Nestroy-Spiele 2018: Pressestimmen

 
Falter 27/18: Kühle Grausamkeit und die Leere alles Türkisen

Unten streiten sie um einen Laib Brot, in der oberen Wohnung schmeißen sie das Geld aus dem Fenster. Die Nestroyspiele geben auf ihrer dafür perfekt geeigneten Freiluftbühne zum dritten Mal den Klassiker „Zu ebener Erde und erster Stock“. Schauspielprofis treffen auf Laien, und Regisseur Peter Gruber dirigiert sie wie so oft zu dichtem Ensemblespiel ohne Schnickschnack. Der Text und die verwickelte Liebeshandlung wurden diesmal relativ original belassen, Nestroy’scher Biss erwächst vor allem aus tagesaktuellen Couplets. Ein denkwürgiges über die Leere alles Türkisen singt Florian Haslinger in der Rolle des Sekretärs der „Oberen“. Überhaupt füllt Haslinger diesen Johann perfekt mit herrlich kühler Grausamkeit aus. Besonders viel Freude „unten“ machen Rahel Kislinger als Salerl und Erwin Leder als Schlucker. (Martin Pesl)

Kurier, 4. Juli 2018: Nestroy heutig, flott, bitterböse und mit sehr viel Sozialkritik

Unten stapeln sich die Besitztümer der Tandler-Familie Schlucker in Bananenkartons und „Jugo-Koffern“, oben umgibt Rot-Gold den herrschaftlichen Salon des Investors Goldfuchs. So macht bereits die von Andrea Bernd gestaltete Simultanbühne die sozialen Implikationen deutlich: Unten kann man trotz hektischer Betriebsamkeit kaum überleben, oben prasst man in ungehemmter Konsumgier.

Nestroy hat in „Zu ebener Erde und erster Stock“ die beiden Sphären noch durch allerlei Liebesbande und Verfuhrungsversuche verwoben, bis schließlich die Launen des Glücks die Verhältnisse umkehren …

Peter Gruber reichert bei den Nestroy-Spielen Schwechat einerseits das Stück mit messerscharfen politischen Zusatzstrophen zu den Couplets an (was die FPÖ Schwechat in Rage brachte, Anm ), andererseits verwandelt er den Adoptivsohn Adolf in ein von Schlucker aufgenommenes ,,Asylantenbankert“ (Hasan Al Kasseir).

In den Tandler Schlucker steigert sich Erwin Leder furios hinein, konterkariert vom überheblich nasalierenden Franz Steiner als Goldfuchs. Florian Haslinger setzt dessen ungenierten Sekretär mit großer Klasse um. Die jungen Frauen setzen auf beiden Ebenen starke Akzente (Ines Cihal, Elisabeth Spiwak und Rahel Kislinger). Gemischt aus Originalklängen und angeschrägten Tönen gestaltet Otmar Binder vom Klavier aus die musikalische Seite. (Barbara Palffy)

Neue Zürcher Zeitung, 24. Juli 2018: Wiens Theater machen Ferien, aber die Gerüchteküche brodelt

Theaterferien in Wien. Und es könnte so schön sein. Könnte! Denn mitten in der wohlverdienten Ruhe vor Mimen und Mimosen gären die Bühnen-Gerüchte und Gewissheiten, die den gen Atter- oder Wolfgangsee enteilten Sommerfrischler nervös machen. Droht der Schauspieler-Ausverkauf an der Burg? Wird das Volkstheater aufmüpfig?

Und Peter Turrini zieht die Waffen und geht öffentlich gegen den landesweiten politischen Rechtsruck und namentlich die FPÖ vor („Das Schlimmste sind die Phantasien, die gleich nach der Regierungsbildung bei FPÖ-Politikern aufgetaucht sind“). Die Rechtspartei wettert ihrerseits gegen umgedeutete Nestroy-Couplets.

Gemacht, sagt man sich und geht in die Meierei im Volksgarten. Dort sitzt Klaus Missbach, Chefdramaturg am Burgtheater. Er dürfte der letzte Theatermacher dieser Saison im ferienbedingt verlassenen Wien sein – so richtig beruhigen kann er freilich nicht. Zwar sagt er, dass die politische Schieflage in der Hauptstadt, die immer offen für alles Neue und Fremde war, gar nicht so spürbar sei: „Wien ist nicht Österreich.“ Das Theater müsse jedoch wachsam bleiben. „Der Rechtsruck ist da.“

Die nächste Spielzeit wird Missbachs letzte an der Burg sein: Er geht mit der Interims-Intendantin Karin Bergmann, die den finanziell in Bedrängnis geratenen Laden ziemlich souverän über die Zeiten gerettet hat. Und danach? Der Dramaturg prophezeit dem neuen Chef, dem aus München kommenden Martin Kusej, schwere Zeiten. Nicht nur dass er sämliche noch nicht aufgearbeiteten Unstimmigkeiten übernehmen wird, er wird sich auch künstlerisch und mit neuem Personal behaupten müssen. Das sei in Wien, wo der Schauspieler mehr gilt als der Kardinal, äußerst heikel. Und Missbach hat das noch nicht richtig ausgesprochen, da läuft durch die Rotation des „Standards“ schon ein großer Feuilleton-Aufmacher für den nächsten Tag: „Publikumslieblinge auf Abruf“. Kusej spricht zwar nicht mehr davon, dass er „den halben Suppentopf ausleeren“, also das Ensemble bis zur Unkenntlichkeit verändern wird; auch sei es nicht wahr, dass knapp die Hälfte der Mitglieder den Hut nehmen müsse, damit bewährte (Münchner) Künstler mit dem neuem Intendanten nach Wien umziehen könnten.

Aber es wird sich einiges tun beim Stammpersonal der Burg, und die Abonnenten werden ab Herbst 2019 so manches gewohnte Gesicht vermissen. Ein normaler Vorgang, wie Kusej zu Recht sagt, und er wehrt sich vorab schon gegen alle Spekulationen. Das Gerücht und die Denunziation seien „die Wiener Form der Kommunikation“, merkt er im Interview an. Nun ist Kusej ein gebürtiger Österreicher. Er muss wissen, wie uns wovon er spricht.

Das kann man im Fall Anna Badora am Wiener Volkstheater dagegen nicht so genau sagen. Die Intendantin hat angekündigt, sich nicht für eine zweite Amtszeit (ab 2020) zu bewerben. Doch hinter nur schlecht vorgehaltener Hand meint man an der Donau, dass Badora nur der drohenden Nichtverlängerung ihres Vertrages zuvorgekommen sei. Sie war glücklos in dem kleineren Haus, fand nicht den inhaltlich kontroversen Kurs, die Auslastungszahlen sprachen am Ende auch gegen sie.

Da halfen auch keine Versuche, zeitgenössisch und aktuell sein zu wollen. Jetzt führt Badora an, dass sie vor allem wegen der künftigen unsicheren Finanzlage die Segel streicht. Als gescheitert sieht sie sich gleichwohl nicht: „Wir haben einen Spagat versucht“, meint sie in einem Interview. „Die einen haben gesagt, wir seien zu radikal, die anderen haben Radikalität vermisst. Dadurch haben wir zunehmend Kritik von beiden Seiten bekommen.“

Klaus Missbach in der Meierei sagt, man müsse jetzt analysieren, welche Art von Theater in Wien, wo es neben Burg und Schauspielhaus eine Vielzahl von produktiven freien Gruppen gebe, überhaupt gefragt sei. Für das Volkstheater wünsche er sich eine Rückbesinnung auf die erste Silbe des Namens.

Es ist eine trügerische Ferienstimmung in Wiener Theaterkreisen. Zwei große Häuser stehen bald vor einem Neuanfang, und dass die Hauptstadt nicht das ganze Land ist, kann man wohl so auch nicht unterschreiben. So laufen etwa FPÖ-Gemeinderäte gegen die Nestroy-Festspiele in Schwechat Sturm, weil dort ein wenig unsanft, aber ganz im Sinne Nestroys gegen den Bundeskanzler Kurz gestänkert wird und die blauen Freiheitlichen mit braunen Freiheitsgegnern verglichen werden. Der Intendant Peter Gruber gibt sich gelassen, gleichwohl alarmiert: „Ich schreibe seit vielen Jahren Nestroy-Couplets, aber dass mir vorgeschrieben wird, was ich schreiben darf und was nicht, das ist neu.“

Vielleicht schaut nach dem Sommer alles wieder ganz anders aus in Wien? Menschen, sagt Turrini, produzierten schließlich nicht nur Gefühlsüberschüsse, sondern auch Wortüberschüsse. (Bernd Noack)

Online Merker, 1. Juli 2018: … mit der Direktheit eines Brecht’schen Lehrstücks …

Es ist (wie der „Bruderzwist in Habsburg“) ein Stück mit verhatschtem Titel: „Zu ebener Erde und erster Stock“ – man möchte glatt daran herumkorrigieren. Aber glücklicherweise hat Johann Nestroy alles andere als ein verhatschtes Stück geschrieben, im Gegenteil: Das, was unsere Gesellschaft als „Ihr da oben, wir da unten“ definierte, hat er in diesem Stück, das die Gesellschaft so sinnig zweiteilt wie die Bühne, geradezu mit der Direktheit eines Brecht’schen Lehrstücks auf die Bühne gebracht.

Allerdings war Nestroy alles andere als ein Sozialromantiker – dass arme Leut’ auch gute Leut’ sein müssen, wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Dass hingegen Geld die Welt am Laufen hält – das beschreibt er in so gut wie jedem seiner Stücke. Und in diesem besonders deutlich.

Technisch ist das geteilte Zinshaus des Herrn von Zins (wie soll ein Hausherr bei Nestroy, dem Schöpfer sprechender Namen, schon sonst heißen) neben dem (vier geteilten!) Haus der Temperamente eines der am schwierigsten zu realisierenden Nestroy-Stücke. Die Dialoge zwischen den Superreichen im Oberstock („Herr von Goldfuchs“) und den Armen unten (die natürlich „Schlucker“ heißen – arme Schlucker sind sie wirklich) sind kunstvoll verzahnt und müssen mit eisiger Präzision kommen, um ihre Pointiertheit ebenso zu erweisen wie ihre Treffsicherheit: Dass die einen nicht wissen, wie sie ihr Geld noch hinauswerfen können, während die anderen nicht wissen, was sie in den Magen bekommen, ist übrigens erschreckend heutig geblieben: Man wünschte wirklich, man könnte Nestroy nachsagen, sich überholt zu haben. Mitnichten.

Peter Gruber hat in Schwechat Nestroys Stücke immer erfolgreich ins Heute geholt, und hier ist es gar nicht schwierig – außer dass die Reichen heute wohl nicht mehr dulden würden, dass die ordinären Habenichtse bei ihnen im Souterrain wohnen … Das Lumpenproletariat hat Bühnenbildnerin Andrea Bernd vor allem mit einer Unzahl jener Pappkartons aus dem Supermarkt charakterisiert, in denen die Besitzlosen ihre schäbige Habe verstauen, während die „Pracht“ im ersten Stock ein bisschen zu kurz kommt. Auch können heutige Kostüme (Okki Zykan) zwar die schäbigen Second-Hand-Fetzen bedienen, die Designer-Mode „oben“ sieht man nicht wirklich. Aber das ist eigentlich sekundär – schließlich demaskieren sich die Figuren in ihrem Status ja durch ihr Benehmen.

Da ist Franz Steiner, eine ewige Schwechat-Stütze-des- Ensembles, der nasale „Goldfuchs“, der meint, es könne ihm nichts g’schehen und der durch die „Launen des Glücks“ (die Schwechater Aufführung unterschlägt den Untertitel) eines Schlechteren belehrt wird. Viel weniger passieren kann dem geschmeidigen Herrn Zins (der gleichfalls unentbehrliche Bruno Reichert), denn der hat immer noch sein Haus (zumindest, solange es nicht abbrennt), und Mieter finden sich. Bei den Reichen schlängelt sich der „Couturieur“ Bonbon hinein (witzig Sando Swoboda, optisch halb Conchita, halb Harald Glööckler). Und solange das Geld fließt, lassen sie alle es sich gut gehen.

Ja, und da ist noch der Mann, der sich geschmeidig zwischen ihnen hindurch bewegt, diensteifrig und dabei keinesfalls auftrumpfend, wie man diesen Schweinehund Johann (die Nestroy-Rolle) noch nie gesehen hat: Dabei ist es ungemein glaubwürdig, dass einer, der geschickt nicht auffällt, seine schamlosen Betrügereien fast unbemerkt begehen kann. Florian Haslinger (der schon als Zwölfjähriger in Schwechat auf der Bühne stand) ist ein ausgebildeter, versierter Darsteller mit prächtiger sprachlicher Prägnanz und ausdrucksvoller Körpersprache. Wenn ihm endlich die Geduld reißt, wenn der reiche Mann kein Geld mehr hat und er ihm, nach langem Speichellecken, endlich sagen kann, was er wirklich denkt, kann man mit dem Unsympathler kurzfristig sogar mitfühlen. Er ist jedenfalls ein brillanter Drehpunkt des Abends, zwischen Oben und Unten gewissenlos unterwegs, bis ihn (wir sind auf dem Theater, nicht im Leben!) die gerechte Strafe ereilt…

Bei den Armen geht es ganz schön wild zu: Erwin Leder, der sich zum Schwechater Team gesellt hat, das im 46. Jahr der Nestroy-Spiele niemand mehr als „Laiengruppe“ betrachten würde, als die man einst angetreten ist, tobt sich als Schlucker durchs Geschehen.

Und Christian Leutgeb differenziert so vorzüglich wie vergnüglich die vielen widersprüchlichen Eigenschaften, die in dem Tandler Damian wohnen (und der eigentlich einer der „anständigen“ Leute des Stücks sein soll). Vollkommen passend ist es in diesem Zusammenhang, dass der Regisseur aus dem „angenommenen Sohn“ Adolf (Al Kasseir) einen Immigranten macht (mit den dazu passenden Witzen zum ernsten Thema) – und an den aktuellen Coupletstrophen, die Peter Gruber ja immer selbst textet, erweist es sich als der bekannte „kabarettistische“ Segen, wenn man in der Regierung einen Reibebaum hat, um so richtig heftig explodieren zu können …

An den Damen dieses Stücks zeigt sich, dass der ewige Vorwurf, Nestroy habe schlechte Frauenrollen geschrieben, nicht wirklich greift. Die Rollen sind, mit Ausnahmen (wenn er potente Schauspielerinnen im Ensemble hatte, schrieb Nestroy sofort eine Salome Pockerl, eine Erbenstein), nicht groß, aber jede trägt genug in sich, um eine kleine Charakterstudie zu entfalten. Überzeugend gelingt das Rahel Kislinger als der mit beiden Beinen fest am Boden stehenden Salerl, während das Dienstmädchen Fanny (Elisabeth Spiwak) eher zu den romantischen Naturen zählt, die dann ihre unvermeidlichen Enttäuschungen zu verdauen haben. Und Nestroy benützt ausgerechnet Johann, um dem lebensfremden reichen Fräulein (Ines Cihal) die Leviten zu lesen, die es so erstrebenswert findet, aus wahrer Liebe mit einem armen Mann durchzubrennen … und keine Ahnung hat, was Armut ist.

Aber die „Launen des Glücks“ bewirken bekanntlich, dass der Reiche sein ganzes Geld verliert und „unten“ landet, während die Armen in die Prachtgemächer einziehen … aber was dann kommt, wäre ein eigenes Stück, das hier durch das Happyend verhindert wird (einen Aspekt davon hat Nestroy später in den „Früheren Verhältnissen“ behandelt). Am Ende singt und schunkelt sich das Riesenensemble, diskret, aber sehr pointiert begleitet von Otmar Binder als einzigem Musiker an seinem elektronischen Klavier zu Adolf Müllers Originalmusik, in die Harmonie eines gelungenen Theaterabends. (Renate Wagner)

Niederösterreichische Nachrichten, 3. Juli 2018: Politbashing vom Feinsten und beste Theaterunterhaltung

Rührend, manche Vertreter der FPÖ. Kommen zu den Nestroyspielen und sind bass erstaunt, dass ihnen dort wenig Sympathie entgegenschlägt. Das führte zu einem derart erregten blauen Protestmail, wie es sich nicht einmal der alte Johann hätte ausdenken können.

Aber reden wir von der überaus gelungenen Produktion, die Regisseur Peter Gruber auf den Weg gebracht hat. Denn „Zu ebener Erde und im ersten Stock“ ist kein leichtes Unterfangen, vieles muss oben und unten parallel ablaufen. Das funktioniert aber prächtig, unterhält bestens und birgt – wie zu erwarten – sozialkritische Pointen der feinsten wie brutalsten Art. Im Ensemble nur Lichtblicke; wollen wir subjektiv jemand herausgreifen, dann Rahel Kislinger als liebenswert starke Salerl.

Fazit: Politikbashing vom Feinsten und beste Theaterunterhaltung. So geht der alte Nestroy. (Thomas Jorda)

Wiener Zeitung, 1. Juli 2018: Bote vom Bundes-Asylamt

Peter Gruber kennt seinen Dichtergott wie kein zweiter. Seit 1973 inszeniert er Jahr für Jahr in Schwechat mit Laien und Semiprofis Nestroy unterm freien Himmel und der Luftverkehrsschneise. Wie dafür geschaffen ist heuer das hohe Bühnenhaus im Hof von Schloss Rothmühle für „Zu ebener Erde und erster Stock“. Oben die Belletage des Millionärs Goldfuchs, an den Wänden die rote Einheitstapete chinesischer Speiselokale und zwei Kaffernbüffeltrophäen; darunter die mit Bananenkartons vollgeräumten Wohn- und Gewerberäume des armen Trödlers Schlucker. Ein halbes Kellergeschoss voll Sperrmüll darunter ist die wackelige Basis für Nestroys misanthropische Versuchsanordnung zur Standescharakterentlarvung. In ausgetüftelter Synchronität sollten sich Oben und Unten austauschen, und Liebe und Zufall in mechanischer Präzision die Armen reich und die Reichen arm machen.

Das beginnt im Unterhaus mit Schwierigkeiten. Wer ist wer in der Großfamilie in Andrea Bernds Schmuddelkulisse? Eine missglückte Familienaufstellung, in welcher bloß die Eckpunkte, Oma und Enkel, prima vista identifizierbar sind. Den beiden Paaren, die zuletzt ihr Glück finden sollen, trieb Spielleiter Gruber allen Schimmer von Zuneigung und Zärtlichkeit aus. Die fein kontrollierte Kleineleute-Behäbigkeit, das melancholische In-sich-Ruhen von Christian Leitgeb ist als komödiantischer Mehrwert heuer aus Schwechat mitzunehmen. Sein schnapsnasiger Tandlergehilfe Damian (1835 die Paraderolle von Wenzel Scholz) mit großen, so ratlosen wie hoffnungsvollen Augen ist mit einer Nervensäge, aufgedonnert wie eine Vorstadtfriseurin, zusammengespannt. Hat die es erst nach oben geschafft, bricht aus ihr die Nutte heraus. Für einen Iraker ist respektvoll der Erfolg sozialer Integration zu melden: Al Kasseir gibt den Adolf, der erfährt, dass er nur ein „angenommenes Kind“ ist. Der Ziehvater schimpft ihn in Rage „Asylanten-Bankert“. Im letzten Moment wird er dem Boten vom „Bundesamt für Asyl“ entrissen. Ein Glücksfall für ihn – und nicht für die Kunst.

Peter Gruber verzerrt mit polemischen Hämmern den Stumpfsinn im Luxus von Goldfuchs und die Raffgier seines Dieners Johann; und ebenso die Untugenden der sauf- und lotteriesüchtigen Parterrepartie. Goldfuchs verschiebt Geld auf die Cayman Islands. Zwei rabiate „blaue“ Schlägertypen rennen mit Siegesgeschrei und schwarz-rot-goldenen Fahnen über die Bühne – was wie Fußball ausschaut und „Anschluss“ meint. Schlagseiten und Seitenschläge, Polizei- und Feuerwehrklamauk finden bei den privilegierten Einheimischen bei der Premiere spontanen Applaus. Im Programmheft aber wirbt Gruber für Nestroy pur ohne Korrektur, Bearbeitung, Überschreibung und Neudeutung.

Dem tückischen Diener Johann, den sich Nestroy für sich erfand, sichert Florian Haslingers herausragende Sprechtechnik die richtige Schärfe. So im Rezept, wie man als Angestellter reich wird: „Man nehme Keckheit, Devotion, Impertinenz, Pfiffigkeit, Egoismus, fünf lange Finger, zwei große Säck’ und ein kleines Gewissen …“ Im Quodlibet in Operettenseligkeit gibt Haslinger dem Ensemble Takt und Tempo vor. 26 Darsteller verbeugen sich zum Schluss. Und Otmar Binder. Mit dünnen Klaviertönen zaubert er disparate Stimmung unters Sternenzelt. (Hans Haider)

Volksblatt, 1. Juli 2018: Kämpferisch auch im 46. Jahr

Auch im 46. Jahr geben sich die Nestroy-Spiele Schwechat kämpferisch: In „Zu ebener Erde und erster Stock“ ging es am Samstagabend bei der Premiere im Hof von Schloss Rothmühle (Rannersdorf) wieder zur Sache. Mit scharfer Sozialkritik und bitterem Humor ist Nestroys Posse ein Stück der Stunde.

Den Running Gag des Abends liefert Oma Schlucker (Sissy Stacher), die nur lesend im Fauteuil sitzt, manchmal aufschreckt – „Wos is?“ – und stets mit der grantigen Antwort „Nix!“ bedacht wird. Als wär’s die gallige Quintessenz des Trubels: Aufregung allenthalben, schließlich Umkehrung der Verhältnisse, letztlich bleibt alles beim Alten – oder es wird gar schlechter.

Just an jenem Tag, an dem in Wien eine gewerkschaftlich organisierte Großkundgebung gegen die Arbeitszeitpläne der Regierung stattfand, und angesichts zu erwartender bundesweiter Betriebsversammlungen, waren inhaltliche Kontexte evident. Im reichen Österreich, ist im Programmheft nachzulesen, beträgt der Anteil armutsgefährdeter Menschen laut Statistik Austria 18,1 Prozent der Bevölkerung.

Da zeigt schon Nestroy: Oben wird geprasst, dass sich die Balken biegen, unten herrschen Armut und Aussichtslosigkeit. Jedoch ist Skepsis da wie dort angebracht: Spekuliert, intrigiert und manipuliert wird oben wie unten. Und wenn die Unteren hinaufkommen, verwandeln sie sich im Handumdrehen in prototypische Neureiche. Von Sozialromantik keine Spur, Rollentausch ändert nicht die Grundstrukturen, lautet die desillusionierende Message.

Langzeitintendant Peter Gruber hat ein weiteres Mal mit seinem aus Profis und Laien durchmischten Ensemble eine schlüssige Inszenierung auf die von Andrea Bernd gestaltete Bühne gestellt, lässt die Handlung perfekt simultan Revue passieren, steuert bissige aktualitätsbezogene Zusatzstrophen für die Couplets bei und verzichtet auch diesmal nicht auf ein launig-opernhaftes Quodlibet im zweiten Teil.

Otmar Binder an den Tasten sorgt für duftige Klänge. Franz Steiner gibt den hochmütigen Spekulanten Goldfuchs, Erwin Leder sein Tandler-Pendant im Erdgeschoß, Bella Rössler dessen resche Sepherl, Florian Haslinger einen betrügerischen Sekretär. Dass das Schwechater Nestroy-Ensemble Jahr für Jahr ohne Gage für die Schauspieler derart vorbildliche Produktionen auf die Beine stellt, darf nicht unerwähnt bleiben. Auch im Kulturbereich gibt’s eben „ebene Erde und ersten Stock“.

Kultur und Wein, 1. Juli 2018: Moral und Fortuna halten sich an keine Stockwerke

Johann Nestroy wird in seiner „Lokalposse“ in drei Aufzügen zu einem Moralisten der Extraklasse. Allein, er kann diesbezüglich nirgends einwandfreies Verhalten verorten, weder unten und schon gar nicht oben, nicht im Haushalt der armen Familie Schlucker und nicht bei Herrn von Goldfuchs, der mit seinem Geld nur so um sich wirft. Es wär’ aber nicht Nestroy, fände er nicht einen Ausweg aus dieser allgemeinen Verderbtheit. Er verteilt demokratisch Eigenschaften wie Dummheit, Verschlagenheit, Gier und Naivität an die Beteiligten. Damit stattet er seine Figuren in üppigem Maße aus und macht sie so allzu menschlich, damit sich jeder im Publikum ganz leicht mit einer von ihnen identifizieren kann, so er einigermaßen ehrlich zu sich selbst ist. Bevor einer sich aber an der Nasen nimmt, lacht er lieber über die Vertrauensseligkeit des Goldfuchs, wenn sich sein Sekretär Johann ohne viel Zurückhaltung an seinem Geld bereichert, oder über den Damian, der lieber säuft und sich als Othello aufführt, statt sich seinem lieben Salerl ernsthaft zuzuwenden.

Der Schlucker selbst (Erwin Leder), ein erfolgloser Tandler, ist Opportunist von hohen Graden und trotzdem kein übler Kerl. Vor vielen Jahren hat er den „Asylantenbankert“ Adolf (Al Kasseir) neben einer Schar eigener Kinder an Sohnes statt angenommen und großgezogen. Dass der sich gerade in das Töchterl vom Stock darüber verliebt und sie, die Emilie (Ines Cihal), sich in ihn, stellt die beiden eigentlich außerhalb aller moralischen Fragen. Aber alle anderen können daran ordentlich ihre negativen Eigenschaften abarbeiten und „Zu ebener Erde und erster Stock“ in den Rang einer Parabel für die Unzulänglichkeit des menschlichen Geschlechts erheben.

Nestroys Gralshüter, das Internationale Nestroy Zentrum Schwechat, lässt mit den Nestroy-Spielen unter der Regie von Peter Gruber den wohl schlagfertigsten und in seinem Witz mutigsten Autor des Biedermeier wieder auferstehen. Nestroy selbst soll wegen gewagten Extemporierens in der Rolle des Dieners Johann drei Tage Arrest bekommen haben. Florian Haslinger, der den Sekretär mit den langen Fingern in Schwechat gibt, legt sich in einem Couplet ebenfalls mit den Mächtigen an. Er lässt an der türkisblauen Regierung kein gutes Haar. Ähnlich kritisches Draufgängertum legt auch das freche Salerl (Rahel Kislinger) an den Tag, das sein Leid über persönliches Ungemach und anderweitige Unmenschlichkeiten in angriffigen Pointen beklagt. Der Applaus dafür dürfte beiden aber keineswegs schaden, denn welcher Politiker will nicht karikiert werden. Er wäre sonst ja bedeutungslos. Es besteht auch kaum die Gefahr, dass die schwarze Hanni die Subventionen zensurartig darob kürzen könne, NÖ-Landeshauptfrau wurde ja vorsichtshalber nicht verrissen.

Damit das Glück gleich bataillionsmäßig bei den Schluckers einrücken kann, hat Nestroy den im Grunde gutherzigen Goldfuchs (Franz Steiner) zu einem Spekulanten gemacht. Von der Laune Fortunas in diesem Geschäft kann manch einer ein Lied singen, der von seiner Villa aus direkt in den Knast umgezogen ist. Da ist Hausherr sein schon ein solideres Gewerbe. Herr Zins (Bruno Reichert) kann’s so besehen am Ende sogar gelassen hinnehmen, dass ihm der letztlich märchenhaft wohlhabend gewordene Adolf die als Ehefrau geplante Emilie ausspannt. Übrigens, das Quartett Johann und Salerl unten und der auf amourösen Abwegen befindliche Damian (Christian Leutgeb) und Zofe Fanny (Elisabeth Spiwak) oben ist ein Ohrenschmaus. Chapeau den vier Darstellern, die auf zwei Ebenen zu verdächtig nach Mozart klingender Musik (Klavier: Otmar Binder) virtuos zusammen singen. Kurz gesagt, die Nestroyspiele Schwechat haben mit durchwegs ehrenamtlichen Beteiligten die Tandlerehre voll und ganz rehabilitiert.