Freiheit in Krähwinkel
8. Nestroy-Spiele Schwechat 1980 im Schlosshof der Rothmühle in Schwechat-Rannersdorf, 2320 Schwechat, Rothmühlstraße 5, im Juli 1980
Besetzung
- Bürgermeister und Oberältester von Krähwinkel Willibald Mürwald
- Sperling Edler von Spatz Georg Wertnik
- Rummelpuff, Kommandant der Krähwinkler Stadtsoldaten Fritz Pfertner
- Pfiffspitz, Redakteur der Krähwinkler Zeitung Rudolf Kaltenbrunner sen.
- Eberhard Ultra, dessen Mitarbeiter Robert Herret
- Reakzerl Edler von Zopfen, geheimer Stadtsekretär Werner Schwetz
- Frau von Frankenfrey, eine reiche Witwe Mariette Michielsen
- Sigmund Siegl, subalterener Beamter Rudolf Kaltenbrunner jun.
- Willibald Wachs, subalterner Beamter Franz Steiner
- Frau Klöppl, Witwe Margarete Seitl
- Franz, Kellner Leopold Selinger
- Klaus, Ratsdiener Horst Kummerfeld
- Emeranzia, dessen Gattin Gertrude Pfertner
- Cäcilie, dessen Tochter Brigitte Ziegler
- Der Nachtwächter Peter Wittberger
- Walpurga, dessen Tochter Susi Urban
- Pemperl, Klempnermeister Walter Mock
- Schabenfellner, Kürschner Siegfried Kieberl
- Frau Pemperl Edeltraud Selinger
- Frau Schabenfellner Marisa Travnik
- Babette, Pemperls Tochter Gabriele Altrichter
- Frau von Schnabelbeiß, Geheimrätin Victoria Posch
- Adele, ihre Tochter Maria Hoffmann
- Eduard, Bedienter der Frau von Frankenfrey Leopold Selinger
- Soldat Armin Kraft
- Regie Peter Gruber
Pressestimmen
Profil: Bissig und verbissen
Im Schloß Rothmühle bei Schwechat wird Nestroy seit Jahren unorthodox inszeniert: böse, puritanisch und unverblümt.
Er schrieb nur Wiener Lokalstücke und im Dialekt. Trotzdem ist es heute einer der meistgespielten Bühnenautoren in der Bundesrepublik. In Italien werden seine Komödien ab und zu im Spaghetti-Stil inszeniert. Sogar Japaner lächeln über seine Pointen – quasi als Österreich-Exotik in Tokio. Und hierzulande vermag sein Name selbst mieselsüchtige Theatermuffel zu ermuntern. Allerdings werden Johann Nestroys beißende Possen an heimischen Bühnen am liebsten verharmlost, verzuckerlt, verbiedermeiert serviert.
Nicht so in Schwechat. Dort betreibt die Laienspielgruppe St. Jakob ihre Nestroy-Idee zwar spaßhalber, aber ernsthaft. Derzeit beschwört sie dreimal pro Woche die Revolutionsposse aus dem Jahre 1848, „Freiheit in Krähwinkel“ herauf. Verbissen und bissig. Aktualisiert – „böse“, hofft Regisseur Peter Gruber, „politisch, damit sie wieder trifft“ – und mit jener Respektlosigkeit, mit der sich der Vorstadtschreiber vormals Respekt verschafft haben mag.
Wenn abends die weniger perfekten als direkten Spieler in schwarzweißen Biedermeierkostümen, mit grellweißen Biedermeierkostümen, mit grellweiß geschminkten Gesichtern so emsig wie die Gelsen über ihre selbsgehämmerte Freilichtpawlatsche schwirren, dann offerieren sie weder patzig-primitive Schmiere noch artifizielle Schauspielerselbstherrlichkeit.
„Dank ihrer amateurhaften Anonymität“, weiß Profi Gruber, „können sie Nestroy-Szenen viel besser und klarer vermitteln.“
Folglich entwickelten sie innerhalb von acht Jahren jenen naiv-puritanischen Vorstadttheaterstil, der selbst Bundesbühnen-Rezensenten imponiert: „Was Nestroy betrifft, ist Wien eine Vorstadt von Schwechat.“ („Kurier“)
Ursprünglich hätte Schloß Rothmühle, ehemals Wohnsitz des Magnetiseurs F. A. Mesmer, später Jagdschloß, Wäscherei, schließlich im Besitz einer Bierbrauerei und 1972 von der Gemeinde Schwechat für 8 Millionen Schilling als Kulturzentrum renoviert, Sommerdependance für abgeschlaffte Stadttheater- oder unausgelastete Burgschauspieler werden sollen. Denn auf der Suche nach einem geeigneten Ort für Nestroy-Spiele im originalen Vorstadtmilieu für Touristen hatten Burgschauspieler Bruno Dallansky und Schriftsteller György Sebestyen den romantischen Schloßhof für „geeignet“ befunden.
Auch war das Engagement der Laienspielgruppe St. Jakob und des Jungregisseurs Peter Gruber für die beiden Einakter „Frühere Verhältnisse“ und „Zeitvertreib“, 1973, lediglich zum Ankurbeln der Nestroy-Spiele gedacht.
Doch mit dem ersten Erfolg hat sich die Gruppe inzwischen selbst etabliert: mit einer Subvention von rund 700.000 Schilling – davon 230.000 von Land, Gemeinde und Bund, der Rest privat –, mit zwölf Vorstellungen pro Saison, in der sie bis zu 6000 Besucher zählt, und mit ihrer Originalität.
Sie wagte es im Spielplankonzept sogar, zwischen ungewöhnlich inszenierten Populärpossen, wie „Lumpazivagabundus“ oder „Einen Jux will er sich machen“, und unbekannten Feinschmeckerstücken abzuwechseln. So etwa „Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab“, die Parodie auf ein sentimentales Rührstück über ein Dichterdasein zwischen Simmering und Fischamend, publikumsmäßig ein Wagnis.
Inzwischen hat sich das verträumte Schlößchen Rothmühle mit Hilfe des Spielgruppenleiters Walter Mock überhaupt zur Nestroy-Hochburg gemausert: Die Internationale Nestroy-Gesellschaft hält dort ihre Tagung ab. Jetzt pilgern gedankenschwangere Nestroy-Forscher – aus Washington bis Wien – in die kulturbeflissene Brauerei-Kleinstadt, um allsommerlich (seit sechs Jahren) in Konnex mit den Spielen „Internationale Nestroy-Gespräche“ abzuführen. Diesmal zum Thema „Der politische Nestroy“.
Obwohl der Volkskomiker des Vorstadttheaters und Autor von 83 burlesken, grotesken und realistischen Possen die „angeborene Feindschaft zwischen arm und reich“ gestaltet hat und Sozialkritik an seiner eigenen, der bürgerlichen Klasse übte, sei er, so Nestroy-Spezialist Johann Hüttner vom Institut der Theaterwissenschaft, „doch kein politischer Dichter gewesen. Auch kein Linker, nur liberal“. Er habe, wie alle, unter falschen Fahnen gekämpft, und seine Gesellschaftskritik möglichst vermummt und verschleiert.
Im übrigen betrieb er Selbstzensur, indem er jene Stellen, die den Zensor ärgern könnten, auf seinem Manuskript mit einem Kreuz bekritzelte. Für Nestroy-Forscher mit dem Ergebnis: Sexuelle Anspielungen entferntester Art (so etwa die Formulierung „sie spreizte sich“ statt sie weigerte sich), Hinweise auf den sozialen Unterschied („Liebe ist Demokratie des Herzens. Sie schaut nicht nach dem Stand“) und Kirchenkritik wurden radikal eliminiert.
Mit einer Ausnahme: Als im Jahre 1848 während der Wiener Revolution eine Zeitlang Zensurfreiheit herrschte, wurde am 1. Juli am Carltheater „Freiheit in Krähwinkel“ uraufgeführt: Ein anarchistisch angehauchter Journalist, Ultra, verirrt sich in eine „verzopfte“ Kleinstadt (Wien), die anscheinend die letzte hundert Jahre verschlafen hat, und mischt beim Aufstand der Kleinbürger mit.
Nestroy zeichnete solcherart Wiener Mißstände gleichermaßen wie die revolutionären Ereignisse nach, analysierte die führungslose, laxe Grundhaltung der Bevölkerung und warnte zugleich vor der Reaktion.
Weil die Revolte wider die Diktatur des Krähwinkler Bürgermeisters (Symbolfigur für Metternich) und jede Szene so eng mit der Revolution verwoben und voller zeitgebundener Anspielungen war, wurde das Stück später kaum mehr gespielt.
Mit einem neuen Titel, „Revolution in Krähwinkel“, kam die Posse 1939 im Wiener Theater in der Scala, inhaltlich im Dienste des Naziregimes zurechtgetrimmt, wieder auf die Bühne. Der Bürgermeister wurde zur Figur des Exbundeskanzlers Schuschnigg, und das Wörtchen „Freiheit“ in den Couplets ersetze man vielfach durch „Führer“.
Während das Wiener Cafétheater genauso wie das Volkstheater der siebziger Jahre an der Inszenierung selbst Schiffbruch erlitt, scheiterte 1976 ein BRD-Regisseur am Krähwinkler Geist der Kleinstadt Memmingen, wo blitzsaubere Fassaden von Fachwerkbauten örtliches Aushängeschild für Zucht und Ordnung sind: Als der dortige Bürgermeister die Posse sah, fühlte er sich persönlich betroffen und erteilte dem Regisseur Berufsverbot – in Memmingen.
In Schwechat hingegen nimmt sich „Krähwinkel“-Regisseur Gruber die Freiheit, den Journalisten als einen Mann der kreiskyanischen Ära zu skizzieren, der sich in die Metternichsche Diktatur verirrt. Da dieses Nestroy-Produkt „weniger literarisch wertvoll als politisches Kabarett aus dem Jahre 1848“ sei, ergänzte Gruber den Text zum Teil mit aktueller Innen- und Außenpolitikkritik, zum Teil mußte er lediglich Namen und Begriffe austauschen.
Was, meint der Regisseur, bedeute, daß sich seit Nestroy nicht allzuviel Grundsätzliches verändert hat. „Mir ist“, singt folglich der Jetztzeit-Ultra, „nicht geheuer. Gibt’s a neues Biedermeier? Mir brauch’n nix denken. Der Bruno tut’s lenken.“