vielfältigen Werk des Autors hervor. An erster Stelle ist die ausdrückliche Ablehnung des zeitgenössischen Publikums, die nur wenigen von Nestroys Werken zu Teil wurde. An zweiter Stelle, und schon nicht mehr so augenfällig, steht die Konstruktion dieser Figur welche sowohl für eine textuell formelle wie auch eine gesellschaftskritischen Betrachtung eine außergewöhnliche Perspektive gewährt.

Die zentrale komische Figur des Familienvaters Gundlhuber, weil sie anstatt einer untergeordneten, eine sozial dominante Position einnimmt, unterscheidet sich grundlegend von dem hergebrachten Vorbild des Hanswurst und in dieser Beziehung auch von den anderen Narrenfiguren Nestroys. Das Verhalten dieser Figur, welches sie mit den Merkmalen des Hanswurst kennzeichnet wird gerade von der sozial dominanten Position, nämlich der tonangebenden Rolle in der Familienhierarchie und der materiell gesicherten Situation, ermöglicht. Da die Rolle des Hanswurst, der Tradition des Karnevals nach (Bachtin), nicht von Repräsentanten der Macht eingenommen wird, entsteht in der Figur des Gundlhuber ein interner, grundsätzlicher Widerspruch. Die hybride Konstruktion der Figur, die aus der Kombination von Hanswurst und Familienvater entsteht, löst einen Dialog oppositioneller, ideologischer Diskurse aus (Bachtin), der die Verhältnisse des gesellschaftlichen Kontextes erhellt.

Die auf den Kopf gestellte Welt, – Gundlhuber orchestriert Chaos und Konsternation in seiner Umgebung ohne sich dessen bewußt zu werden, – hat jedoch nicht das, für die vom Karneval erwartete und die daraus resultierende Erleichterung notwendige, absehbare Ende. Außerdem erweist sich der Besitz von Macht durchaus vereinbar mit den Ambitionen des Hanswurst – Gundlhuber geht seinen traditionellen Lastern ungehindert und ungestraft nach.

Auch in seiner Rolle als Familienvater verhält Gundlhuber sich instinktiv wie es von einem Hanswurst zu erwarten ist. Besonders in Bezug auf seine Kinder handelt er ihren Bedürfnissen und nicht den ethischen Vorstellungen der Gesellschaft entsprechend. Trotzdem betont er seine Rolle als Familienvater als wolle er seine Existenz in diesen Kreisen durch die sozial bedeutungsvolle Position rechtfertigen. Gundlhubers übertriebenes Beharren auf Zugehörigkeit zu dem wohlhabenden Bürgertum kann darauf zurückgeführt werden, daß er offensichtlich nicht schon immer dieser Schichte der Gesellschaft angehört hat. Schon die mehrmalige Wiederholung von Phrasen in einem pseudo-gehobenen Stil, ein bewährtes Grundrezept der Komik, weist auf eine unterschwellige Unsicherheit in der Figur auf. Auch anderes Verhalten der Figur, welches gleichzeitig komischen Effekt erzeugt, wie zum Beispiel Gundlhubers Geiz und seine linguistische Verwandtschaft zu dem Hausmeister Cajetan Balsam bezeugen die Herkunft ,von unten‘.

Die Karikatur des Partriarchats wird hier, so wie es Brauch ist, durch einen Aussenseiter, einen Eindringling vollzogen, der Dank seiner hanswurstischen sozialen Naivität die Gepflogenheiten dieser Gesellschaft bloslegt die ihren eigenen moralischen Grundsätzen widersprechen, der aber als ein der Gesellschaft Angehöriger nicht verlacht oder bestraft werden kann. Es ist nicht weiter erstaunlich, daß das zeitgenössische Publikum ihn unerträglich fand, anstatt einem moralischen idealen Bild wurde es mit einer Gleichsetzung von Macht und Status mit Willkür konfrontiert, die der sozialen, wie politischen, ökonomischen Realität seiner Existenz unter dem patriarchalisch-absolutistischen System und der dazugehörigen Gesellschaftsstruktur entsprach.

 

Helmut Herles
Vent du Soir, Häuptling Abendwind und Volker Dietzels Sonnenbrand der Ölige

In meinem Vortrag am Sonntagabend während unserer diesjährigen Nestroy-Gespräche möchte ich folgende Punkte herausarbeiten.

Erstens: Der Weg vom Vent du soir ou L’ horrible festin des Phillipe Gille mit der Musik von Jacques Offenbach zu Nestroys „Häuptling Abendwind oder das Gräuliche Festmahl“, wobei ich die Unterschiede vor allem in der Sprache Nestroys und in der „Politisierung“ des Stoffes sehe. Nestroy hat auch hier nicht einfach „übersetzt“, sondern etwas unverwechselbar Nestroyanisches geschaffen. Beispielsweise im Dialog der beiden wilden Staatsmänner, die miteinander wie heutige Politiker konferieren, als sei nichts gewesen. „Wenn einen keiner mehr versteht, dann ist das national.“ Nestroy hatte übrigens schon am 15. Mai 1861 in einem Brief an Grois um Zusendung des französischen Stücks gebeten. Also hatte er sich dafür schon vor der Aufführung des L’horrible festin durch Offenbachs Bouffes Parisiens am 22. Juni 1861 in Wien für das Stück interessiert.

Zweitens: Wirkungsgeschichte. Wie lebendig Nestroys Werk ist, zeige ich am Beispiel des Hallenser Volker Dietzel, der mit seinem jungen Theater Apron den Nestroy in ein heutiges Musical übersetzt, mit anderen Namen und mehr Figuren, dem Zeitgeist entsprechend kannibalischer und sexistischer. Nun heißt der Partner des Häuptlings Abendwind nicht mehr Biberhahn der Heftige sondern Sonnenbrand der Ölige. Nestroys Koch HoGu tritt nun als Chinese auf und bekommt eine entzückende Köchin zur Seite, die auf den schönen Namen Ragu hört. Wie schon im 19. Jahrhundert erweist sich abermals Berlin (überhaupt der Norden) als gutes Pflaster für Nestroy. Dietzel gastierte mit seinem Nestroy-Musical (mit der Musik des jungen Leipziger Komponisten Paul Kaufmann) in der Spandauer Freilichtbühne neben der Festung, Die Uraufführung war in Halle.

Dass man die Sprache Nestroys, das Nestroyanische in seiner spezifischen Schattierung zwischen deutscher Hochsprache und einem an die unterschiedlichen Melodien des Wienerischen angelehnten Kunstsprache durchaus spielen kann, ohne Wienerisch zu „können“, hat nicht nur Dietzels Inszenierung gezeigt, sondern im Mal 2002 eine werkgetreue Aufführung des Abendwindes durch die kleine private „Stadtoper Berlin“ in einer Schule in Kreuzberg, unter Einbeziehung des Publikums als „Wilde“ (Wir trugen alle einen Blumenkranz..) Nestroy lebt, nicht nur in Wien und in unserer Gesellschaft.

 

Peter Schweinhardt
Nestroy und die Remigranten – die musikalische „Höllenangst“-Fassung des Neuen Theaters in der Scala (Wien, 1948)

Das Wiener Neue Theater in der Scala eröffnete im September 1948 mit Johann Nestroys Höllenangst. Gemäß ihrer künstlerischen und kulturpolitischen Überzeugung und getragen von Aufbau-Idealismus wollten die Gründer des Theaters, im Wesentlichen kommunistische österreichische Remigranten, ein traditionsbewusstes und zugleich modernes, Stellung beziehendes Theater verwirklichen. Schon Auswahl und Gestaltung des Eröffnungsstückes sollten ein Zeichen für den Neuanfang setzen: Mit der Höllenangst präsentierte man eine politische, auch frisch politisierbare Posse, die zudem seit Nestroys wenigen eigenen Aufführungen nicht mehr gespielt worden war.

Ein Coup gelang der Scala mit dem Engagement Hanns Eislers für die Neukomposition der Musik. Eisler, der gerade von amerikanischen Kommunistenjägern aus seinem kalifornischen Exil in die Heimat verjagt worden war, verfertigte zu dem Stück eine seiner umfänglichsten und wichtigsten Schauspielpartituren. Die schiere Musikmenge und der von Nestroy angeregte musiktheatralische Zugriff ließen seine Partitur beinahe zu einem – wie er selbst gelegentlich sagte – „Nestroy-Singspiel“ geraten, dessen weitere Ausarbeitung, Durchmusikalisierung und Aufführung an der Berliner Staatsoper er sogar kurzzeitig erwog.

Vor dem Hintergrund künstlerischer und politischer Nestroy-Rezeption ist die Scala-Aufführung von Höllenangst also zum einen hinsichtlich ihrer singspielhaften Ausgestaltung von Interesse; zum anderen aber lohnt eine Untersuchung des maßgeblich von Karl Paryla bearbeiteten und zum Teil neu geschriebenen Stück-Texts. Die Veränderungen – die teilweise auch aus musikalischen Erwägungen vorgenommen wurden – berühren sowohl die dramaturgische Struktur als auch viele inhaltliche Details des Texts. Schwierige Zeitumstände und die unmittelbare Erfahrungswelt der in ihrer alten Heimat schlecht gelittenen, verzweifelt optimistischen Remigranten haben ihren Niederschlag in einer originellen künstlerischen Auseinandersetzung gefunden, die nebenbei in einer Neufassung der nach 100 Jahren recycelten Nestroy-Vorlage resultierte.

 

Johann Dvorak
Die Nestroy-Rezeption in der Frankfurter Schule (insbesondere bei Theodor W. Adorno) und ihre Bedeutung für ästhetische Theorien

Der Name Nestroy taucht bei Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Siegfried Kracauer und anderen der Frankfurter Schule nahe Stehenden immer wieder auf; und zwar an Stellen, die der Belegung oder Illustration von ästhetischen Auffassungen und/oder der Vergewisserung ästhetischer Theorie im Zusammenhang mit ,hoher‘ und ,niederer‘ Kunst, Kunst für oder ohne die Massen und ähnlichem dienen. Dieser – gewiß fragmentarischen – Rezeption von Nestroys Werken in den Schriften der verschiedenen Vertreter der Frankfurter Schule soll nachgegangen, die diversen Erwähnungen sollen möglichst vollständig dokumentiert und in ihrer Bedeutung für die ästhetische Theorie erläutert werden.

 

Mathias Schleifer
Nach 90 Jahren: Nestroy und die „Nachwelt“

Karl Kraus war immer auf vielfältige Weise – teils subtil, teils weniger subtil – bemüht, die einzelnen Teile seines Werks der „Fackel“-Zeit untereinander und mit der außerliterarischen Realität zu verknüpfen. Zu den weniger elitären Techniken gehört seine Neigung, der Faszination durch runde und halbrunde Zahlen zu opfern, ob im 400. Heft der „Fackel“ oder in den großen Selbstdarstellungen in Gedichtform, „Nach zwanzig Jahren“ und „Nach dreißig Jahren“. So scheint es gerechtfertigt, „Nestroy und die Nachwelt“ neunzig Jahre nach seiner Entstehung anlässlich von Nestroys 50.Todestag auf seine mögliche Bedeutung für ein heutiges und morgiges Nestroybild hin zu befragen unter Berücksichtigung anderer, früherer und späterer Äußerungen von Kraus zu Nestroy. Erschöpft sie sich im historischen Verdienst, durch die entschiedene Etikettierung Nestroys als „Satiriker“ der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Nestroy die Richtung gewiesen zu haben, in der sie längst (großenteils) ohne unmittelbaren Bezug auf Kraus weitergegangen ist?

Dem Referenten stellt sich das Werk von Kraus als ein zwar nicht „systematischer“, aber konsequenter Versuch einer „Kritik des öffentlichen Sprechens“ dar, dessen Bereiche und Gestaltungsformen in Abgrenzung zu privatem und literarisch-künstlerisch-individuellem Sprechen festgelegt werden, die Kraussche Satire gilt (sagen wir: als „Meta-Satire“) illegitimen Grenzüberschreitungen, etwa durch lyrische Metaphorik in politischer Publizistik, die auf Privatklatsch zurückgreift. Mit einem solchen Verständnis wird Kraus, aller unbestrittenen Zeitgebundenheit von Details ungeachtet, zu unserem Zeitgenossen, wie die mediale Repräsentation etwa von Golfkrieg und 11.9.2001 belegen kann. Freilich wird so, wie in der impressionistischen Kunstprosa der Nestroyrede, auch eine Kritik des wissenschaftlichen Sprechens angeregt, da ein ethisches Interesse neben bzw. vor das an objektiver historischer Erkenntnis tritt. Wie Kraus Nestroy in „verwandtschaftliche“ Beziehung zu Strindberg, Wedekind, Shakespeare, Offenbach, Goethe, zu sich selbst setzt, hat ja mit „gesicherten Fakten“ wenig zu tun, ebenso wie die Konstruktion der Antithese Nestroy – Heine. Ob sie „im Kern“ dennoch als „wahr“ bezeichnet werden kann, bleibt ebenso zu diskutieren wie die damit verbundene Eingangsfrage: ob Nestroy in irgendeinem Sinn der heute noch so dringend notwendige Satiriker der anderen, der Krausschen Art ist. Der Hinweis auf die zentrale Rolle der Sprache in seinen Stücken genügt ebenso wenig wie bei Horv’ath u.a., um eine engere Affinität zur skizzierten Sprachkritik von Kraus behaupten zu können. Zu fragen wäre insbesondere, ob sich bei Nestroy ein Verhältnis von (affirmierender) „Lyrik“ und (negierender) „Satire“ erkennen lässt, das dem impliziten „System“ von Kraus entspricht. Eine Abschweifung gilt hier der Rolle, die Raimund in Kraus‘ geistiger Weit spielt. Schließlich ist nach den Konsequenzen des Nestroybilds von Kraus für die Theaterpraxis zu fragen, wobei seine eigenen Vorlesungen den Ausgangspunkt bilden. Ist „Kraus im Spiel“, wenn Kritiker aktueller Nestroyaufführungen lobend erwähnen, den Zuschauern sei das Lachen im Hals stecken geblieben? Gibt es eine Chance, Nestroy in der heutigen „Medienlandschaft“, die vom Pathos der Aufklärung wenig mehr weiß, so zu etablieren, dass das Publikum auf eine Nestroys „metaphysischem Lachen“ adäquate Weise reagiert? ist die Skepsis des Referenten, nach knapper Prüfung einiger Möglichkeiten, das letzte Wort?

 

Gabriella Rovagnati
Launen des Einfalls: Die italienischen Übersetzungen von Nestroys Zu ebener Erde und erster Stock

Einer der Hauptgründe, warum Nestroy außerhalb des deutschen Sprachraums noch immer auf den Ruhm wartet, der ihm gebührt, ist der Mangel an angemessenen Übersetzungen seiner Stücke. Nicht gerade zahlreich sind auch in Italien die Versuche gewesen, die Bühnenwerke Nestroys durch Übertragungen zu einzuführen. Das Unterfangen von Italo Alighiero Chiusano, der 1974 einen Band mit sechs der bekanntesten Titel des Nestroyschen Repertoires herausgab, blieb leider fast ohne Echo. Das von Chiusano besorgte Buch, das längst vergriffen ist, bewies, daß die Stunde Nestroys in Italien noch nicht gekommen war, obwohl sein Witz und seine Komik, die nicht nur sofort an den Römer Plautus denken lassen, sondern auch an die Grobheiten eines Ruzzante, an die „Mandragola“ von Machiavelli und an die Commedia dell´arte erinnern, ein wälsches Publikum durchaus ansprechen sollten.

Die Schwierigkeit, Nestroy jenseits der Alpen bekannt zu machen, liegt nicht in dem Stoff seiner Possen und auch nicht in der Art, wie er seine Sujets behandelt, denn sein Stil weist große Verwandtschaft mit einer soliden italienischen Theatertradition auf. Das Problem liegt anderswo, und zwar einerseits in der eigentümlichen Sprache Nestroys, die mit ihren Neologismen und ihren lexikalischen wie semantischen Purzelbäumen den Übersetzer zu wahrhaft akrobatischen Übungen zwingt; andererseits in dem lokalen Kolorit bestimmter Anspielungen, die historisch wie geographisch bedingt sind und deren Wiedergabe unzulänglich erscheint, welche Lösungen auch immer sich der Übersetzer hat einfallen lassen.

Solche Schwierigkeiten werden hier anhand von zwei geschichtlich weit entfernt voneinander entstandenen Übersetzungen derselben Posse Nestroys dargestellt: Zu ebener Erde und erster Stock. Das ist das einzige Werk dieses Autors, von dem zwei verschiedene italienische Versionen existieren. Die erste stammt aus dem Jahre 1842, wurde also verfaßt, als Nestroy den Höhepunkt seines Erfolgs als Schauspieler und als Stückeschreiber erreicht hatte; die zweite ist in dem schon genannten, 1974 von Chiusano herausgegebnen Buch enthalten. Der Vergleich dieser zwei in mancher Hinsicht recht unterschiedlichen übersetzerischen Leistungen erlaubt nicht nur allgemeine Fragen dieser besonderen literarischen Vermittlungstätigkeit zu erörtern; er bietet auch die Möglichkeit, die spezifischen Tücken zu illustrieren, mit denen sich der Nestroy-Übersetzer auseinanderzusetzten hat.

Die Intention der Parallellektüre ist nicht die einer sterilen Kritik an schon vorhandenen Arbeiten anderer – diese Übung sei gern den Theoretikern der Translation Studies überlassen –; das Vorhaben solcher vergleichenden Analyse ist einfach, als Übersetzerin daraus zu lernen und neuen Mut zu schöpfen, um das mühsame Unternehmen noch weiterzuführen, Nestroy auch in Italien ein wenig heimischer zu machen, ihm mehr Anerkennung zu verschaffen, und zwar durch Anfertigung solcher italienischen Versionen, die nicht bloß für Leser gedacht sind, sondern sich auch für die Bühne eignen könnten. Denn solange Nestroy zwischen zwei Buchdeckeln versteckt bleibt, hat er keine großen Chancen die breite Öffentlichkeit anzusprechen und herauszufordern.

 

Gerald Stieg
Wie verwandelt Nestroy Französisches in Nestroyanisches?

Der paradoxe Vergleich von Unvergleichbarem ist nicht ohne Erkenntnisinteresse. An sich bietet sich nichts so sehr zum Vergleich an wie Übersetzung bzw. Bearbeitung und Original. Unterzieht man allerdings die französische „Imitation“ (so der Terminus der Bearbeiter Mélesville und Carmouche) von „Zu ebener Erde und erster Stock“ unter dem Titel „Du haut en bas ou Banquiers et fripiers“ (1842) einem kritischen Vergleich, so bleibt nur die negative Schlussfolgerung, dass durch die Bearbeitung schwache Dutzendware auf den Pariser Theatermarkt gelangt ist, der eher export- als importorientiert war. Es ist logischerweise bei diesem einen Versuch geblieben.

Geradezu seitenverkehrt verläuft der Export des „Homme blasé“ (1843) von Duvert und Lauzanne nach Wien. Nestroy macht aus dieser guten und geistreichen Dutzendware des Genre „Comédie-Vaudeville“ eine geniale Posse. Dieser Sachverhalt ist bekannt und schon des öfteren formuliert worden. Dass die Abwertung auf der einen und die Aufwertung auf der anderen Seite vor allem mit Nestroys Sprache zu tun hat, gehört auch zu den Gemeinplätzen der Nestroyforschung.

Dieser Beitrag setzt sich zum Ziel, durch einige vergleichende Sprachanalysen diesen negativen bzw. positiven Transvalorisierungsprozess konkret zu demonstrieren.

 

Alexandra Ludewig
Nestroy, Horváth, Loher und die Volksstücktradition – Nur das Lachen ist uns vergangen

Dieser Vortrag versucht die Einflüsse von Nestroy und Horváth auf zwei preisgekrönte Stücke von Dea Loher nachzuweisen.

Seit ihrem Studienabschluß an der LMU München 1989 mit einer Arbeit über Horváth hat sich Dea Loher (geb 1964 in Traunstein) auch in ihrer Theaterpraxis mit der Volksstücktradition auseinandergesetzt und in ihren Stücken immer wieder Nestroysche und Horváthsche Elemente als Versatzstücke untergebracht. Besonders in Tätowierung (1992) und Adam Geist (1998) hat sie durch die Wahl des Figurenpersonals, der Handlungsmotive und der Aufführungspraxis an einer radikalisierten Fortführung der Kritik am (Klein-)Bürgertum im Sinne von Nestroy und Horváth gearbeitet. In jeweils gesteigerter Form kann man den Umgang der Autoren mit Masken, Karrikaturen und Versimpelungen, die Typen identifizieren und Skepsis gegenüber menschlichem Verhalten und gesellschaftlichen Entwicklungen jeglicher Art provozieren, nachzeichnen. Auch vollzieht sich im Wechselspiel von Dialekt und aufgesetzter Hochsprache eine sprachliche Demaskierung, die an Schärfe von Nestroy über Horváth zu Loher zunimmt. Ebenso lassen sich aufgrund ihrer Programmatik, z.B. der Poetik des Gegensatzes, Vergleiche herleiten, die nicht nur für die Aktualität von Nestroy und Horváth bürgen, sondern auch deren Wichtigkeit für die jüngste Generation deutschsprachiger Autoren unterstreichen.

Nestroys, Horváths und Lohers Stücke beschreiben Menschliches, reiben sich an den anthropologischen Konstanten und führen zur Aufdeckung der bürgerlichen bzw. kleinbürgerlichen Pseudomoral gepaart mit der Einsicht, daß Geschlechts- und Geldgier in jeder Mundart zu finden sind. Während Volksstücke bei Nestroy den Ausgang aus dem Biedermeierdasein provozieren sollten und bei Horváth für die “Vorhölle des sich anbahnenden NS-Regimes“ (Glaser) stehen, haben die Menschen bei Dea Loher die Hölle erreicht. Und während Peter von Matt (Neue Zürcher Zeitung, 8.12.2001) für Horváth konstatiert, dass niemand mehr sicher sein, „dass er wirklich der ist, der zuletzt lacht“, ist den Zuschauern spätestens bei Loher das Lachen gänzlich vergangen.

 

Anthony Coulson
Nestroy und das Kino: der Fall Lumpazivagabundus

Fernsehaufzeichnungen von Bühnenaufführungen der Komödien Nestroys sind heutzutage keine Seltenheit. Wie der Theaterkanal des ZDF zur Zeit des Nestroy-Jubiläums 2001 nachgewiesen hat, enthalten die Archive schon eine Vielzahl solcher Aufnahmen, die bestätigen, daß die Bühne das primäre Forum für die Rezeption des theatralischen Genies Nestroys bleibt und sicherlich bleiben wird. Als aber Anfang des letzten Jahrhunderts das Kino die bisher klare Vorherrschaft des Theaters als Institution der kulturellen Erbauung und der volkstümlichen Unterhaltung für alle Schichten der Gesellschaft in Frage stellte, zog das neue Medium im Streben nach kommerziellem Erfolg und künstlerischer Autorität manches, was Klang und Namen hatte, von seinem ehrwürdigen Ahnen an sich: beliebte Schauspieler, gefeierte Autoren, und vor allem berühmte Werke der Bühnenliteratur fanden den Weg auf die Leinwand. Darunter gehörten auch von früh an die Stücke des Wiener Volkstheaters, vor allem die von Nestroy.

Dieser Beitrag bietet einen Überblick über die für das kommerzielle Kino hergestellten Verfilmungen der Komödien Nestroys, die sich von der Zeit vor dem ersten Weltkrieg bis in die 60er Jahre erstrecken; ich konzentriere mich aber auf die eine Komödie, die in dieser kleinen Filmgeschichte einen besonderen Platz einnimmt: das nicht weniger als sieben Mal verfilmte Lumpazivgabundus. Schon dieses eine Stück spiegelt die sich im Laufe der sechs Jahrzehnte verändernden Ansätze bei der Filmbearbeitung von Nestroys Werk wider. Jede Filmgeneration in dieser Lumpazi-Dynastie stellt einerseits eine Inszenierung und Verwirklichung der Nestroyschen Vorlage dar – die Filme entstehen zum Teil aus zeitgenössischen Bühnenaufführungen – andererseits aber auch eine grundsätzliche Umwandlung des Originals. Durch die spezifischen Strukturen des filmischen Erzählens, aber nicht weniger auch durch die ideologischen und kommerziellen Voraussetzungen des neuen Mediums Kino mußte das Bühnenwerk notgedrungen zu etwas prinzipiell Anderem werden. Es lassen sich am Beispiel des Lumpazivagabundus etwa drei Stufen in der Entwicklung dieses intermedialen Umwandlungsprozesses identifizieren.

Zuerst der stumme Nestroy: die technisch bedingte Beschränkung der Komödie auf rein visuelles Spiel, wobei die dadurch entstehende Betonung des Possenhaften und Burlesken an die enge Verwandschaft zwischen dem frühen Kino und dem Variété und der Volkskomik des Zirkus usw. erinnert. Danach folgt mit der Durchsetzung des Tonfilms die Einverleibung Nestroys in die Massenkultur der Jahrzehnte vor und nach dem zweiten Weltkrieg, mit ihrer ausgesprochenen Vorliebe für die musikalische Romanze und die Nostalgie des ersehnten Heimatlichen und Volkstümlichen. Hier, wo Nestroys Satire in die Gemütlichkeit einer Versöhnungskomödie abgestumpft wird, findet er zwar eine Stimme, aber kaum die eigene. Erst mit dem letzten Lumpazivagabundus von 1965 nähert sich das Kino einem Realismus, der gleichzeitig einen Ausgleich des Spielerischen und des Satirischen im Stück anstrebt. Hier wird zum ersten Mal im Film die historische Grundlage der Nestroyschen Theaterfiktion erkannt, jedoch verbunden mit dem Versuch, den wesentlichen Elementen der Phantasie in dieser Fiktion und dem vor allem für die Rolle Knieriems charakteristischen hintergründigen Sprachspiel gerecht zu werden.

Das Referat wird durch Auszüge aus Verfilmungen des Lumpazivagabundus, einschließlich des allerersten Nestroy-Films von 1912, ergänzt.