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Der Standard, 12. April 2005
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Schaf unter Hautabziehern
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Wien Lederermeister und andere Ausschlachter leben herrlich auskömmlich vom Menschenhautabziehen. Insofern ist der zum Rückzug aus der kommerziellen Daseinssphäre wild entschlossene Lederfabrikant Anton Schafgeist (Toni Böhm) in Johann Nestroys Brutalposse Nur Ruhe! in Wahrheit ein tätiger Humanist: Da er seinen Geschäftszweck nämlich anderen das Fell über die Ohren zu ziehen getreulich verinnerlicht hat, möchte er sich als bürgerlicher Renegat auf diejenige Ruhe verlegen, die ihm die anderen keinesfalls einzuräumen bereit sind. Und Ruhe ist im grausamen Daseinskampf um Ehepfründe und Pensionssicherung durch räuberisch erzwungenen Kindersegen auch gar nicht vorgesehen.
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Es kommt schlimmer: Böhm, der ein rarer, wahrer Glücksfall in einer merkwürdig empfindungsschwachen und rhythmusarmen Wiener Volkstheater-Veranstaltung ist, nimmt in der pikierten Gereiztheit seiner verdutzten Ereignisabwehr das Los des lächerlichen Kleinbürgers auf sich. Er trägt das Substrat von Nestroys Ideologiekritik wie ein Kreuz, das er zugleich von den Schultern seines vernachlässigten Stangenanzugs abzuschütteln trachtet.
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Monsieur Schafgeist, der in einer beispiellos unpraktischen Bühnenschachtel mit Innen-Außen-Effekt (Bühne: Bernhard Kleber) über ein Museum aus Messingvitrinen gebietet, in denen sich Medizinabfallstücke befinden, ist von den Platzhaltern seines aufzukündigenden Fabriksbetriebs, aber auch von hereinschneienden Gästen und Parasiten umgeben wie das Notlicht von den Motten.
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Es liegt schon eher an den Schwächen von Michael Kreihsl Regie, dass zwar ein paar hübsche Details aus diesem von Nestroy vorsätzlich angebahnten Kapitalismus-Kollaps unverhofft herauftauchen. Der Kontext der Erzählung hält aber der Bedenkenlosigkeit, mit der offenbar jeder dasjenige spielt, was ihm gerade so durch den Kopf rauscht, nicht stand.
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Denn die keineswegs einnehmende, sondern schnapshauchende, im Schlick der Gosse wühlende Brutalität des Rochus Dickfell (Wolfgang Hübsch) anno 1843 Nestroys Rolle reimt sich kaum auf die Geziertheiten jener Reichen, die Schafgeist in seinem Gründerzeitbunker beim Blau-Machen unsanft betreten.
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Ein Werksleiter (Fritz Hammel) wirbt sehr warm stotternd und Silben schluckend bei einer (angenommenen) Erbin um Ehegehör. Das Objekt der holden Begierde (Gerti Drassl als Peppi) vergilt den Männern deren hilflose Machinationen mit einer stupsnasigen, glühäugigen Passivität, hinter der ein beispielloser Eigensinn, offenbar eine Mannstollheit versteckt liegt.
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So dürfen die Neffen (Christoph Zadra), die Chargen, die Radaubrüder (Uwe Falkenbach) und die Muttertiere (Erika Mottl) folgenlos auf sich aufmerksam machen. Es wäre einem von Herzen egal, wer da gerade welche Pointen verwackelt, ob Hübsch wieder einmal breitbeinig krakeelt oder schwache Couplets verkräht wenn da eben nicht Böhm wäre, der sich als Gastgeber wider Willen in eine aufsässige Querulanz wie in eine verrückte Spindelform hineinzwängt. Diese leidlich beklatschte Nestroy-Produktion hätte mehr Raserei im Ausrasten verdient.
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Ronald Pohl
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Die Presse, 12. April 2005
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Abgründiger Nestroy
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Volkstheater. „Nur Ruhe!“ geht dem Bürger ans Leder.
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Nestroy im Volkstheater zieht immer. Da kann es sich die scheidende Direktorin Emmy Werner leisten, zum Abschied ein traditionell als schwach eingestuftes Volksstück zu bringen. Bewährte Volksschauspieler und ein junger Regie-Star müssten garantieren, dass „Nur Ruhe!“, diese vorrevolutionäre Posse über einen saturierten Bürger, der sich aus dem aktiven Leben zurückziehen will und dem dabei boshafte Charaktere auf den Leib rücken, dennoch zum Hit wird.
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Wer weiß, was ab Herbst der neue Hausherr Michael Schottenberg aus dem Biedermeier-Zyniker machen wird? Einen „Attac“-Propagandisten? Einen politisch korrekten Wiener? In der Inszenierung von Michael Kreihsl jedenfalls, die am Sonntag Premiere hatte, gibt es Subtiles, Derbes, Flottes und auch weniger Geglücktes. Ein abgerundeter Abend also für Biedermänner, die auch den Reiz des Abgründigen lieben. Es wurde brav herausgearbeitet, dass auch Nestroy Schwächen hat. Seine Bitterkeit berührt nicht.
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Die größte Schwäche? Wolfgang Hübsch in der Nestroy-Rolle des jähzornigen, berechnenden Rochus Dickfell kann keine Couplets singen, aber das macht nichts, denn die Gstanzln (Musik: Otmar Klein) sind kläglich, keinesfalls klagbar. Zu Höhepunkten schwingt sich Hübsch jedoch auf, wenn er einen wirklich miesen Charakter spielt, der in Ziehtochter Leocadia (Piroska Szekely) eine kongeniale Verbündete hat. Wenn er die Vorstadt-Blume ganz nebenbei unsittlich bedrängt, wirkt das unheimlich authentisch. Die bedrohliche Familie Hornissl (Uwe Falkenbach, Erika Mottl und Gertrud Drassl als dümmliche Tochter Peppi) hingegen erschöpft sich in dieser Regie als eindimensional; wie ein Automaten-Wesen ergibt sich Peppi dem nervösen Werkmeister Walkauer (Fritz Hammel, der vergleichsweise differenziert spielt). Beschränkt ist auch die Rolle des Gigerl Laffberger (Florian Teichtmeister) angelegt, eine minimierte Variante des authentischen Rochus.
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Star des Abends ist jedoch Toni Böhm als Leder-Macher Anton Schafgeist, ein kleiner Lear; so viel Ausdrucksvermögen, um in kleinen Gesten die Schlechtigkeit der Welt zu demonstrieren. Er beginnt das Stück in einem geordnet aussehenden Biedermeier-Salon, bei dem allein die Requisiten (Bühne: Bernhard Kleber) - seltsam deplacierte Objekte hinter Glas - ahnen lassen, dass auf Ruhe der Sturm folgt. Die Klamauk-Szenen spielen im bald verwüsteten Salon, die wirklich bösen im grauen Hinterhof der Lederfabrik. Da geht es hinab zum Teich, in den Inkriminierendes versenkt wird, in den Inkriminierte stürzen, der erst alles zudeckt und dann alles preisgibt. Ein Happy Ending? Nein. Schafgeist neigt zu einer zerzausten Frisur. Das passt zu diesem wechselhaften, widerborstig inszenierten Stück.
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Norbert Mayer
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Wiener Zeitung, 12. April 2005
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Unerquickliche Überraschung
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Nichts Anderes als „Nur Ruhe!“ wünscht sich der Lederfabrikant Anton Schafgeist zu seinem 55. Geburtstag. Statt dessen beschert ihm das Schicksal jedoch eine Fülle unerquicklicher Überraschungen, die ihn in ein irrwitziges Katastrophenszenario katapultieren. Regisseur Michael Kreihsl komprimiert Nestroys selten gespielte Posse im Volkstheater zu einer knapp zweistündigen, ohne Pause ablaufenden Inszenierung: amüsant und solide, wenn auch nicht unbedingt mitreißend.
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Doch die Wiederentdeckung des bei seiner Uraufführung (1843) mit Bomben und Granaten durchgefallenen Werkes lohnt allemal. Abgesehen von Nestroys Wortwitz verdienen gerade jene das Publikum von damals befremdenden Ansätze zu „realistischer Darstellung und satirischer Weltbetrachtung“ (Jürgen Hein) aus heutiger Perspektive besondere Beachtung. Steht doch im Mittelpunkt kein sympathischer Schlawiner, sondern ein durchtriebener Opportunist, der zuletzt weder moralisch gebessert, ja nicht einmal bestraft wird. Dieser trinkfreudige und gewalttätige Lederergeselle Rochus Dickfell, der nach einer Schlägerei fristlos entlassen wurde, bringt die Ereignisse ins Rollen, als er ausgerechnet am Geburtstag des gutherzigen Schafgeists auftaucht und sich bei seinem Ex-Chef neuerlich einzuschleimen versteht. Wolfgang Hübsch verleiht ihm die hinterfotzige Gefährlichkeit eines als Biedermann auftretenden Taktierers, der im richtigen Moment nach oben aufdringlich buckelt und gleichzeitig schon die nächste Intrige plant. Das Einzige, was an dieser rundum geglückten Nestroy-Figur irritiert, sind die ins Handmikrophon gesungenen Couplets zum Live-Sound von Hammond-Orgel, E-Gitarre und E-Bass. Verwirrung stiftet auch Dickfells angebliche, mit allen Wassern gewaschene Ziehtochter Leocadia (Piroska Szekely), die auch auf Geheiß ihres „Stiefvaters“ recht ungeniert nach einer guten Partie Ausschau hält, indem sie die verfolgte Unschuld spielt. Für soviel Tücke hat Toni Böhm als Schafgeist, wie schon sein Name sagt, kein Sensorium. Er kämpft mit komischer Verbissenheit und Verzweiflung um seine Ruhe. Ins Schlamassel gerät der verwitwete Manufakturbesitzer, der seinen Betrieb just an diesem Tag seinem wenig geschäftstüchtigen Neffen Heinrich (Christoph Zadra) zu überschreiben gedenkt, vollends, als sich die aus der Stadt angereiste Familie Hornissl Vater, Mutter, Tochter und ungeratener Neffe wie ein Hornissenschwarm bei ihm einquartiert. Der als „Weltmann“ auftretende Neffe (Florian Teichtmeister) verwüstet zunächst das Interieur, und schließlich bringt der üble Spekulant Hornissl (Uwe Falkenbach) seinen Gastgeber sogar noch vor die Schranken des Gerichts. Doch im letzten Moment klärt sich alles auf: Pepi, die wohlerzogene, daher über keinen eigenen Willen verfügende Hornissl-Tochter (putzig-puppenhaft: Gerti Drassl) ist in Wirklichkeit Schafgeists totgeglaubtes Kind, das Hornissl wegen einer Erbschaftsangelegenheit als sein eigenes ausgegeben hat. Nun darf Pepi den braven, reichlich verklemmten Geschäftsführer Franz (Fritz Hammel), dem Schafgeist auch sein Unternehmen anvertraut, heiraten, und Heinrich, gerade rechtzeitig Leocadias Fängen entronnen, landet in den Armen seiner ihre Rechte energisch einfordernden, ursprünglich Verlobten, der ältlichen, aber wohlhabenden Forstmeisterswitwe Groning (Cornelia Lippert).
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Die reichlich strapazierte Drehbühne und eine mit Videoeinspielung gelöste Szene sorgen für zügige Verwandlungen der realistischen Monumentaldekoration (Bühne: Bernhard Kleber).
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Verdienter, einhelliger Beifall fürs bemühte Ensemble, Jubel für die beiden Protagonisten.
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Hilde Haider-Pregler
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Salzburger Nachrichten, 12. April 2005
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Nichts wird aus der Ruhe
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Nestroy im Wiener Volkstheater gegen Ende der Ära Emmy Werner: Regisseur Michael Kreihsl kämpft mit einer verworrenen Handlung und gewinnt.
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Nestroys Posse „Nur Ruhe!“ wird kaum einmal gespielt. Das wird wohl seine Gründe haben, lautet der Verdacht. Und Gründe gibt es. Dass eine Menge Personal gebraucht wird, darunter auch für große Rollen, mag noch das geringste Hindernis sein. Aber das Stück! Bei dem Handlungsablauf muss einem doch schwindlig werden. Es gibt hundert Gründe, den Faden zu verlieren und vor dem Durcheinander zu kapitulieren.
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Regisseur Michael Kreihsl schreckte vor nichts zurück, er steuert mit viel Mut den Theaterabend im Volkstheater in Wien Premiere war am Sonntag - durch alle Höhen und Tiefen. Es verdient Bewunderung, wie er in all die Konfusion, die ärger nicht sein könnte, so etwas wie Übersicht bringt. Die Posse ist auf einen herben Ton gestimmt und hat nichts einschmeichelnd Liebenswürdiges. Aber die Regie gewinnt ihr mit urwienerischem Zugriff letztlich erstaunlich viel Charme ab. Macht es etwas, dass es diese Art der Inszenierung, abgesehen von ein paar Accessoires, schon vor hundert Jahren gegeben haben könnte? Nein, modernisiert hat Michael Kreihsl nicht, und die Ausstatter (Bernhard Kleber, verantwortlich für die Drehbühne, Mimi Zuzanek für die Kostüme) verstärken den Eindruck des Altvaterischen. Hauptsache ist, dass der Regisseur Nestroys Qualitäten, die vor allem im Wortwitz und im Konstruieren wahnwitziger Situationen bestehen, zum Leuchten bringt.
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Der Versuch, die Handlung in ein paar Sätzen nachzuerzählen, muss scheitern, zu verworren ist, was der Lederermeister mit dem sprechenden Namen Anton Schafsgeist an seinem 55. Geburtstag erlebt. Toni Böhm als argloser Schafsgeist gerät angesichts horribler Zumutungen schnell in die Defensive. Sein Vorsatz, sich von den Geschäften zurückzuziehen, um das Leben zu genießen, scheitert phänomenal. Turbulente Ereignisse schlagen über seinem Kopf zusammen. Nichts wird es aus biedermeierlicher Ruhe.
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Eine ganze Familie, deren Wagen verunglückt ist, stürmt in sein Haus, und noch viel ärger ist das Wiederauftauchen eines vor kurzem geschassten Gesellen. Dieser Rochus Dickfell ist die Rolle für Wolfgang Hübsch, der sich an dem Abend als Volksschauspieler mit Saft und Kraft erweist. Kein Sympathieträger von vornherein, vielmehr ein übler Bursche, ein Raufbold und Trinker, der schamlos auf seinen eigenen Vorteil aus ist. Und doch hat er die meisten Lacher für sich. Hier lebt sich ein echtes Wiener Gemüt mit penetranter Dreistigkeit aus. Man fühlt sich an Otto Schenks beste Tage erinnert.
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Eine große Schauspielerschar, darunter prächtige, bizarre Typen, macht sich um den Abend verdient. „Nur Ruhe!“ ist damit für das Nestroy-Repertoire gewonnen.
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Werner Thuswaldner
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