Von Jürgen Hein
Johann Nepomuk Nestroy (1801–1862) lässt eine seiner Bühnenfiguren sagen: „Was hat denn die Nachwelt für mich getan? Nichts! Gut, das nämliche tu‘ ich für sie!“
Mit dem ersten Teil des Zitats hat er leider lange recht gehabt. Wenn auch um die Jahrhundertwende Nestroys Werk bekannt war und häufiger gespielt wurde – immerhin über 80 Stücke, von denen mehr als 15 zum ständigen Repertoire auch heutiger Theater gehören –, so dauerte es doch noch länger, bis sich die Wissenschaft seiner annahm und Theaterinszenierungen den üblichen verharmlosenden, auf derbe Komik abzielenden Darstellungsstil durchbrachen.
Ödön von Horváth, Thornton Wilder, Friedrich Dürrenmatt und andere haben auf die Modernität Nestroys hingewiesen. Karl Kraus, der großen Anteil an der Nestroy-Renaissance hat, schrieb in seinem berühmten Essay „Nestroy und die Nachwelt“ (1912), Nestroy sei kein österreichischer Dialektdichter, sondern ein deutscher Satiriker. Als solcher war er freilich den wenigsten bekannt, die in ihm nur den harmlos-idyllischen Singspiel-Autor der Biedermeierzeit sahen. Dass das Musical „Hello, Dolly“ auf eine seiner Possen zurückgeht, hat dieses Vorurteil nicht gerade entkräftet. Die Tatsache, dass Nestroy in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts an vorderer Stelle unter den am meisten gespielten Dramatikern steht, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass er vielfach in seiner zugleich unterhaltenden und kritischen Potenz unterschätzt wird; Karl Kraus meinte zurecht: „Die Nachwelt wiederholt seinen Text und kennt ihn nicht.“
So war Nestroy bekannt und unbekannt zugleich, als sich 1926 zu seinem 125. Geburtstag in Wien der „Bund der Nestroyfreunde“ mit dem Ziel gründete, „dem Wiener Aristophanes Johann Nestroy in seiner Vaterstadt Wien ein würdiges Denkmal zu errichten“. Am 22. Juni 1929 wurde auf dem Platz vor dem Carl-Theater, Nestroys wichtigster Wirkungsstätte, eine überlebensgroße Bronzeplastik enthüllt. 1942 abgebaut, entging das Denkmal dem Einschmelzen, wurde nach dem Krieg auf einem Schrottplatz wiedergefunden, am 18. November 1950 im Hof des Reinhardt-Seminars wieder aufgestellt und erhielt am 2. September 1983 seinen heutigen Platz in der Nähe des damaligen Standorts in der Leopoldstadt. Dies geschah auf intensives Betreiben der Internationalen Nestroy-Gesellschaft, die inzwischen auf diesem Sektor die Nachfolge des nicht mehr bestehenden „Bundes der Nestroyfreunde“ angetreten hatte.
Schon Ende der sechziger Jahre gab es Gründungsbemühungen, doch kam es erst 1973 durch Appelle und Initiativen in der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich zur Gründung in Wien. Zu den wichtigsten Förderern gehörten Otto Basil, Hans Weigel, Gustav Manker und Franz H. Mautner. Bereits 1974 konnten zusammen mit dem Nestroy-Komitee der Stadt Schwechat (heute: Internationales Nestroy Zentrum) die ersten Internationalen Nestroy-Gespräche stattfinden, ein Forum für Germanisten, Theaterwissenschafter, Theaterleute des professionellen wie nicht-professionellen Theaters, für Lehrerinnen und Lehrer, gleichermaßen für eine interessierte breitere Öffentlichkeit. Die Resonanz der im dritten Jahrzehnt stehenden Gespräche ist unverändert positiv; Theater, Schule und Wissenschaft haben eine Fülle von Anregungen empfangen und weitervermittelt, die sich in neuen Inszenierungen und wissenschaftlichen Arbeiten niederschlugen. Die Themen dokumentieren die Bandbreite und markieren Aufgaben der künftigen Beschäftigung:
Nestroys Wirkung auf dem Theater und in der Literatur (1975); Nestroy, eine Europäer (1976); Nestroy und das Biedermeier (1977); Wie inszeniere ich Nestroy? (1978); Vom Vorläufer des „Jux“ bis zu „Hello Dolly“ (1979); Der politische Nestroy (1980); Nestroy: ein Philosoph und Denker? (1981); Nestroy und das Rollenbild – im speziellen das der Frau (1982); Nestroy: Parodie und Operette (1983); Nestroy-Verständnis 1848 bis 1984 (1984); Nestroy und die Zeitgenossen (1985); Nestroy – ein Klassiker? – Literarische Tradition – Schule – Bühne – öffentliches Bewusstsein (1986); Militär und Militanz auf dem (Volks-)Theater des 19. Jahrhunderts und Zwillinge und Doppelgänger auf dem Theater (1987); „’s is wircklich famos, wie der Fortschritt so groß“: Politische, ökonomische und soziale Krise im Vormärz und ihre Spiegelung in den Medien (1988); „Es sind gewiß in unsrer Zeit die meisten Menschen Handelsleut“: ,Ökonomie‘ und ,Konsum‘ in Leben und Werk (1989); Das Böse, Magische und Irrationale bei Raimund und Nestroy (1990); „[…] wann man nur kann rauchen dabey“: Theatralisches von Mozart bis Grillparzer und Nestroy (1991); Theater, magische Künste; Landschaft und Reisen bei Nestroy (1992); „Zu ebener Erde und erster Stock“: Oben und unten, Herren und Diener, Geld und Glück (1993); Nestroy und die Geschichte (1994); Nestroys Wien und anderswo (1995); „Wegen was tun s’ so G’schichten machen“: Österreichisches und Fremdes bei Nestroy und Zeitgenossen (1996); „Das wär’ so a Stoff jetzt, allein ich verschluck’s –“ (1997); „Es stelln sich gar Manche, wie d’ Lamperln so frumm“ (1998); „Nur der geistlose Mensch kann den Harm übersehn, der überall durch die fadenscheinige Gemüthlichkeit durchblickt“ (1999); „Bis zum Lorbeer versteig’ ich mich nicht.“ (2000); In anderen Welten (2001); Aus der Vorstadt in die Welt oder „Na, laßt man ein Jed’n sein Freud“ (2002); „’s is jetzt schön überhaupt, wenn m’r an etwas noch glaubt“ (2003).
Die Zeitschrift „Nestroyana. Blätter der Internationalen Nestroy-Gesellschaft“ dokumentiert seit 1979 Ergebnisse und Fortschritte der Bemühungen, Nestroys Leben und Werk in angemessener Weise Fachleuten wie Liebhabern näher zu bringen, die Erforschung und Inszenierung der Stücke weiter anzuregen. Eine Ergänzung bildet die Schriftenreihe „Quodlibet“, in der u.a. Nestroys „Reserve“ erstmals ediert wurde und ein Führer durch Nestroys Stücke erschien. Weiter hat sich die Gesellschaft der Erforschung des Wiener Volkstheaters insgesamt angenommen und pflegt engen Kontakt mit der Raimundgesellschaft
In der wissenschaftlichen Arbeit hat sich die Internationale Nestroy-Gesellschaft seit ihrem Bestehen besonders der Förderung einer neuen kritischen Gesamtausgabe der Werke Nestroys verschrieben. Ihre Bemühungen wurden belohnt, als 1977 die beiden ersten Bände unter der Herausgeberschaft von Jürgen Hein und Johann Hüttner erschienen („Briefe“ und „Johann Nestroy im Bild“). Das Herausgeber-Team wurde 1992 um W. Edgar Yates und Walter Obermaier erweitert. Zu Nestroys 200. Geburtstag im Jahre 2001 wurde die 52 Bände umfassende historisch-kritische Edition (HKA) abgeschlossen. Verschiedentlich hat die Internationale Nestroy-Gesellschaft kleinere Editionskolloquien gefördert, die dem Fortschritt der Ausgabe dienten. Im Zusammenhang mit der Ausgabe werden erstmals wieder seit den Pionierarbeiten Otto Rommels aus den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts die wesentlichen Grundlagen wissenschaftlicher und theaterpraktischer Beschäftigung mit Nestroy geschaffen. Von entscheidender Bedeutung für das Gelingen der neuen Edition waren auch vier dem Werk Nestroys und seinen Produktionsbedingungen gewidmete „Wiener Vorlesungen“ („Vom schaffenden zum edierten Nestroy“ 1992; „Der unbekannte Nestroy: Editorisches, Biographisches, Interpretatorisches“ 1994; „,Bei die Zeitverhältnisse noch solche Privatverhältnisse‘: Nestroys Alltag und dessen Dokumentation“ 1997; „Hinter den Kulissen von Vor- und Nachmärz: Soziale Umbrüche und Theaterkultur bei Nestroy“ 2000).
In ihrer Öffentlichkeitsarbeit hat sich die Gesellschaft auch um die Förderung adäquater Inszenierungen und um den Dialog mit dem Publikum verdient gemacht, wobei auch weniger bekannte Stücke mit Fragen der Bearbeitung, Inszenierung, Dramaturgie, Regie und Darstellung sowie das Problem der Übersetzung in fremde Sprachen in den Blick kamen. Bei den bereits erwähnten Internationalen Nestroy-Gesprächen hat es immer wieder Workshops zu diesen Aspekten gegeben.
International hat sich die Gesellschaft an Symposien in Nancy (1982–1984), London (1984), Paris (1991) und Mailand (2001) beteiligt; international waren auch die Teilnehmer und Referenten an den Nestroy-Seminaren in Salzburg. Auf große Resonanz stieß 1981 ein Nestroy-Seminar für Gymnasiallehrer in Wien. Hier wie auch bei den Nestroy-Gesprächen 1986 über den ,Klassiker‘ und Schulautor Nestroy und späteren Nestroy-Seminaren zur Lehrerfortbildung war es das Bestreben, die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung im besten Sinne zu popularisieren und den immer noch bestehenden Vorurteilen und Missverständnissen der Interpretation entgegenzuwirken. Die Verklammerung von Schule, Theater, Öffentlichkeit und Wissenschaft stellt ein wesentliches Ziel der Arbeit der Internationalen Nestroy-Gesellschaft dar.
Waren es anfangs eher die Geburts- und Todestage, die Anlass für Aktivitäten boten, kann die Gesellschaft jetzt auf eine kontinuierliche Arbeit zurückblicken und für die Zukunft neue Ziele ins Auge fassen. Ein wichtiges Ergebnis der Bemühungen ist – auch ablesbar am zunehmenden Interesse im Ausland –, das Bewusstsein dafür geweckt oder geschärft zu haben, dass die Beliebtheit Nestroys nicht selten in der Unkenntnis und Verstümmelung seines Textes gründet, der unbedingt beim Wort genommen werden muss, damit er nicht in verzuckerten scheinbiedermeierlichen, operettenwienerischen oder nach dem Boulevardtheater schielenden Inszenierungen verkommt. Bei Nestroy findet sich schon die Dialektik von Form und Inhalt, die das moderne Drama auszeichnet.
Die Internationale Nestroy-Gesellschaft hat sich zur Aufgabe gemacht, sowohl den historischen wie den modernen, aktualisierten Nestroy in Interpretation und Inszenierung zu fördern und ihn vor ideologischen Vereinnahmungen und Fehldeutungen zu schützen; die Pflege der Gedenkstätten und Gedächtnisorte gehört zu den Selbstverständlichkeiten, um die Erinnerung an diesen großen Komödienautor und Theatermacher wach zu halten, dessen Wirkungskreis das gesamte deutsche Sprachgebiet war und im überwiegenden Maße noch ist. Ein eigenes Nestroy-Archiv gibt es (noch) nicht, doch hilft die Gesellschaft nach Kräften bei der Materialbeschaffung für Ausstellungen, Inszenierungen, publizistische und wissenschaftliche Vorhaben (vgl. auch das Online-Archiv des Internationalen Nestroy-Zentrums Schwechat. Dabei ist, wie schon erwähnt, das Spektrum auf das gesamte Wiener Volkstheater ausgeweitet. Das Vorschlagsrecht, das die Gesellschaft bei der (bis 1999) jährlichen Verleihung des „Nestroy-Ringes der Stadt Wien“ ausübt, und die Vergabe der „Johann-Nestroy-Ehrenmedaille“ dokumentiert überdies das Interesse und Engagement am gegenwärtigen literarischen und theatralischen Schaffen in seinem Geist.