Nestroy-Gespräche 2001: Bericht

In anderen Welten

 

 

 

Die 27. Internationalen Nestroy-Gespräche auf Schloß Rothmühle in Schwechat (4. bis 9. Juli 2001) standen unter dem Motto „In anderen Welten“: „Nachtwandlerei“, Theaterzauber und Sprachmagie, Nestroyrezeption in anderen Sprachen und bis in die Literatur des 20. Jahrhunderts.

Fred Walla (Newcastle, AUS) ging mit der Frage „Wie ,echt´ sind Nestroys Texte?“ Problemen der Autorisation und Authentizität nach. Die Edition fast der Hälfte aller Stücke basiert nicht auf Originalmanuskripten, sondern anderen Überlieferungsträgern (z. B. Theatermanuskripte, Rollenkonvolute, Zensurbücher, Drucke), überdies lässt Nestroys Arbeitsprozess darauf schließen, dass er die Texte schon früh in andere Hände zur ,Fertigstellung‘ gab. Auch bei Überarbeitungen und verschiedenen Fassungen ist nicht immer klar, wer an der Herstellung des Theatertextes beteiligt war. Der „Werk“-Begriff ist auf Nestroy nicht ohne weiteres anwendbar, über sein Selbstverständnis als Autor wissen wir wenig. Von einer „Firma Nestroy“ zu sprechen, ist sicher überspitzt, aber es scheint nicht abwegig, an eine „Manuskriptwerkstatt“ zu denken.

Birgit Pargner (München) betrachtete Nestroy auf den Münchner Bühnen im 19. Jahrhundert im Kontext der Repertoire-Entwicklung und der Gastspiele von Raimund, Wenzel Scholz und Nestroy und hob die Bedeutung des Lokalkomikers Ferdinand Lang sowie des Schweiger-Theaters für die Rezeption hervor.

Marijan Bobinac (Zagreb, HR) gab einen Überblick über Nestroy-Inszenierungen auf kroatischen Bühnen bis zur Gegenwart vor dem Hintergrund der Herausbildung einer nationalen Volksdramatik (z.B. Josip Freudenreich) und politischer Veränderungen.

Ryota Tsugawa (Tokio) erörterte Probleme des Übersetzens Nestroyscher Sprachkomik ins Japanische, wobei sich – wie auch für andere Sprachen – besonders das Problem der Sprachebenen (vor allem des Dialekts) sowie die Herstellung eines entsprechenden Lokalkolorits stellt. Immerhin liegen bereits zehn Stücke in Übersetzung vor, freilich weniger für die Theaterpraxis.

Ähnliche Schwierigkeiten, aber auch einfallsreiche Möglichkeiten der Übertragung der satirischen Qualität ins Koreanische mit Blick auf die Spielbarkeit unter koreanischen Rezeptionsbedingungen erörterte Young K. Ra (Seoul), ebenfalls am Beispiel von Der Talisman.

Martin Stern (Basel) untersuchte Entstehung und Rezeption von Ödön von Horváths Hin und Her (UA Zürich 1934) im Blick auf Nestroy-Anleihen und entdeckte in Plot und Happy End, Sprachwitz und realitätskritischem Potential Parallelen zu Hinüber Herüber; der komödiantische Schluss lässt von heute aus gesehen die Problematik des Emigranten als Komödienheld in neuem Licht erscheinen.

Auch Henk J. Koning (Putten, NL) ging Horváths Nähe zu Nestroy nach, konstatierte bei beiden Demaskierung des „gemütlichen“ Bürgertums und Ähnlichkeiten der Dialoggestaltung, aber fundamentale Unterschiede in den „Flucht- und Überlebensperspektiven“.

Alice Bolterauer (Graz) stellte George Taboris Attacke auf Zivilisation und „Gemütlichkeit“ in Die Kannibalen (1969) und Ballade vom Wiener Schnitzel (1996) in den Kontext des fiktionsbrechenden populären Theaters und kannibalischer Phantasien (Bestialität und Menschlichkeit), wie sie auch Nestroy in Häuptling Abendwind thematisiert hat. Allerdings zeigten sich Unterschiede in der „aufklärerischen“ Funktion.

Johann Dvorák (Wien) stellte der Wiener „Gemütlichkeit“ als Merkmal politischer (Unterdrückungs-)Kultur den „ungemütlichen“ Ruhestörer Nestroy gegenüber, dessen Theater den Widerspruchsgeist förderte.

Horst Jarka (Missoula, USA) berichtete über die Wiederentdeckung von Alfred Polgars Bearbeitung von Der Zerrissene unter den Bedingungen des Exils; bei der Aufführung 1944 in Zürich wurden aber nicht seine Couplets gesungen, sondern Texte von Hans Weigel, möglicherweise unter Mitarbeit von Leopold Lindtberg. Im Blick auf die schwierigen Recherchen müssen noch viele Fragen offen bleiben.

Hugo Aust (Köln) ging unter dem Titel „Faktoren, Freunde und Finanzen: Nestroy und Balzac“ den Einflüssen der Romanlektüre, der Krise des Freundschaftsmotivs, der dominanten Rolle des Geldes, ferner Aufstiegsgeschichten, den Unterschieden zwischen Provinz und Metropole und deren dramatischer Umsetzung bei Nestroy nach (u. a. durch Typisierung, Polarisierung und Übertreibung, episierende Verfahren und Selbstreflexivität des Theaters), der vergleichsweise radikaler gewesen sei.

Walter Pape (Köln) untersuchte „monetäre Metaphorik“ bei Eduard von Bauernfeld (Der kategorische Imperativ, 1851) und Nestroy (Heimliches Geld, heimliche Liebe). Während bei ersterem das Geld nur Stoff sei und nicht handlungsstrukturierend eingesetzt werde, zeige sich bei letzterem die Komödie durch und durch als Geldhandlung; alle Beziehungen seien durch das Geld als zweite Zeichensprache definiert.

Andreas Thomasberger (Frankfurt/M.) interpretierte Nestroybezüge im Berliner Volksstück eines Wieners: Stefan Großmann und Franz Hessel: Sturm auf Apollo (1931).

Von einem wenig bekannten Interview aus dem Jahre 1978 ausgehend, erläuterte Wendelin Schmidt-Dengler (Wien) Thomas Bernhards Bemühungen um die Komödie und sein Verhältnis zu Raimund und Nestroy; mit Vorsicht kann man seine Figuren als von den beiden Repräsentanten des Wiener Volkstheaters beeinflusst sehen. H. C. Artmann schreibe mit Reminiszenzen an Kasperl-Komik den frühen Nestroy weiter (z. B. Höllenangst und hohe Herren).

Eva Philippoff (Lille, F) untersuchte Besserung, Heilung, Misanthropie im Wiener Volkstheater und Klischee-Demontage, Erneuerung bei Bernhard (Der Weltverbesserer); sie sah Parallelen zwischen dem illusionslosen Nestroy und modernen Misanthropen, die ihrem chronischen Missmut ungebessert überlassen würden, freilich in ironischer Brechung.

Dagmar Zumbusch-Beisteiner (Wien) zeigte einheimische und internationale Einflüsse auf die Wiener Theatermusik, charakterisierte Gattungen, Stile und Liedformen, stellte Unterschiede zwischen Nestroys Früh- und Spätwerk heraus, betrachtete die Rolle von Zitaten (Mozart, Schubert, zeitgenössische Oper), wobei auch Parodie der Gesangsdarstellungen anzunehmen, aber schwer zu rekonstruieren sei.

Peter Branscombe (St. Andrews, GB) untersuchte Feste bei Nestroy, der sie nicht nur als dramaturgische Möglichkeiten nutzt, viele Personen auf die Bühne zu bringen und wirkungsvolle Aktschlüsse zu gestalten, sondern auch zur Darstellung von Kontrasten (rauschendes Fest und Stille, z. B. in Der Unbedeutende) und zu Satire und Parodie.

Die von Walter Obermaier (Wien) geleitete Exkursion führte nach Wiener Neustadt, zeigte Historisches (Grab Maximilians; Neukloster) und mit Nestroy verbundene Lokalitäten (Theater; Wien-Neustädter Kanal; Eisenbahnheiraten oder Wien, Neustadt, Brünn).

Die Schwechater Inszenierung von Die [beiden] Nachtwandler (Regie Peter Gruber) bewies mit dem Erhalt des Märchenhaften und Kulinarischen bei gleichzeitiger Verstärkung des Satirischen (Kommerzialisierung und Mechanisierung der Beziehungen) die Aktualität des Themas, transponiert in die heutige Überflussgesellschaft, in der sich das „Notwendige“ anders zeigt: In der Mediengesellschaft scheint konträr gerade das Überflüssige das ,Notwendige´ zu sein.

Besondere Erwähnung verdienen die Ausstellung „Ich oder Ich“ (Konzeption Ursula Reisenberger), eine gelungene Annäherung an die Widersprüche und Abgründe der Biographie des „Mimerers“ Nestroy, und das Fest zu Nestroys 200. Geburtstag (u. a. mit den Gratulanten Birgit Doll, Elfriede Ott, Hilde Sochor, Paul Gulda, Fritz Muliar, Kurt Sobotka), das mit einem glanzvollen Feuerwerk wie zu Nestroys Zeiten schloss.