Das Geheimnis des grauen Hauses
Vor kurzem fragte mich ein Kollege, der an einem großen Festspielort enorm viel Geld verdient, mit der Arbeit dort aber offensichtlich nicht recht glücklich ist, in einer Mischung aus Herablassung und Neid: „Und du? Du machst das noch immer? Deinen Nestroy da draußen?!“
„Ja klar!“, sagte ich, ebenfalls nicht ganz glücklich und in einer ähnlichen Mischung aus Herablassung und Neid, „Da weiß ich wenigstens, warum ich zum Theater gegangen bin. Ich kann dort alles machen, was ich will, hab sehr gute Leute, und es redet mir keiner drein. Und von Nestroy kann man nie genug kriegen.“
Das war nicht gelogen – und trotzdem war’s nur ein Teil der Wahrheit. Ich hätte auch sagen können: seit 40 Jahren versuche ich, Johann Nestroy zu entkommen, und es gelingt mir einfach nicht.
Begonnen hat es 1967, an Susi Nicolettis traditionellem Chanson- und Liederabend am Max Reinhardt-Seminar.
Ich sollte ihn moderieren und am Schluss noch selber irgendetwas singen. Prof. Kurt Werner gab mir ein paar Notenblätter. Ich hatte keine Ahnung, was das war, was er mir da gab, aber es hörte sich ganz gut an. Und so legte ich hemmungs- und ahnungslos meine erste Talentprobe ab und sang höchst erfolgreich „Die Welt steht auf kein´ Fall mehr lang, lang, lang….“.
Wenige Monate später gab´s die große Abschlussproduktion im Schönbrunner Schlosstheater. Gustav Manker inszenierte Träume von Schale und Kern, und ich durfte mitmachen.
Ich hatte natürlich noch immer keine Ahnung von Nestroy (geschweige denn davon, was für einen Stellenwert er in meinem Leben noch einnehmen würde), aber er spielte sich einfach gut und war mir irgendwie vertraut, ebenso wie Mankers schlitzohriger Humor. „Peter Gruber ist als Sesseltrager Rot ein bisserl sehr grob und ordinär“, schrieb die damals gefürchtete Presse-Kritikerin Obszyna, „Aber seinen Namen wird man sich merken müssen.“ Den Nachsatz fand ich absolut richtig, die Bemerkung davor ziemlich ärgerlich. Ich entschied mich, sie für das verbale bourgeoise Naserümpfen einer älteren Dame zu halten, die vom wahren Leben in der Unterschicht keine Ahnung hatte.
Sehr bald schon – in meinem ersten festen Engagement – kam es zu einer weiteren Begegnung. Nach meinem erfolgreichen Debüt als Romeo im Theater a.d.Wien wurde mir der Leim in Lumpacivagabundus angeboten. „Ich hoffe, Sie können auch komisch sein!“, meinte Intendant Peter Weihs, der mich als Rot nicht gesehen hatte und ausschließlich für einen romantischen Liebhaber hielt, besorgt.
Regie führte Walter Kohut. Er war selbst ein legendärer Leim gewesen, was die Arbeit teils erleichterte, teils erschwerte, denn ich wollte ihn um keinen Preis kopieren. Meine Partner waren Fritz Holzer als Knieriem und Georg Trenkwitz als Zwirn, zwei g’standene Nestroy-Spieler also. Das war schon eine ziemliche Herausforderung, besonders mit Fritz, der sich auch privat manchmal ein bisschen zu sehr in seine Rolle einlebte. Aber ich war damals sehr selbstbewusst, lernte schnell und war am Ende höchst zufrieden, als es hieß: „Peter Gruber steht den beiden um nichts nach. Endlich wieder ein Leim, der nicht so brav und fad ist.“
Dann war fürs Erste einmal Schluss mit Nestroy.
Ich wurde nach Deutschland engagiert und verbrachte die „wilden 60er“ bei den Ruhrfestspielen, am Düsseldorfer Schauspielhaus, in Oberhausen und Tübingen mit Euripides, Shakespeare, Brecht und einer Reihe angloamerikanischer Autoren, aber auch mit fragwürdigen Mitbestimmungsexperimenten und den obligaten Vorstellungsstörungen durch demonstrierende Studenten.
Eine nestroylose Zeit – wenn ich davon absehe, dass ich über 70 Mal im Musical „Hello Dolly“ mit großem Vergnügen den Cornelius, die amerikanische Ausgab’ vom Weinberl, gespielt habe.
1972 kehrte ich dann über München nach Österreich zurück. Ich hatte Heimweh, wollte endlich auch Regie führen, und Peter Weihs bot mir als Wiedereinstieg eine Inszenierung an.
„Was ist es denn?“, fragte ich ihn.
Als er mir die Antwort gab, wusste ich, dass ich wirklich in Wien gelandet war. „Nestroy! Frühere Verhältnisse und Häuptling Abendwind.“
Da war er also wieder, mein Johann Nepomuk!
Naja, warum nicht, dachte ich. Da kann ich auf dem aufbauen, was ich bei Manker und Kohut gelernt habe und als Regisseur endlich auch ungehindert ausloten, was ich damals vermisst hatte. Ich wollte mehr Schärfe, mehr Bezug zur Realität, mehr Assoziation zum Heute; wollte – ohne jedes Zeitgeist-Getue – so weit wie möglich wegkommen von den tradierten, gängigen Possenklischees.
Meinen, wie ich finde, gar nicht so ungelungenen Versuch quittierte ein damals namhafter Kritiker mit dem vernichtenden Schlusssatz: „Bei diesem Regisseur wird sich Johann N. wohl im Grabe umdrehen!“
Nach so einer Hinrichtung war es nur ein schwacher Trost, dass das Publikum die Vorstellung sehr wohl goutierte. Ich war am Boden zerstört.
Kurz darauf rief mich mein ehemaliger Lehrer und späterer Freund Bruno Dallansky an. Er erzählte mir, dass er zusammen mit dem Schriftsteller György Sebestyen und Burgtheater- Beleuchtungschef Sepp Nordegg einen wunderbaren Spielort, den eben renovierten Schlosshof Rothmühle, entdeckt habe und fragte mich, ob ich nicht probeweise mit den dort ansässigen Amateuren, die ein gewisser Walter Mock um sich versammelt hatte, ein Pilotprojekt betreuen wolle. Im nächsten Jahr werde man dann die ganze Sache mit Hilfe von Großsponsoren und prominenten Schauspielern so richtig angehen.
„Was denn für eine Sache?“, fragte ich.
„Nestroy! Nestroy in der Vorstadt, dort, wo er eigentlich hingehört.“ Nein, nicht schon wieder, dachte ich. Nestroy – noch dazu mit Laien! Andererseits: besser Nestroy als Wildgans, besser ein Provisorium als gar nix, und es ist ja ohnehin nur so nebenbei im Sommer. Hauptsache: ich kann mich ausprobieren und hab Spaß dabei!
Ja – und wie das schon so ist mit Provisorien, ganz besonders in diesem Land: aus dem sommerlichen „Gspusi“ wurde eine „never ending lovestory“ und schließlich eine Art „wilder Ehe“, die heuer in ihr unglaubliches 35. Jahr geht.
Schon nach der ersten Premiere war klar: es wird keine Großsponsoren geben und auch keine Stars. Wozu auch? Diese ungewöhnliche, semiprofessionelle Kombination war ein Volltreffer – ein Glücksfall, der von Publikum und Presse begeistert angenommen wurde. In Wien und Umgebung war ja damals kulturell im Sommer kaum was los, und wenn, waren es eher lauwarme Aufgüsse, mit denen sich urlaubende Schauspieler ein bisschen was dazuverdienten. Die Schwechater Amateure hingegen waren hochmotiviert, ernsthaft und lustvoll bei der Sache und gingen loyal und neugierig mit allem mit, was auch immer ich ihnen abverlangte. Mit ihrer uneitlen, unkonventionellen Art befreiten sie Nestroy vom verblasenen Würgegriff der Hochkultur und von verharmlosender Ästhetisierung und erfüllten so Dallanskys Wunsch, Nestroy in die Vorstadt zurückzuholen, nahezu ideal.
Und sie wurden von Jahr zu Jahr besser und differenzierter.
Also machte ich weiter – Jahr um Jahr.
Bei meinen späteren Nestroy-Inszenierungen an großen Häusern (Der Talisman in Salzburg, Kaiserslautern und Graz, Freiheit in Krähwinkel am Volkstheater, Mein Freund im Theater in der Josefstadt und Frühere Verhältnisse in den Kammerspielen) war ich oft ziemlich perplex, wie leicht sehr gute professionelle Schauspieler auf ihrer Suche nach artifizieller, interessanter Eigenprofilierung den unmittelbaren Bezug zu Nestroys Volksfiguren und zu der Wirklichkeit, der sie entstammen, verlieren.
Hier in Schwechat wussten und wissen die Spieler fast immer „ung´schauter“, wovon Nestroy erzählt. In der durch die jeweilige Konzeption vorgegebenen Form setzen sie es schnörkellos, erdig und vor allem immer gemeinsam, als Ensemble, um. Das wurde – zusammen mit der Art meines persönlichen Zugangs zu Nestroy – ein Markenzeichen der Nestroy-Spiele und hat mich immer wieder dazu motiviert weiterzumachen.
Und so haben jetzt insgesamt 34 seiner über 80 Stücke hier im Schlosshof das Licht der Welt erblickt, in wechselseitiger Anregung thematisch begleitet von den interessanten Vorträgen der inzwischen zu Freunden gewordenen Nestroy-Wissenschafter bei den Internationalen Nestroy-Gesprächen.
Besonderes Anliegen waren mir dabei die vielen unbekannten, oft unterschätzten „Ladenhüter“, die an anderen Theatern kaum eine Chance auf Verwirklichung haben. In der Rothmühle wurden sie erfolgreich zu neuem Leben erweckt und rehabilitiert. Stücke wie Die Papiere des Teufels, Robert der Teuxel, Wohnung zu vermieten, Adelheid, die verfolgte Witib, Abentheuer in der Sclaverey, Die Familie Maxenpfutsch oder Der confuse Zauberer haben nicht nur unterhalten, sie hatten – bei richtiger Lesart – unter der kulinarischen Oberfläche oft Wesentlicheres und Kritischeres zu sagen als so manches modische Stück von heute.
Auch wenn ich oft Zweifel hatte: heute bin ich stolz darauf, wie wir unseren Weg gegangen sind; dass wir nie oberflächlich waren und uns – ohne jede Anbiederung – künstlerisch und wirtschaftlich behaupten konnten inmitten des immer härter werdenen Konkurrenzkampfes der Sommertheater.
Wir mussten, konnten und wollten nicht mitmachen beim Wettlauf um prominente, seitenblicketaugliche Besetzungen, beim Sich-gegenseitigÜbertrumpfen durch die Anhäufung irgendwelcher Nebenveranstaltungen und bei der generellen Tendenz zur Gigantomanie sommertheaterlicher „events“. Und das war gut so.
Schwechat ist ein kleiner, aber feiner Spielort geblieben, der als einer der ältesten einen fixen, anerkannten Platz im heterogenen Gefüge des Theaterfestes Niederösterreich einnimmt.
Nach so vielen Jahren und mit einer solchen Bilanz kann man stolz, zufrieden und glücklich sein. Bin ich auch. Aber dass ich jetzt überall als „Nestroy-Experte“ gelte, ist nicht nur schmeichelhaft. Es ist auch schrecklich, weil man damit so eindimensional eingeordnet und festgelegt wird. Wenn ich an anderen Häusern (leider fast immer nur im Ausland) zur Abwechslung manchmal auch Shakespeare, Büchner, Horvath, Behan, Schwab oder einen anderen meiner Lieblingsautoren inszenieren darf, bin ich immer heilfroh. Das gibt mir wenigstens ein paar Wochen lang das Gefühl, ihn los zu sein – diesen übergroßen Schatten des Johann Nepomuk. Andererseits – er ist schon ein toller Autor. Das Geheimnis des grauen Hauses etwa hatte ich immer total unterschätzt, und jetzt erweist es sich in der Arbeit als höchst spannender, sehr eigenartiger expressionistischer Bilderbogen von zeitloser Gültigkeit, der durch die exakte Schilderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und Sehnsüchte von 1837 erstaunlich ins Heute verweist. Brillant!
Und es gibt auch noch andere kaum beachtete Nestroy-Stücke, deren Wiederentdeckung oder Neuinterpretation vielleicht lohnt, und die sich hier im Schlosshof der Rothmühle wunderbar realisieren ließen wie z.B. – naja, ich will nichts verschreien.
Ich fürchte, ich werde ihnen nicht entgehen, und ich hoffe, Sie auch nicht. In diesem Sinne: viel Vergnügen! (Peter Gruber)