Nestroy-Gespräche 2000

„Bis zum Lorbeer versteig ich mich nicht …“

26. Internationale Nestroy-Gespräche 2000
28. Juni bis 3. Juli 2000 in Schwechat bei Wien

 

 

Der vielzitierte und häufig als Selbstaussage Nestroys interpretierte Ausspruch des Dichters Leicht in der Parodie Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab (1835) war der Ausgangspunkt. Allerdings wurde weniger dem Selbstverständnis Nestroys als Possendichter nachgegangen als – in Fortsetzung der Gespräche der beiden letzten Jahre – Fragen der Rezeption und Aspekten der Parodie.

Kurt Krolop (Prag) lenkte den Blick auf den von Karl Kraus wiederentdeckten Prager Theater- und Musikkritiker Bernhard Gutt und dessen Beurteilungskriterien. Gutt erkannte insbesondere die „Austiefung“ des Komikers Nestroy als synthetisierendes Element zwischen dem Schauspieler und dem Stükkeschreiber. – Andreas Thomasberger (Frankfurt/M.) ging den Spuren der Nestroy-Lektüre Hugo von Hofmannsthals und deren Einflüssen auf sein Werk (insbesondere in nachgelassenen Entwürfen) nach; Hofmannsthal sprach im Tagebuch vom „Lehrer Nestroy“, an anderer Stelle von dessen „scharfer Kontur“. Im Werkkontext Hofmannsthals wurde die Spezifik der intertextuellen Relation deutlich und ebenso – z. B. im Blick auf den Jedermann – das Problem der „Volkstümlichkeit“. – Jürgen Doll (Poitiers, F) untersuchte an wenig bekannten Quellen und Dokumenten die Bedeutung Nestroys für die Wiener Kleinkunstszene der dreißiger Jahre (Der liebe Augustin, Literatur am Naschmarkt, Die Stachelbeere, ABC) und deren häufig beschworene Erneuerung des Volkstheaters. Je nach politisch-ideologischem Standort können unterschiedliche Bezüge zum Wiener Volkstheater ausgemacht werden: Aktualisierung des Kasperltheaters, Politisierung des Besserungsschemas (Jura Soyfer), Formen der Parodie. Soyfer habe als einziger unter den Kleinkunstautoren ernsthaft versucht, das Erbe für eine aktuelle Form des Volksstücks fruchtbar zu machen. [1] – Gerald Stieg (Paris) analysierte nach einem Blick auf Nestroys Probleme mit der Zensur bei Häuptling Abendwind (1862) heutige Kontrafakturen der Posse von Helmut Eisendle, Elfriede Jelinek, Libuše Moníková und Oskar Pastior. [2] Er zeigte, auf welche Weise sich die unterschiedlichen literarischen Positionen und Interessen in den Transformationen des Ausgangstextes artikulieren und wie das Thema des Kannibalismus zum Demonstrationsobjekt für kritisch gesehene „Diskurse“ aus Ethnologie und Psychologie (Eisendle, Monikova), zu einem radikalen Sprachspiel (Pastior) und zu einer politischen Satire (Jelinek) wird. – Alfred Strasser (Raeren, B) unterzog die von der Kritik als postmoderne Volksstücke bezeichneten Dramen Werner Schwabs einer Analyse. Die Stücke entsprächen zwar vordergründig in Figurenkonstellation und Nestroy entlehnter sprachlicher Verfahrenstechniken der Lokalposse, doch löse Schwab die Ansprüche des Volksstücks nicht ein, denn seine Figuren seien weder eindeutig sozial bestimmt, noch sei die Handlung auf irgendeine Botschaft hin ausgerichtet, vielmehr habe er die Absicht verfolgt, das Volksstück, das er als „das Absurdeste“ in der Literatur bezeichnet, als „jene Form, die mir am widerlichsten war“, durch Aufhebung der Kommunikation in einer hermetischen Kunstsprache zu zerstören.

Der zweite Themenkreis war der Parodie bei Nestroy gewidmet, insbesondere den beiden Holtei-Bearbeitungen. – Silke Arnold-de Simine (Mannheim) stellte im Kontext der Überlegungen von Michail Bakhtin „Karneval als Motiv und Textstrategie in Nestroys Die verhängnißvolle Faschings-Nacht (1839)“ dar, demzufolge der närrische „mundus inversus“ des Karnevalesken Grenzen zwischen Oben und Unten, Kunst und Leben, Ernst und Spaß, Lachendem und Verlachtem auflöse: Bei Nestroy spielen karnevalistische Elemente nicht allein als Thema (Motive der Maskierung, Umkehrung der Standesrollen, Entlarvung eines hochgespannten Liebes- und Ehrbegriffs), sondern vor allem als Textstrategie eine wichtige Rolle, wobei allerdings die Gattungsbestimmung der Trauerspiel- Parodie schwierig wird.[3]

Mathias Spohr (Zürich) plädierte für einen weiten und medial definierten Parodie-Begriff. Bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts unterscheide sich das, was Parodie genannt wird, kaum von dem, was wir heute Bearbeitung, Neufassung oder Inszenierung nennen. Eine Parodie war eine Umsetzung in eine andere Aufführungssituation, und ein Stilgefälle gegenüber ihrer Vorlage war nicht kommentierend gemeint, sondern sozial bedingt. Berühmte oder erfolgreiche Stücke wurden parodiert, um von ihrer Bekanntheit zu profitieren, nicht um sie zu kritisieren. Demgegenüber sei Nestroy als Stoffverwerter und zugleich kritischer Bearbeiter – der Inhalte wie der Verfahren – schon ein Vertreter der ,modernen‘ Parodie. – Andreas Böhn (Mannheim) fand mit Blick auf Bakhtins „Vielstimmigkeit“, die die Integration disparater Elemente erlaube, in Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab Parodie, Satire und Metatheater zugleich. Mit der parodistischen Durchführung des Motivs des verkannten Dichters sei die Satire auf den ,Literaturbetrieb‘ und das kulinarische Kunstverständnis des bürgerlichen Publikums verbunden. Der „Zwetschkenkrampus“ werde zum Symbol einer volkstümlichen Karnevalisierung.

In der Schwechater Inszenierung von Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab zeigte Peter Gruber wieder einmal, wie ein Nestroytext ohne starke Eingriffe und erzwungene Modernisierung aktuell gespielt werden kann und daß Nestroys Satire auf die Kulturspießer auch heute noch trifft, ja in der Zuspitzung Züge der ,Realsatire‘ annimmt.

Urs Helmensdorfer (Zuoz, CH) fragte, ob David Kalisch (1820–1872), ein Seismograph der werdenden Metropole Berlin, ein „preußischer Nestroy“ genannt werden könne und wies auf ein Forschungsdesiderat hin: Wiener und Berliner Volkstheater im Vergleich und in wechselseitiger Beeinflussung (z. B. Nestroys Bearbeitung von Berliner Possen: Frühere Verhältnisse [nach Emil Pohl, 1862], Ein gebildeter Hausknecht [nach David Kalisch, 1858]), vor allem im Umkreis von 1848. – Walter Schlögl (Wien) stellte am Beispiel von Der böse Geist Lumpacivagabundus (1833) Nestroy-Vertonungen seit 1938 in Wien dar (u. a. Steinbrecher, Eisler, Pawlicki, Lang, Zelibor, Bronner, Kann) und wies auf Abgrenzungsschwierigkeiten („nach Motiven von“) und auf das Problem der ‚zeitgemäßen‘ Bearbeitung hin. – Fred Walla (Newcastle, AUS) berichtete über den Fund einer weiteren Vorlage zu Der alte Mann mit der jungen Frau (1849): ein französisches Melodrama Émery le négociant (1842), das auf einen Roman von Paul Lacroix zurückgeht (Le Marchand du Havre, 1838).

Die von Walter Obermaier (Wien) geleitete Exkursion führte von der Begegnung mit dem Tod (Bestattungsmuseum) zum (Theater-)Leben hinter die Kulissen des Theaters an der Wien (Führung durch Peter Back-Vega) und zu den Spuren Nestroys in der Leopoldstadt.

 

 

[1] Jürgen Doll: Theater im Roten Wien, Vom sozialdemokratischen Agitprop zum dialektischen Theater Jura Soyfers, Wien 1997.
[2] Anthropophagen im Abendwind, Vier Theatertexte nach Johann Nepomuk Nestroys Häuptling Abendwind oder das gräuliche Festmahl, Helmut Eisendle, Elfriede Jelinek, Libusˇse Moníková, Oskar Pastior, hg. von Herbert Wiesner, Berlin 1988.
[3] Silke Arnold-de Simine: Vielstimmigkeit und Dialogizität in Nestroys Posse Die verhängnisvolle Faschingsnacht, Sprachkunst 34 (2003), S. 13–29.