St. Galler Tagblatt, 3. November 2005
Wenn das Schicksal betrunken ist
Premiere der Theatergruppe St. Otmar mit «Das Mädl aus der Vorstadt» von Nestroy
Sie muss sich in Nachsichtigkeit üben, er verfällt einer optischen Täuschung nach der anderen. So beschreibt das Stück «Das Mädl aus der Vorstadt» die Ehe. Gnadenlos deckt es die Schwächen der Gesellschaft auf.
Von Marina Winder
1840 wurde das Stück «Das Mädl aus der Vorstadt» geschrieben, von Johann Nestroy in Wien. An Relevanz hat es seither nur wenig verloren. Die verbalen Pfeile treffen immer noch mitten ins gesellschaftliche Herz. Mit durchdachten Wortspielen übt das Stück Kritik an der Klassentrennung, rüttelt an der Institution Ehe und entlarvt manch Glanz und Gloria als blossen Schein. Wenn sich die zukünftige Braut über ihren Verlobten beschwert und sich mit der Frage «Haben Sie auch so ein Exemplar zu Hause?» ans Publikum wendet, werden wohl einige der Gäste im Geheimen zustimmen. Witz und Situationskomik entschärfen die Anklage gegen die Gesellschaft und ihre Institutionen, machen sie zumindest erträglich.
Humorvoll und scharfsinnig
Das Stück stellt grosse Anforderungen an die Darsteller der Theatergruppe St. Otmar. Die Sprechmelodie muss stimmen, nur dann kann und will das Publikum ihren langen wortreichen Einsätzen folgen. Für seine Konzentration wird der Zuhörer mit humorvoller wie scharfsinniger Lyrik belohnt. Noch weit höher muss die Konzentration der Darsteller sein, wollen sie die Dienste der Souffleuse nicht strapazieren. Schwierig auch die vielen gesanglichen Soli, welche die Darsteller zu bieten haben. Begleitet werden sie live am Klavier. Die Bühne befindet sich mitten im Publikum. Die Darsteller sind schutzlos dem Auge des Zuschauers ausgesetzt und müssen ihre Rolle rundum verkörpern. Neben der Offenheit stellt der Raum weitere Herausforderungen an die Theatergruppe. Eine erste bestand darin, überhaupt einen geeigneten Raum zu finden. In der Stadt blieb die Suche erfolglos, so ist die Theatergruppe nach Abtwil ausgewichen. In der Schreinerei Hörler konnte eine leer stehende Halle für drei Monate gemietet werden. «Der Raum war völlig leer. Die Bauarbeiten waren nervenaufreibend, haben sich aber gelohnt», sagt Produktionsleiter Urs Rüegg. Die Theatergruppe St. Otmar besteht seit fast 20 Jahren. Da sie keine eigenen Räumlichkeiten besitzt, muss sie für jedes Stück eine geeignete Lokalität suchen, mieten und umbauen. «Die speziellen Räume und das damit verbundene besondere Ambiente hebt uns von anderen Veranstaltungen ab. Wir haben ein grosses Stammpublikum. Meistens bleibt es nach der Vorstellung noch lange an der Bar oder in der Festwirtschaft sitzen», sagt Urs Rüegg. Eine Lesegruppe hat sich knapp ein Jahr lang mit der Suche nach einem passenden Stück beschäftigt. Die Proben haben vergangenen Juni begonnen.
Jeder kriegt, was er verdient
Die Posse von Johann Nestroy spart nicht an Spott und Ironie. Herr Schnoferl, der Winkelagent, will Drahtzieher des Geschehens sein, wird aber vom Zufall immer wieder überlistet. So schimpft er das Schicksal die Geschicke der Menschen wie ein betrunkener Kutscher zu lenken. Für seine Mühen wird der Agent am Ende doch belohnt, er erhält die Dame seines Herzens. Alles beginnt mit einer geplanten Hochzeit, die aber nicht stattfinden wird, weil der angehende Bräutigam den Reizen einer Näherin erlegen ist. Verliebte und verletzte Menschen, ein folgenschwerer Diebstahl, ein Mann, der seine Taten leugnet, und ein anderer, der alles kontrollieren will, geraten in ein verworrenes Beziehungsgeflecht. Am Ende siegt die Gerechtigkeit und wie die Darsteller singen, kriegt jeder was er verdient.
Weitere Aufführungen: 3., 4., 5., 11., 12., 18., 19., 25. und 26. November 2005, jeweils 20 Uhr, in der Hörler-Halle, Bildstrasse 5