Nestroy-Gespräche 2002: Bericht

Aus der Vorstadt in die Welt
oder „Na lasst man ein Jed’n sein Freud“

 

 

 

Vom 29. Juni bis 2. Juli 2002 fanden in Schwechat die 28. Internationalen Nestroy-Gespräche unter dem Motto „Aus der Vorstadt in die Welt oder Na, lasst man ein Jed’n sein Freud’“ statt. 2002, ein Jahr nach Nestroys 200. Geburtstag, im Jahr seines 140. Todestages und neunzig Jahre nach Karl Kraus’ wegweisendem Essay Nestroy und die Nachwelt knüpften die Gespräche einerseits an das letztjährige Symposion In anderen Welten an, andererseits ging es – z.T. in Wiederaufnahme von Themen früherer Gespräche – um neue Aspekte und andere Perspektiven.

Fortgeschrieben wurde der Komplex Nestroyrezeption in der Literatur und auf dem Theater – unter anderem von Karl Kraus bis Theodor W. Adorno – sowie die Frage der Übersetzbarkeit der Possen im Kontext des Kulturtransfers – damals und heute. Es ging um Aspekte der „fragmentarischen“ Biographie Nestroys, exemplarisch dargestellt am Jahr 1841 und um den „Nachdrucker“ Nestroy unter den Bedingungen des entstehenden Urheberrechts, ferner um sein Fort- und Wiederaufleben im Medium Film und in heutigen Theaterproduktionen.

Nestroy als Satiriker zwischen Humor und literarischem Sarkasmus erschien in neuem Licht, und es wurden poetologische Fragen der Komödie als Gesellschaftsspiel und der possenübergreifenden Dramaturgie sowie Aspekte der Volksstück-Tradition, die bis in die Gegenwart reicht, behandelt.

Die Nestroy-Spiele Schwechat feierten ihr 30jähriges Jubiläum mit einer aktualisierenden Bearbeitung von Das Mädl aus der Vorstadt (1841), die eine nur auf den ersten Blick biedermeierliche Geschichte in ein gegenwärtiges soziales und ökonomisches Spannungsfeld stellt. Um die „Mädlerie“ und die Frauen, Geschlechter-, „Hosen“- und Sozial-Rollen im Komödien-Patriarchat mit „Hanswurst als Familienvater“ ging es auch in einigen Vorträgen.

W. Edgar Yates (Exeter, GB) betrachtete das Jahr 1841 als Fallbeispiel für die Problematik der Biographen, angesichts der Quellenarmut ein Lebensbild zu zeichnen, das einen authentischen Eindruck der Theater- und Privatperson Nestroy vermittelt. Weite Lebensabschnitte bleiben nach wie vor im Dunkeln und geben Anlaß zu Spekulationen über seinem „Charakter“.

Urs Helmensdorfer (Zuoz, CH) wies nach, dass der „Nachdrucker“ Nestroy im Umgang mit dem damaligen Urheberrecht und den Interpretationen von „geistigem Eigentum“ ein „korrekter Theatermensch“ war; ferner gab er Hinweise auf die „Verwertung“ des Werks nach seinem Tod und bis in die heutige Zeit.

Ausgehend von Höllenangst (1849) und den Interpretationen Franz H. Mautners, Rio Preisners und Friedrich Sengles verortete Burkhard Meyer-Sickendiek (München) Nestroy an der Schwelle eines Paradigmenwechsels des „literarischen Sarkasmus“: von einer Form angreifender Diffamierung bis zum geselligen Witz. Das 19. Jahrhundert entdecke den Sarkasmus in der Gestalt der Groteske, in die sich Nestroys „metaphysisches“ und „satanisches“ Lachen einfüge und die Komödienstruktur präge.

Walter Pape (Köln) ging Formen der Zufallsdramaturgie und Handlungsverknüpfung bei Schiller (Die Braut von Messina, Kabale und Liebe) und Nestroy (Der Unbedeutende, 1846; Mein Freund, 1851) nach und entdeckte die Kunst des Komödiendichters in der Vermeidung von „Leidenschaften“.

Hanna Zimmermann (Bonn) beschrieb „Travestie und Geschlechterrollen“ bei Nestroy, wie Kleider- und Geschlechtertausch komisch inszeniert werden (Die verhängnisvolle Faschingsnacht, 1839; Judith und Holofernes, 1849; Zeitvertreib, 1858) und welche soziale Bedeutung sie erhalten.

Roswitha Box (Oxford, GB) lenkte mit Michail Bachtin den Blick auf die „hybride“ Figur Gundelhuber in Eine Wohnung ist zu vermiethen […] (1837) – Widerspruch zwischen Hanswurst-Eigenschaften und bürgerlichen Familienvater-Tugenden – und schlug vor, die Ablehnung des Stücks durch das Publikum wegen der inakzeptablen Karikatur des Patriarchats mit Sigmund Freud als nicht befriedigte Identifikation mit der Volksfigur zu deuten. Aufgrund des fehlenden Zensurmanuskripts ist eine differenzierte Analyse des Rezeptionsphänomens nicht möglich.

Matthias Schleifer (Bamberg) arbeitete mittels einer Re-Lektüre der Krausschen Beschäftigung mit Nestroy in der Fackel den Zusammenhang von alltäglichem, journalistischem und literarischem Sprechen sowie die metasatirische Dimension heraus: Unter Berufung auf das „ordnende Sprachspiel“ reklamiert Karl Kraus Nestroy als seinen Vorläufer. Die merkwürdige Zurücksetzung Ferdinand Raimunds wird in diesem Kontext verständlich.

Johann Dvorak (Wien) machte den Versuch, aus verstreuten Bemerkungen die Wahrnehmung Nestroys durch Max Horkheimer, Walter Benjamin, Theodor W. Adorno u.a. zu rekonstruieren, wobei Benjamin und Adorno eine deutliche Affinität zu K. Kraus aufwiesen. Nestroy wird gegen die „Gipsklassiker“, in Adornos Volksstück-Essay (zu Fritz Hochwälders Der Himbeerpflücker) und im Kontext eines „versprengten Barocks“ zitiert.

Helmut Herles (Bonn/Berlin) zog eine Linie von Häuptling Abendwind (1862) bis zur jüngsten Bearbeitung durch Volker Dietzel: Abendwind und Sonnenbrand, Ein kannibalisches Open-Air Musical.

Peter Schweinhardt (Berlin) demonstrierte an musikalischen Beispielen, wie Hanns Eislers Komposition zu Höllenangst für die Aufführung in der „Scala“ 1948 von seiner Filmmusik für Hollywood beeinflußt ist, erläuterte den produktiven Umgang mit Nestroys Text und Hebenstreits Musik und beschrieb die vom „Kalten Krieg“ geprägte Aufnahme des Stücks im Remigrantentheater mit seinem volksbildenden Anspruch.

Der Übersetzungsproblematik wandten sich Gabriella Rovagnati (Milano) – am Beispiel von Zu ebener Erde und erster Stock (1835; ital. 1842 und 1974) – und Gerald Stieg (Paris) – am Beispiel von Zu ebener Erde und erster Stock ins Französische und Der Zerrissene (1844) im Vergleich mit der französischen Vorlage – zu. Sie stellten grundsätzliche Überlegungen zum Kulturtransfer sowie zu sprachlichen und lokalen Spezifika der Übersetzungen ins Französische und Italienische (und umgekehrt) – zwischen Abwertung und Aufwertung, zwischen Rohübersetzung und schöpferischer literarischer Bearbeitung – an. Die Bestandsaufnahme der Übersetzungen Nestroys ist ein Forschungsdesiderat.

Alexandra Ludewig (Perth, AUS) verfolgte Aspekte der Volksstück-Tradition von Nestroy über Ödön von Horváth bis zu Dea Loher: u.a. Darstellung der Randfiguren und Außenseiter, Funktion von Dialekt und Umgangssprache, Kontrast zwischen Figurenrede und Körpersprache, Kritik am patriarchalen System.

Anthony Coulson (Dublin) stellte frühe Verfilmungen Nestroys vor: zwischen 1912 und 1916 gab es über zehn Produktionen, u.a. von Der böse Geist Lumpacivagabundus (1833) und Einen Jux will er sich machen (1842). Der Stummfilm (Lumpacivagabundus, Dänemark 1912) zeige den engen Kontext von Volkstheater und Kino, der Tonfilm passe Nestroy bis die sechziger Jahre dem Unterhaltungsbedürfnis eines Massenpublikums an, während erst in den letzten Jahrzehnten eine der Synthese von Spiel und Satire verpflichtete Adaption zu beobachten sei.

Die von Otmar Nestroy (Graz) geleitete Exkursion ging Nestroy-Spuren in Graz nach, wo der gefeierte Autor und Mime im Mai 1862 zum letztenmal auf der Bühne stand und am 25. Mai starb (Sterbehaus: Elisabethstraße 14).
(Jürgen Hein)