Schauspielhaus Graz
‹Der Talisman›
Peter Gruber inszeniert Nestroys meistgespieltes Stück in Graz
Premiere 16. Dezember 2006
Warum halten wir so hartnäckig an Vorurteilen fest? Glauben, unter jedem nächstbesten Turban sei eine Bombe versteckt? Meinen, ein Kopftuch sei nur Symbol islamischer Frauenunterdrückung – und übersehen wie selbstverständlich das gleiche Symbol in der Tracht christlicher Nonnen? Behaupten seit Jahrhunderten, rote Haare zeugten von falschem Charakter? Just dieses Vorurteil benützt Johann Nestroy in einer seiner beliebtesten satirischen Entlarvungskomödien, „Der Talisman“, als Trampolin für ein furioses Possenspiel voll halsbrecherischer Wortakrobatik und bühnenbewährter Verrenkkunst. Darin erlebt der rothaarige Barbiergeselle Titus Feuerfuchs einen wahren Katapultstart in die Karriere, sobald ihm eine schwarze Perücke als Talisman in die Hände gespielt wird.

In Leidenschaft entbrannte Witwen reißen sich um seine Gunst. Sie verschaffen ihm Arbeit und die Anzüge ihrer verstorbenen Männer gleich dazu. Als ihm die schwarze Perücke abhanden kommt, tut’s vorübergehend auch ein blonder Haarersatz, um zum Sekretär einer literarisch dilettierenden Freifrau befördert zu werden. Seiner Haartarnung beraubt, wird er von den begehrlichen Witwen verstoßen, indes in Gnaden wieder aufgenommen, als ihn sein Onkel, der reiche Bierversilberer Spund, zum Universalerben einsetzen will. Doch Titus ist über die Vorurteile der Gesellschaft genug belehrt: in der ebenfalls rothaarigen Gänsehüterin Salome Pockerl sieht er die Glücksbotin seiner Zukunft.

Titus Feuerfuchs Max Mayer
Salome Jaschka Lämmert
Flora Alexandra Tichy
Plutzerkern Ernst Prassel
Constantia Julia Cencig
Marquis Dominik Maringer
Cypressenburg Gerti Pall
Emma Andrea Wenzl
Spund Erik Göller
Bedienter Josef Stock
Herr von Platt Gerhard Balluch
Akkordeon Borut Mori
Statisterie Nina Schnepf, Elisabeth Arch, Dina El-Heliebi, Silvia Delalic, Johanna Taferner, Bert Dittrich, András Kurta, Armin Lukas, Patricio Ramos Pereira, Georg Göschl, Patrick Moser
Inszenierung Peter Gruber
Ausstattung Cornelia Brunn
Pressestimmen
Der Standard, 18. Dezember 2006
Ein bitterer Titus mit Wut und Witz: Nestroys „Talisman“ in Graz
Routinier Peter Gruber inszenierte ohne Kitsch und mit treffsicherer Besetzung
Graz – „Das Vorurteil is eine Mauer, von der sich noch alle Köpf', die gegen sie ang'rennt sind, mit blutige Köpf' zurückgezogen haben“, wie der erst 26-jährige, aber schon von den lieben Mitmenschen bitter gewordene Titus weiß. Am Grazer Schauspielhaus war diese Mauer am Samstag – auf den Tag genau 166 Jahre nach der Uraufführung des Talisman – mit Graffiti überzogen. So weiß jeder gleich, dass Nestroy-Routinier Peter Gruber hier den beliebten Stoff vom rothaarigen Outcast in die Gegenwart zu versetzen sucht.
Doch während das Vorurteil nicht ausgestorben ist, und die Gesellschaft natürlich eine geblieben ist, die nach dem Schein und nicht nach dem Sein auswählt, wer nach oben darf, ist das mit dem roten Haupthaar so eine Sache. Deshalb sperrt sich gerade im ersten Bild die Gruppe der punkig gekleideten Jugendlichen, die der herzlich-resoluten rothaarigen Salome das Leben schwer macht, gegen die Logik: Erstens, sind wohl gerade die wenigen Punks, die es heute noch gibt, selbst Außenseiter, zweitens ist das Letzte, was diese wohl stört, ein bunt leuchtendes Haupt.
Doch das sind Details, die nur kurz irritieren. Kaum beginnen nämlich Jaschka Lämmert und Max Mayer als Salome und Titus zu spielen, freut man sich nur noch über die treffsichere Besetzung. Vor allem der Wiener Neuzugang Max Mayer kann in dieser Rolle wirklich zeigen, was er kann. Sein Titus ist kein lustig seine Spaßetteln treibender Hochstapler, sondern ein wütender, desillusionierter junger Mann, der Nestroys Wortwitz wie eine scharfe, verletzende Waffe einsetzen kann.
Die ganze Inszenierung verzichtet auf den – oft fälschlich überlieferten – biedermeierlichen Gemütlichkeitskitsch, sondern zeigt eine abgebrühte, unsympathische Ansammlung von Menschen, in der jeder mit allen Mitteln den eigenen Vorteil sucht. Die geradezu magische Perücke des Titus ist im Vergleich mit den Mitteln anderer geradezu harmlos.
Auch die drei Vertreter der „alten Garde“ des Schauspielhauses, Gerti Pall als kühle Pseudoliteratin Frau von Cypressenburg, Ernst Prassel als stichelnder Gärtnereigehilfe Plutzerkern und der schlechte Gedichte aufsagender Gerhard Balluch als Herr von Platt glänzen, ohne die bekannten Figuren mit Klischees aufzufüllen.
Ebenso reizt Alexandra Tichy als resche Gärtnerin Flora, die die Einsamkeit mehr als satt hat, immer wieder zum Lachen. Andrea Wenzl muss als textarme Tochter der Cypressenburg, Emma, so viele Verrenkungen machen und hinter dem Rücken ihrer Mutter Suizide, Kopulationen und andere unschickliche Aktionen andeuten, dass sie in der Salonszene höchst amüsante Übersetzerin des allgemeinen Geschwafels wird.
Ein falsches Happy End gibt es nicht: Als die zwei Ausgestoßenen sich finden, bleibt Titus bitter, und Salome wird zur seiner Trösterin, bevor der Vorhang still herunter fällt.
Colette M. Schmidt
Drehpunkt Kultur, 17. Jänner 2007
Kurz vor dem endgültigen Aufbegehren
Ein Nestroy-Spezialist rückt den „Talisman“ ziemlich nah an unsere Zeit: Peter Gruber inszenierte die Posse im Grazer Schauspielhaus.
Eine Gang ist in der ersten Szene hinter Salome her, eine Horde von Jugendlichen, die die Rothaarige ausgrenzt und nicht zimperlich umgeht mit der jungen Frau. Sie fügt sich zähneknirschend in ihr Schicksal. Titus Feuerfuchs ist da von ganz anderem Schrot. Er ist aufmüpfig, weniger ein schlauer Sympathieträger als ein kleiner Revoluzzer mit geballter Faust. Wie Max Mayer diese Rolle in Graz anlegt, ist interessant und lässt ahnen, was bei Nestroy-Aufführungen allzu oft auf der Strecke bleibt: der Sinn dafür nämlich, wie viel revolutionärer Geist sich in diesen Figuren Bahn bricht.
Ein Aufbegehrer mit losem Mundwerk, dem Dialekt her eher Wiener Strizzi-Milieu – diesen Titus könnte man sich in der österreichischen Dramatik ohne weiteres auch als Hutschschleuderer Liliom so vorstellen, vom Outfit wie vom trotzigen Auftreten her. Das geht nur auf, weil dieser starke Titus kräftige Gegenspieler hat: Ernst Prassel gibt einen Plutzerkern im Schlurfschritt – der obrigkeits-resistente Schlendrian mit deutlichem Hand zur schleimerischen Unterwürfigkeit in Person. Alexandra Tichy (sie war viele Jahre lang in Salzburg engagiert und gehört jetzt dem Schauspielensemble in Graz an) ist eine Gärtnerin Flora, die in ihrer selbstgewissen Art auch nicht wenig Gefährlichkeit ausstrahlt.
Jaschka Lämmert als Salome ist eine Grenzgängerin zwischen Aufmüpfigkeit und Resignation. In dieser Personnage gärt es unmittelbar vor-märzlich: Dominik Maringer (Monsieur Marquis), Julia Cecncig (Constantia) und Erik Göller (Spund) sind je eigene Ausprägungen aktiven und passiven Widerstands. – Wir wollen ja nichts überbewerten, und die Premiere weit bevor Gusenbauer sich über die Wahlversprechen seines Stimmviehs hinweggesetzt hat: Aber so ähnlich wie in dieser Aufführung könnte sich SPÖ-Kernvolk jetzt gerade fühlen und gerieren.
Köstlich die bizarr-karikierende Salonszene, in der Gerti Pall (Frau von Cypressenburg) und Gerhard Balluch (Herr von Platt) alte Ordnung beschwören, wogegen Tochter Emma (Andrea Wenzl) ihren Kopf ganz woanders und ihre Finger an für ein wohlerzogenes Fräulein unpassender Stelle hat.
Ein Akkordeonspieler tritt auf, wenn's an die Couplets geht. Blitzschnell gehen die Umbauten, und die einfachen Bühnenbilder – ohne ein Detail zuviel – vermitteln viel Aura. Kostüme und Ausstattung hat Cornelia Brunn erdacht. Eine lebefrische, präzis getimte und alles andere als „biedermeierliche“ Aufführung.
Reinhard Kriechbaum