nestroy

Wie Nestroy spielen?
1901, 1968, 2001

Dokumente zur Nestroy-Rezeption

Quellen:
Wie soll man Nestroy spielen? (1901)
(Johann Nestroy, Ausstellung anlässlich der hundersten Wiederkehr seines Todestages, Historisches Museum der Stadt Wien, 10. Sonderausstellung, Wien 1962, S. 23–25)
Nestroy-Inszenierung in unserer Zeit (1968)
(Neue Zürcher Zeitung, 4. August 1968, Nr. 473, S. 51–52)
Wie soll man Nestroy heute spielen? (2001)
(Burgtheater, Spielzeit 2001/2002, Programmheft zur Inszenierung von Der Talisman, S. 16–30)

Wie soll man Nestroy spielen? (1901)

Alexander Girardi: Sie haben mich mit Ihrer Frage in eine arge Verlegenheit gesetzt. Ich soll erklären, wie man Nestroy spielt!, ja, wenn ich das genau wüßte. Sagen Sie mir, verehrter Herr Redacteur, warum haben Sie mich nicht um meine Meinung gefragt, wie die Engländer die Buren herumkriegen können? Da wäre mir vielleicht die Antwort leichter geworden. Als ich nach Wien kam und im Strampfer-Theater debutirte, da wählte ich den Titus Feuerfuchs in Nestroy’s Der Talisman. Seither habe ich keine Rolle gespielt, die Nestroy einst selbst dargestellt hat. Der Christopherl, der Willibald, der Zwirn, das sind Rollen, die Nestroy für Andere geschrieben hat. Ein Prachtmensch! Wie der für seine Collegen gesorgt hat! Ich habe Nestroy nicht gekannt, ich habe ihn nie spielen gesehen. Aber wenn ich nach dem Rollenschatze greife, den er uns, den schwachen Nachkommen, hinterlassen hat, dann fühle ich immer Etwas, wie eine heilige Angst, und frage mich, ob ich es dem Alten werde recht machen können. Wie man Nestroy spielen soll! Ich glaub’ – ohne Ziererei, wienerisch! Man muß ihm in’s Herz schauen können, wie jedem echten Dichter. Man muß es machen, wie ein Weinbeißer, der in einem stillen Winkerl vor einem Glaserl guten alten Wein sitzt. Alles ist ganz ruhig um ihn her und der Weinbeißer hebt das Glas, prüft die Farb’, blickt bis auf den Grund und läßt die aufsteigenden Perlen nicht aus den Augen. Dann wird das Glas gegen das Licht gehalten, daß es durchscheinen kann. Ich weiß nicht, ob der Vergleich ein guter ist. Bis auf den Grund schauen jeder Sach’, sie drehen und wenden, daß Einem Nichts verloren geht, und dann Etwas von der eigenen Individualität dazuthun, daß sie durchscheint – ich glaube immer, daß dann was Richtiges entstehen kann. Jessas, jessas – jetzt bin ich aber schrecklich ernst geworden. Das haben Sie auf dem Gewissen mit Ihrer Frag’. Wie Nestroy gespielt werden soll! Wenn ich das Geheimniß heraus hätte, dann – würde ich es hübsch für mich behalten. Bitt’ schön verlangen’s so etwas nicht von mir. Lieber schreibe ich Ihnen, wie der Ausgleich mit Ungarn leicht zu Stande kommen kann, oder ich erfind’ schnell ein lenkbares Luftschiff. Nur thun Sie dem Nestroy zu seinem hundertsten Geburtstag das nicht an, daß er Geschriebenes lesen soll von seinem ihm dankbar ergebenen Alexander Girardi. nach oben

Josef Kainz: Sie haben mir eine schwere Frage vorgelegt. Kann ich die richtige Antwort geben? Ich gehöre einer anderen Section an und es leben Berufenere in Wien, die sich in Nestroy besser hineingelebt haben, als ich es zu thun vermochte. Ich bin stolz darauf, sein Pionier in Norddeutschland gewesen zu sein, wo Nestroy nicht so tief wurzelt, wie in Wien und Vieles würde mich noch heute reizen aus seinen Werken zu gestalten, wenn ich nicht in einer anderen Section zu Hause wäre. Wenn ich aber eine freie Stunde habe, dann flüchte ich mich zu ihm, zu Nestroy, lese in seinen Büchern und unterhalte mich mit ihm ganz ausgezeichnet, ich staune seine kolossale Menschenkenntniß an. Am liebsten ist mir seine Judith-Parodie, dieser Holofernes und diese Judith gefallen mir ganz unbändig. Diese Parodie erschöpft so sehr das Wesen des Originals, daß Nestroy eigentlich einem Tragöden viel besser hätte sagen können, wie man Hebbel spielt, als daß ein Schauspieler, wie ich, die Frage zu beantworten im Stande ist, ,wie man Nestroy spielen soll’. Wenn ich Nestroy lese, dann überkommt mich stets eine gewisse Wehmuth, daß jenes Wien nicht mehr existirt, aus dem heraus er, der Satiriker, geschaffen hat. Wo ist heute der Mann, der unsere Zeit, unsere Zustände, der die Menschheit in ihre Elemente zerlegt, daß man Wahres vom Falschen unterscheiden kann. Wo ist der Mann mit der Schwefelsäure, zum Ausgießen bereit über die Leute, die auf unserem Planeten herumwimmeln, die sich breit und protzig hinstellen und im Innern hohl sind? Wo ist der Mann, der unserer Zeit den Spiegel vorhält, und ist das Spiegelbild auch manchmal ein verzerrtes, aber bis zu einem gewissen Grade würde man doch Vieles und Viele erkennen. Ich werde mich hüten, Ihre Frage, Herr Redacteur, zum Anlaß zu nehmen, um Regeln aufzustellen. Es kommt nichts Gutes dabei heraus und dann soll man einem Künstler keine Vorschriften ertheilen. Aus sich selbst heraus muß ein Schauspieler gestalten können, oder die Schauspielerei lassen. Wenn Sie aber, Herr Redacteur, um jeden Preis von mir wissen wollen: wie man Nestroy spielen soll, dann antworte ich Ihnen wienerisch: Guat oder gar nöt! nach oben

Wilhelm Thaller: Ich habe Nestroy nie gesehen, und wenn man mir die Ehre erweist, mich für einen guten Nestroy-Darsteller zu halten, dann muß ich sagen, daß es ein unbewußtes, instinktives Treffen meinerseits war. Ich war ein junger Komiker in Warasdin, Troppau und Olmütz und habe mich an Nestroy gewagt. Meine Directoren waren mit mir zufrieden – ob das Publicum auch? Mit den Warasdinern war nicht zu spaßen. Ich bin allmählich zur Ueberzeugung gekommen, daß Nestroy ein peinlich genaues Studium verlangt. Eigentlich muß jeder Schauspieler mit jeder Rolle, von welchem Autor immer, es so halten. Ohne ernste Arbeit – kein Erfolg! Aber der Nestroy fordert ein Studium, das bis auf den einzelnen Punkt geht. Man muß jedes Wort genau im Kopfe haben, der Nestroy verträgt keine Extempores. Das wäre ein miserabler Schauspieler, der seine Privatspäße in Nestroy’s Sprache mischen wollte. nach oben
 

Nestroy-Inszenierung in unserer Zeit (1968)

Im Augenblick, in welchem das Theater zum Gegenstand historischer Betrachtung wurde, in welchem ein wachsender Sinn für die geschichtliche Eigenart vergangener Epochen mit dem Fehlen eines eigenen, bewußt gelebten Zeitstils zusammentraf, stellte sich die Frage, wie man Klassiker spielen soll, mit besonderer Eindringlichkeit. Innerhalb dieses umfassenden Fragenkomplexes gibt es zahlreiche Einzelprobleme, insbesondere was die szenische Vergegenwärtigung bestimmter Dramatiker der Vergangenheit betrifft. So gilt eine der immer wiederkehrenden Fragen, die in bezug auf das Theater der Gegenwart erörtert werden, dem Thema der Nestroy-Inszenierung in unserer Zeit. Soll man Nestroy im Stil der damaligen Epoche aufführen, soll und darf man ihn modernisieren, ihn bearbeiten? Mit diesen Fragen, in deren Mitte sich das zentrale Problem der Werktreue stellt, haben wir uns an verschiedene namhafte Regisseure des Gegenwartstheaters gewandt, deren Meinungen hier wiedergegeben werden. nach oben

Helmut Schwarz: Zunächst fällt, auf, daß sich bei einer gelungenen Nestroy-Inszenierung dem Zuschauer die Frage nach der Richtigkeit stilistischer Interpretation – vorausgesetzt, es gäbe eine solche auf dem Theater überhaupt – kaum je gestellt haben dürfte: was ohne Fragezeichen eingeht, was sich nicht mit Absicht „interessant“ gibt, sondern klar und selbstverständlich abläuft, erweist sich bereits als kongruente Deutung. Dennoch: diese Antwort erscheint zu allgemein. Trifft sie denn nicht in gleichem Maße auf Sophokles, auf Shakespeare oder Molière zu, hebt sich nicht damit jede Frage nach dem Stil von selber auf? Soweit es den geheimen Vollzug jeder wahrhaft geglückten Inszenierung betrifft, immanente geistige und weltbildhafte Bezüglichkeiten einer Dichtung transparent gemacht zu haben, allerdings. Betrachten wir also den Fall im besonderen. Nestroy war Schauspieler. Er schrieb zu jeder Gelegenheit des Theaters, also sehr viel. Meist Bearbeitungen heute längst vergessener Vorlagen, die erst durch seinen Zugriff bleibender Theaterbesitz geworden sind. Andere hat auch er nicht zu retten vermocht – dennoch werden sie zu Zeiten gespielt. Meisterwerke und Nebenwerke.
Weiters: Nestroy verpflanzte die belanglosen Vaudevilles nach Wien. Er bediente sich nicht nur des lokalen Milieus und der hierin verwurzelten Charaktere, sondern auch des lokalen Dialekts. Er gilt deshalb nicht nur als unübersetzbar in fremde Sprachen, weil sein Witz, sein Wortspiel von Doppel- und Dutzenddeutigkeiten lebt, die in fremdem Idiom kaum nachvollziehbar sind, sondern er wird bereits innerhalb des deutschsprachigen Raumes vielfach nicht vollauf verstanden. Am ehesten, paradoxerweise, immer noch dann, wenn er von einem österreichischen Ensemble gespielt wird: die Schwierigkeit mit Wortinventar und Sprachfärbung wird hier offenbar durch das Plus einer kräftig mimisch-gestischen Interpretation ausgeglichen. Dolmetscherfunktion des Komödiantischen! Fragen wir also nicht nach dem Nestroy-Stil, der, wenn es ihn geben sollte, ebenso wenig artifiziell herstellbar wäre wie der Goldoni-Stil der Italiener für Schauspieler unserer Breitengrade – überlegen wir vielmehr, wann immer uns Nestroy-Inszenierungen besonders gelungen erschienen sind. Beispiele hiefür haben Regisseure wie Lindtberg, Manker, Hübner, Ebbs und andere zahlreich geliefert.
Unzählige Bearbeiter haben sich immer wieder bemüßigt gefühlt, Nestroy zu modernisieren. Bearbeiter des Wortes, der Szene, der Musik. Die meisten sind in ihrem Eifer den Gefahren des Zuviels erlegen: noch ein Couplet mehr, eine Opernparodie, ein Quodlibet – effektvolle szenische Verwandlungen, Gags und Einfälle (die laut Hilpert bekanntlich die Läuse der Gedanken sind). Das Ergebnis war meistens mager. Nichts als billiges Kunstgewerbe – Operette. Denn vielmehr gilt es, freizulegen als hinzuzufügen. Und selbst dann bleiben immer noch jene Stücke, bei denen sich jegliche Bearbeitung verbietet: „Der Talisman“, „Einen Jux will er sich machen“, „Der Zerrissene“, „Das Mädl aus der Vorstadt“, „Frühere Verhältnisse“ – die Meisterwerke (zu denen ich, trotz seiner großen Popularität, „Lum-pazivagabundus“ nicht rechnen möchte). Sie sind überall verständlich, sie sollten im Repertoire keines deutschsprachigen Theaters für immer fehlen. Wogegen es andere gibt, für die ich auf Exportschutz plädieren mochte: Um die Nebenwerke aufzuführen, bedarf es eines an Nestroy geschulten Ensembles, eines Regisseurs mit Einfühlungsgabe und Nestroy-Sinn sowie eines vorbereiteten Publikums – dann gelingt mitunter der große Wurf. Ambessers Inszenierung „Der Färber und sein Zwillingsbruder“ mit Meinrad in der köstlichen Doppelrolle war in meinen Augen ein derartiger Glücksfall. Hingegen kann die schwache Wiedergabe eines schwächeren Werkes, meist unselig bearbeitet und verblödelt, der Nestroy-Pflege ungemein schaden und Mißverständnisse unter den Nicht-Kennern fördern.
Was aber die Frage des „Wie“ betrifft: Nestroys Biedermeier unterscheidet sich von dem Raimunds nicht nur dadurch, daß es gar wenig Romantisches an sich hat – es ist im Grunde genommen ausgesprochen ungemütlich und äußerst aggressiv. Schon die Themen sind es: ein armer Teufel (rothaarig, also kein Andorraner), der um seiner Karriere willen bedenkenlos alles aufs Spiel setzt, ein kleiner Kommis, der für einen Tag aus dem grauen Alltag seiner eintönigen Vergangenheit und einer bevorstehenden ebensolchen Zukunft ausbricht, ein Reicher, der die Auswahl aller ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten unerträglich abgeschmackt findet, ein Mädchen, das durch Verleumdung eines Defraudanten seine Herkunft verbergen muß oder, in Umkehrung des Tatbestands, Menschen, die aus gespielter Vornehmheit ihre niedere Abstammung ängstlich unterschlagen! Dazu eine messerscharfe Diktion, die Lust, es der Welt so richtig hineinzusagen.
Sie liefert den Schlüssel für jegliche Inszenierung. Zwar deckt sich in Nestroys besten Werken Situation und rhetorische Aussage, mitunter aber kommt es vor, daß ihm das Sagenswerte wichtiger erscheint als der handlungsmäßige Anlaß. Das liefert einen wertvollen Hinweis. Die Spielsituation darf nie auf Kosten der Wortverständlichkeit (im engeren und weitesten Sinne) überwiegen. Freilich – es gibt in jedem seiner Stücke mehr als genug Situationskomik, die auszukosten sich kein Schauspieler nehmen lassen wird und die Nestroy selbst, der Vollblutkomödiant, gewiß reichlich genossen hat. Daneben aber Monologe und Lieder, manche bekenntnishafte Wortorgien, wo jedes Zuviel schadet, wo der Text, schlank und mit intellektueller Wachheit vorgebracht, für sich allein so stark wirkt, daß jede Auflösung in Spiel und Gestik bereits eine Schmälerung bedeutet. Als die ideale Nestroy-Aufführung betrachte ich daher jene, die eine kluge Balance zu halten versteht, die das Publikum zu Lachstürmen entfesselt und doch stets so sehr in der Hand behält, daß sie unvermutet im nächsten. Moment Betroffenheit auszulösen vermag.
Als die Hauptqualitäten einer guten Nestroy-Aufführung erscheinen mir realistische Selbstverständlichkeit und geschliffene Direktheit. Als die Hauptgefahren und Hauptsünden: biedermeierhafte Lieblichkeit in bonbonhafter Verpackung sowie jede Art von ausgeklügelter Raffinesse. Auf die Musik bezogen hieße das: man soll Nestroy eher auf zwei Klavieren spielen als mit großem Orchester.
Ein jüngerer Regisseur formulierte auf einer Probe gelegentlich, für ihn sei Nestroy vor allem „proletarisch“. Das hat etwas für sich, wenn wir diesen Begriff um ein Jahrhundert zurückverlegen und ihn vom Odium des Vulgär-Derben befreien. Denn bei aller Robustheit, bei allem Realismus der Figurenzeichnung läßt sich der Charme eines vergangenen Wienertums doch nicht völlig hinwegleugnen, was uns seine Handschrift selbst dann noch liebenswert erscheinen läßt, wenn er seinen Zeitgenossen und uns – hier ist der Unterschied gar nicht so sehr groß – nur wenig Schmeichelhaftes offeriert. nach oben

Leopold Lindtberg: Sich mit Johann Nepomuk Nestroy auseinanderzusetzen bedeutet, sich fürs erste mit den Mißverständnissen auseinandersetzen, die um diese erstaunlichste Gestalt des Wiener Vormärz entstanden sind und immer von neuem entstellen. Wie man Schiller und Goethe als die Repräsentanten der deutschen Klassik gemeinsam nennt, paart man Nestroy mit Raimund, wenn von der klassischen Wiener Volkskomödie die Rede ist. Aber, um mit dem Erstgenannten zu sprechen, „das trifft nicht immer so paarweis als wie die Strümpfe oder die Ohrfeig’n beisamm’“. Denn genau zwischen den beiden Repräsentanten einer vermeintlich gleichen oder geistesverwandten Kategorie verläuft der Trennungsstrich, der zwei Epochen des Theaters scheidet.
Nestroys trauriges Bonmot von der Resignation als der edelsten unter allen Nationen mochte vorzüglich auf die Gemütslage seines Vorgängers Raimund zutreffen, sein eigenes Werk wäre mit dem Vorwurf der resignatorischen Haltung durchaus fehlinterpretiert.
Nestroys Zeitgenossen sahen in seinen Stücken nichts als rasch vergängliches Theatermaterial, das den Tagesbedarf an Unterhaltung und politischer Anzüglichkeit und an dankbaren Rollen für eine Reihe von talentierten Volksschauspielern deckte, unter ihnen Nestroy und der beliebte Komiker Wenzel Scholz. In Nestroys Dialogentwürfen sind die Hauptfiguren gewöhnlich mit N. und Sch. bezeichnet, den Anfangsbuchstaben von Nestroy und Scholz, nicht anders, als ob es sich um A. (Arlecchino) und P. (Pantalone) handelte. In späteren Zeiten mag es V. (Carl Valentin) und K. (Liesl Karlstadt) geheißen haben.
So wird keine hohe Literatur geschaffen, so wird für den Tag geschrieben, und nicht anders hat Nestroy seine Arbeit eingeschätzt. Er wäre verblüfft gewesen, zu hören, daß man ihn eines Tages zur Literatur rechnen würde. Von den 73 Komödien, die er verfaßt hat, lagen nach Nestroys Tod gerade 12 in wenigen Exemplaren gedruckt vor; alles andere vergilbte in den Archiven der Theater und wäre von dort eines Tages als Makulatur verschwunden, wenn nicht das Carltheater 1881 die hundert Jahre seines Bestehens gefeiert und dabei mit einem Akt dankbarer Pietät des beliebten Autors einer vergangen geglaubten Epoche gedacht und einen kleinen Nestroy-Zyklus veranstaltet hätte.
Der wahre Geist Nestroys blieb aber bei seiner Wiederentdeckung unentdeckt. Ihn zu erkennen, war einem einzigen, großen, einem wahrhaft Geistesverwandten vorbehalten. Als aber dieser Einzelgänger und Eigenbrötler, Wiens bestgehasster Publizist, als Karl Kraus 1912, zu Nestroys 50. Todestag mit seiner Schrift „Nestroy und die Nachwelt“, eben dieser Nachwelt mit Blitz und Donner eröffnete, welches Genie sie in Leben und Tod verkannt hatte, war die Zeit reif geworden für ein solches Erkennen und für die Fälligkeit der kritischen Selbstbetrachtung. Seither zählt Nestroy zur Literatur, nicht zur hohen, aber zur geistig anspruchsvollen, heute würde man sagen: zur schwarzen Literatur. Seither gehört er aber auch zu den Autoren, welche die Bühnen zu stilistischen Überlegungen zwingen, die zeitbewußt, ja bekenntnishaft aufgeführt. werden wollen. Und somit ist weiteren Mißverständnissen Tür und Tor geöffnet, denn unserem heutigen Theater – um nicht zu sagen, unserem Theater heute – muß man den Köder des Grundsätzlichen nur hinwerfen, und schon gibt’s nichts mehr zu lachen.
Es ist allerdings nicht ganz einfach, Nestroy, dem übersprudelnden Theatergenie, und Nestroy, dem Schopenhauer der Bühne, wie man ihn früher oft nannte, zugleich gerecht zu werden. Dem äußeren Handlungsverlauf nach sind seine Komödien durch ihre harmlosen Vorlagen bestimmt. Sie verlaufen, dramaturgisch gesehen, nach den Gesetzen der Posse, des Vaudeville oder des erbaulichen Volksstückes. Das Gute siegt, das Böse wird bestraft, die Paare kriegen einander, und Erbtanten sterben im richtigen Moment, um das entscheidende Hindernis vermeintlichen Eheglücks, die Besitzlosigkeit, aus der Welt zu schaffen. („Nein, was im Jahr Onkel und Tanten sterben müssen, bloß, damit alles gut ausgeht –!“) Aber dennoch: wie oft kriegen die ärgsten Halunken die bravsten Mädchen, wird die Verehelichung als Strafe vollzogen und der kühne Außenseiter ins bürgerliche Leben zurückgeholt, wie oft wird goldverkleisterte Willkür als Deus ex machina bemüht! – Wenn die Handlung entsprechend den Erwartungen bürgerlicher Moralbegriffe ins fragwürdige Happy-End gemündet hat, so sind es doch meist die Aufsässigen, die Dick- oder Rotköpfigen, die Zwiderwurzen und Einzelgänger, die dafür gesorgt haben, daß „sich die Ordnung der Dinge nachher von selbst ergibt“, die Schnoferl, Kampl und Feuerfüchse.
Die wahrhaft elementare Genialität Nestroys sitzt in der explosiven Kraft seiner Sprache, aber auch sie liegt nicht offen zutage; sie kamoufliert sich mit scheinbarer Gemütlichkeit, mit biedermeierlicher Betulichkeit und versteckt sieh hinter Kalauern, Wortspielen und abenteuerlichen Satzverdrehungen und in der Behaglichkeit des wienerischen Dialekts, den man als den bewährtesten Ort friedlicher Geborgenheit zu empfinden bereit ist. Der Dialekt ist Nestroys tückischste Waffe, und hier lauert die eigentliche Gefahr der Wiedergabe.„Wir werden“ – heißt es in der erwähnten Schrift von Karl Kraus – „seiner Botschaft den Glauben nicht deshalb versagen, weil sie ein Couplet war … oder weil er sein Dynamit in Watte wickelte und seine Welt erst sprengte, nachdem er sie in der Überzeugung befestigt hatte, daß sie die beste der Welten sei, und weil er die Gemütlichkeit erst einseifte, wenn’s ans Halsabschneiden ging.“
Erst die Nachwelt, der Kraus im übrigen das Recht bestreitet, sich Nestroy gegenüber sicherer im Urteil zu fühlen, als es die Mitwelt konnte, hat begriffen, wie weit Nestroy über seinen Stoff hinausgriff.
Nestroy erweist im Umgang mit der Sprache seiner Umgebung eine dämonische Gäbe, Menschen und Situationen auf unwiderstehlich komische Weise zu demaskieren und die Dinge durch eine verzerrende Optik ins richtige Licht zu setzen. „Fordere kühn, sprich ohne Scheu, wie dir der Schnabel wuchs!“ Perfekter läßt sich das Mißverhältnis zwischen Gönnerhaftigkeit und angemaßter Hochsprache nicht fassen als in diesem verhatschelten Imperfekt, das genau das Gegenteil des Geforderten ausdrückt.
Was sich in Nestroys Sprache vollzieht, ist immer ein Urteilsspruch. Er ist inappellabel, kann aber nur in dieser Sprache vollzogen werden. Er ist an die Sprachlandschaft, die wortmusikalische Nuance gebunden. Nestroy ist unübersetzbar. Er ist vor allem nicht ins Hochdeutsche zu übersetzen, selbst wenn manche Wort- und Situationswitze in annähernden Werten wiedergegeben werden können. Nestroy sei also – möchte man schließen – nur von echten Wienern und ausschließlich wienerisch zu spielen. Hier liegt das nächste, weitverbreitete und verhängnisvolle Mißverständnis vor: Nestroys Sprache ist wienerisch, und jede Sprachnuance hat ihre Quelle in der wienerischen Farbe. Aber sie hat nichts mit dem Vulgärbegriff des Wienerischen zu tun. Nestroys Sprache ist in jeder Phase eine Kunstsprache. Mit einer Übersetzung tut man ihr so unrecht, als wenn man Nestroy im vulgär wienerischen Ton sprechen läßt, in dem Dialekt, den nicht ganz Unbewanderte, aber tief Ahnungslose hernalserisch, ottakringerisch oder gar pülcherdeutsch nennen mögen. Wo diese Dialektfarbe auftaucht – es geschieht nur in seltenen Momenten – ist auch sie von Nestroy stilisiert und bewußt als Kunstmittel eingesetzt. Anzengrubers Vorstadtwienerisch oder Steinsteirisch sind naturalistische, der baren Wirklichkeit nachgebildete Urlaute im Vergleich mit den durch Bildungsbesessenheit und Burgtheaterfärbung pathetisch überhöhten Sprachexzessen der anspruchsvollen, inbrünstig bildungsgläubigen Figuren Nestroys.
Es gibt bei ihm keine Gestalt ohne Bildung oder Bildungshunger, keinen Charakter ohne Standesehrgeiz. Der dümmste seiner Hausdiener, der tölpelige Melchior im „Jux“ bedient sich der ständigen Redensart „Das ist klassisch“, nicht weil er so etwas einmal aufgeschnappt hätte, nein aus heißer Verehrung für das Höhere, dem noch die niedrigsten Gestalten in Nestroys Possen anhängen. Den Schuster Knieriem mit seinem Hang zur Astronomie, der vor dem Kometenlied den ungeheuerlichsten Bandwurm von pseudowissenschaftlichem Gallimathias abspulen muß, gegen den Ionescos sprachliche Leerlaufkaskaden harmlose Kinderabzählverse sind, der dicke Fass in dem kleinen Zweiakter „Verwirrte [Verwickelte] Geschichte“, der mit glühender Leidenschaft dem Deutschen Bund anhängt und in jedem Bierglas die Morgenröte der Freiheit aufleuchten sieht; ganz zu schweigen von den wirklich Hochgebildeten, dem Journalisten Ultra, dem Winkeladvokaten Schnoferl, oder den zu ihrem Kummer nur Halbgebildeten, mit dem Streben nach Höherem Behafteten, wie der „Mussi“ Weinberl, der Leben und Merkantilisches vergleicht, oder Titus Feuerfuchs, der es gerade bis zum „intellektuellen Zurseitesteher“ bei einem schöngeistigen Blaustrumpf bringt – sie alle haben den Zug nach oben; gemeinsam bilden sie eine hoffnungsfrohe Schar von Fortschrittsgläubigen, und gemeinsam werden sie von ihrem Schöpfer, dem satanischen Vorstadtphilosophen, im Stich gelassen und in der Mühle des ihnen auferlegten Angestellten-, Ehekrüppel- oder Kridatarenschicksals aufgerieben. Sie alle versuchen, sich an der Hochsprache, die ihnen die Nähe höherer Wesenheit verbürgt, emporzuranken. „Tu ich nicht das Mögliche’?“ stöhnt ein Kellner, der ebenso verliebt in ein Mädchen ist wie in die von ihr zu erwartende Mitgift, „Ich red so hochdeutsch, daß mich unsre täglichen Gäst alle ein’ faden Kerl heißen!“
Nestroys Kunstsprache besitzt Rhythmus und ist darum klarer und verständlicher als unser breiiges Alltags- und operettenwienerisch, sie ist aggressiv und pathetisch und bringt ein völlig neues Element in den österreichischen Dialekt: die Dialektik.
Dennoch – das Theater, das Nestroy nur von seiner Sprache her beikommen will, wird uns die Hälfte seines Wesens vorenthalten: sein Komödiantentum. In einem berühmt gewordenen Nachruf auf den Dichterkomödianten heißt es:
„Pan ist tot! Nestroys satirisch spielender Mund ist verstummt, sein dunkles, leuchtendes Auge sprüht nicht mehr elektrische Witzfunken, sein Körper verrenkt sich nicht mehr zum satanischen Cancan, zum Gliederspiel des grotesken Tanzes seiner Worte.“
Der geniale Worttänzer widersetzt sich mit jeder Faser der Einreihung in eine Klassizität, zu der ihn unsre humorlosen Nestroypuristen – ein groteskes, aber oft gehörtes Wort, das von ihm selbst stammen könnte – verurteilt wissen wollen. Nestroy – wie großartig sein Verdienst um eine neue Bühnendialektik sein mag – gehört den Komödianten, nicht den Literaten. Für die Literatur hatte er keine Zeit. Er starb mit 62 Jahren, nachdem er die letzten Lebensjahre in Zurückgezogenheit verbracht hatte. Zu seiner eigentlichen Bestimmung gelangte er spät, denn erst nach einem juristischen Studium und kurzer Kanzleipraxis kam er zum Theater, aber nicht als Komiker und noch lange nicht als Stückesehreiber, sondern als Basso serio. Seine erste Partie war der Sarastro, dann sang und spielte er sich durch das ganze ernsthafte Opern- und Schauspielrepertoire vom Kaspar im „Freischütz“ bis zum Gessler im „Wilhelm Teil“, ehe er endlich an seine eigentlichen Rollen gelangte, in die Komikerkarriere, die es schließlich mit sich brachte, daß er sich seine Rollen selbst zu schreiben begann. An die 900 gespielte und gesungene Rollen, 83 Komödien, in denen er fast immer die Hauptrollen spielte und sang, und am Ende noch, nach Karl Carls Tod, die Direktion des Theaters in der Leopoldstadt; in seinem Nachlaß fand sich ein Vorrat von einigen hundert Bonmots und Aphorismen, die er gelegentlich zu verwenden gedachte … Ist es da verwunderlich, daß seine Texte von unterschiedlicher Qualität sind, daß ganze Akte nur eben skizziert und, offenbar in Zeitnot, sozusagen als Gerippe für nachträgliche, komödiantische Improvisationen roh hingeworfen sind? Mußte er sich nicht auch ein Leben lang mit der Zensurbehörde herumschlagen, die ihm das Extemporieren und Improvisieren verwehrte? Man vergleiche etwa (in Rommels und Brukners kritischer Ausgabe) die Originalfassung der berühmten Briefszene aus dem „Lumpazi“ mit der „zerspielten“, unsinnig komischen Fassung, in der sie später, nach unzähligen Aufführungen, von Generationen von Komikern improvisatorisch erweitert, auf uns gekommen ist, und erzähle uns dann etwas von der Heiligkeit der Nestroyschen Texte! Natürlich gibt es „heilige Stellen“ bei Nestroy, an denen zu rütteln Todsünde wäre.
„Ha, so zerschmettert, ihr Kniescheiben! Stürz nieder, Winkelagent! So eine Seligkeit kann der Mensch nicht als so stehender ertragen!“
„Sie sind eine Handarbeiterin, die Fuß fassen will in den Herzen der Männer, indem sie ihnen die Kopf verrückt durch melancholischen Anstrich und scheinheilige Kokettur! Sie werden um kein Haar anders sein als wie die, die um kein Haar anders sind als wie Sie, spielen aber die überspannte, die Reine, die Verklärte, als wie die Jungfrau von Orleans, bevor s’ zum Militär ’gangen is.“
„Das sind die psychologischen Quadrillierungen, die das Unterfutter unseres Charakters bilden.“
Das sind nur drei Zitate aus einem einzigen Meisterwerk, dem „Mädl aus der Vorstadt“, und mit solchen Kostbarkeiten ließen sich ganze Bände füllen. Und doch möchte man wünschen, es fände sich der respektvolle Bearbeiter, der aus „Freiheit in Krähwinkel“, dem Stück mit dem besten ersten Akt, den Nestroy verfaßt hat, ein aufführbares Theaterstück machen könnte. Und wieviel Schätze ließen sich aus den vergessenen Komödien, den Parodien heben, und den Couplets, von denen nichts Bestand hat als die genialen Refrainzeilen, die, aneinandergereiht, ein Kompendium des Skeptizismus ergebenwürden!
Das Wiener Theater, seit jeher durch Eigenlob und Selbstgefälligkeit gefährdet, besitzt vor den anderen deutschen Theaterlandschaften einen unschätzbaren Vorteil. Der Typ des Wiener Volksschauspielers ist nie ausgestorben. Ein Genie, wie Nestroy es war, ersteht wohl kaum einmal in einem Jahrhundert, aber so, wie auch er nur einer in einer ganzen langen Reihe von außerordentlichen Künstlern war, gab es nach ihm die Knaak und Krastel, Girardi und Pallenberg, Thaller, Tyrolt, Mayerhofer und Moser und gibt es heute eine ganze junge Generation von begabten Komödianten, die Nestroys Tradition weiterführen und dort lebendig erhalten, wo sie ihre Wurzeln hat, auf dem Theater, auch wenn es nicht immer die etablierten und repräsentativen Bühnen sind. nach oben

Otto Schenk: Zunächst einmal soll man von mir kein Rezept erwarten für einen Nestroy-Stil, denn bei jedem Stuck – und das gilt selbstverständlich auch bei Nestroy – sollte eigentlich das Theater neu erfunden werden. Man könnte eher den umgekehrten Weg gehen und sagen, daß die bisherigen Rezepte und einschränkenden stilistischen Elemente einerseits dem großen Dichter Nestroy, anderseits dem Theaterpraktiker und vor allem dem um den Erfolg eines Abends kämpfenden Schauspieler Nestroy in keiner Weise gerecht wurden.
Die erste große Frage erhebt sich schon bei den Stücken als solchen, die ja von Nestroy am laufenden Band für den Bühnenbedarf geschrieben und nicht einmal erfunden wurden, sondern auf übernommenen Vorlagen basieren. Soll man diese Stucke überhaupt bearbeiten? Es gibt in jedem Nestroy-Stück Stellen, die von ihm wörtlich gespielt wurden, die einen eigenen, fast schillerschen Duktus haben, eine spezifische, geradezu klassisch hochdeutsche Diktion, die sich nur des Dialektes als Ausdrucksmittels bedient; diesen Stellen sollte man die gleiche Endgültigkeit zubilligen wie der Sprache Kleists, Schillers und Goethes. Sie haben absolut unberührt zu bleiben, und wörtlich soll aus ihnen herausgeholt werden, was dieser Dichter da zu sagen hatte. Dann gibt es wiederum in jedem Stück komödiantische Szenen, Quodlibets und Übergangsszenchen, die dem Dichter sichtlich nicht so am Herzen lagen wie die Kernszenen des Stücks, mit denen er recht eigentlich sich zu einer Aussage bekennt. Es ist absolut unstatthaft, einen Nestroy-Monolog zu fälschen.
Nun zur Aufführungspraxis: Schon das Publikum ist falsch unterrichtet und siedelt Nestroy in der Gegend des Gaudiums, der Lustigkeit, ja sogar der Operette an, erwartet womöglich einen Bunten Abend. Es sollte eher mit der Einstellung ins Theater gehen, mit der es zu Brecht oder zu einem satirischen Stück zu gehen bereit ist. Das schließt natürlich das Lachen nicht aus, aber Nestroy ist kein Dichter, der geschrieben hat, um zu unterhalten oder um nur zu unterhalten. Das Falsche dieser Ansicht fällt am meisten ins Auge, wenn man die Bühnenbilder einer mittelmäßigen üblichen, oft sehr erfolgreichen Nestroy-Aufführung sieht. Diese ganz falschen Bühnenbilder gaukeln meist eine Gemütlichkeit vor, die den Wiener Heurigen und der Wiener Fremdenverkehrspropaganda nähersteht als einem satirischen Dichter. Das Nestroy-Bühnenbild hat spartanisch zu sein, klassisch in seiner Linie, auf das Notwendigste reduziert, die Lokalitäten eher kommentierend als ausmalend, das Milieu bestimmend, aber nicht überzeichnend. Man muß das Gefühl haben, daß in diesem Bühnenbild etwas anderes wichtiger ist als das Dekor, etwas, das mit dem Wort, der Sprache, mit der Satire zu tun hat.
Diese falsche Form entsteht vielleicht aus dem Mißverständnis, das durch das Wort Biedermeier erweckt wurde. Biedermeier hat selbstverständlich zwei Gesichter; es war nicht nur die Zeit der Gemütlichkeit, der Blumenbilder, der Miniaturen, der Idylle, sondern es war auch die Zeit der beginnenden bürgerlichen Revolution, der großen sozialen Gegensätze, die Zeit des Bürgertums, das sich seiner selbst bewußt wurde, es war die Zeit einer strengen, unerbittlichen, diktatorischen Zensur. Es gab in Wien in dieser Zeit bei einer Revolution immerhin zweitausend Tote innerhalb von wenigen Tagen. Nestroy hat zu dieser Zeit Stellung genommen. Außerdem war sein „Volkstheater“ immer von der intellektuellen Oberschicht Wiens besucht. Seine Stücke waren weit entfernt von der Volksbelustigung eines Bäuerle, Meisl oder Gleich. Das neue Stück von Nestroy war immer ein kulturpolitisches Ereignis, über das ganz Wien diskutierte.
Nestroys Theater ist ein gescheites Theater. Es ist das Gegenteil eines naiven Theaters, und es bedarf gescheiter Schauspieler. Mit dem üblichen Volkskomiker ist der Sache nicht bei zukommen. Dieser wird nicht einmal die Diktion Nestroys befriedigend treffen. Es bedarf eines Erzkomödianten mit brillanter Sprechtechnik, es bedarf des Temperaments, das vielleicht mit dem französischen esprit verwandter ist als mit der behäbigen Natur eines wenn auch guten Volkslieblings. Nun sind wir dort, wo ich glaube, daß Nestroy am meisten geholfen werden müßte: beim Wort. Alle Hauptrollen – ich spreche hier von den Nestroy-Rollen, die er selber gespielt hat – gehen über das Milieu und über den Beruf, den sie ausüben (er wählt immer einen typischen Berufsstand), hinaus. Das Vokabular der kleinen bildkräftigen Welt eines Berufsstandes wird aufgebläht, und mit den Worten, zum Beispiel eines Schreibers, wird die Situation der Welt eingefangen. Diese hypertrophischen Redseligkeiten seiner Hauptrollen, die so erregt werden, weil einfach der Gegenstand, den sie zu kommentieren haben, ein so erregender ist, führen zu einer abstrusen Komik, die sich aus dem Zuviel an Worten ergibt. Sie drücken sich nicht einfach aus, weil ihnen die Welt so kompliziert ist.
Ein Punkt, der immer wieder zu Mißverständnissen führt, ist, daß das Gleichgewicht zwischen Text und Musik, das bei Nestroy in geradezu genialer Ökonomie gesetzt ist, immer wieder durch zusätzliche Couplets und Opernparodien gestört wird. Wenn man seine Stücke liest, sieht man, mit welchem Raffinement eine Situation dorthin führt, wo das Couplet in einem Punkte der Verzweiflung oder Ratlosigkeit oder gar Resignation elementar ausbricht, wo, um mit Giraudoux zu sprechen, der Darsteller es nicht mehr sagen kann, es singen muß. Es ist meiner Ansicht nach undenkbar, an Punkten, wo Nestroy keine Musik verlangt, wo kein Couplet steht, eines mühsam hineinzuflechten. Eine ähnliche Gefahr ist auch, Nestroy selbst zu bestehlen, das heißt aus anderen Stücken Couplets einzuführen oder gar Figuren Couplets singen zu lassen, die nicht coupletfähig sind. Das gilt besonders für viele Frauenrollen, die bei Nestroy immer nur reflektorische Stimmungslieder singen (zum Beispiel Salome Pockerl), aber nie eines satirischen Couplets fähig wären. Einen musikalischen Abend aus einem Nestroy-Stück, ein Wiener Potpourri aus diesem Gegner alles Gemütlichen zu machen, kann diesen Dichter nur verfälschen. Die Musik von Wenzel Müller, Binder oder anderen Komponisten Nestroys muß, in den Fällen, wo sie existiert, gespielt werden. Die Primitivität dieser Musik ist ein Kunstmittel; das Raffinieren von Nestroys Musiken bringt ihn um seine direkte Wirkung. Die Couplets wurden nicht gesungen, um einen musikalischen Genuß zu erzielen, sondern waren zweckgerichtet, fast leierkastenartig, um mit aus dem Wienerischen kommenden konventionellen Mitteln etwas Unkonventionelles, das vom Text her dazukam, zu begleiten und zu unterstreichen. Wäre die Musik der Kompliziertheit des Textes adäquat, würde, man ein gekünsteltes Raffinement spüren, das der Scheinheiligkeit eines Couplets Nestroys konträr wäre.
Nestroy tut nur so, als ob er ein naiver Dichter sei, er tarnt sich in der Volkskomödie, er ist ein fast gelehrter, belesener, hochgebildeter Mensch, der sich einer vorhandenen Theaterform bedient, um heimlich in ganz andere Bereiche vorzudringen. Diese Einfachheit, dieses Als-ob, muß auch heute noch in einer idealen Nestroy-Vorstellung spürbar sein. Nestroys Theater entstand auf der Bühne (er ist da Shakespeare und Molière verwandt) und nicht am Schreibtisch. Er galt als unspielbar, als er starb; sein Theater schien mit ihm identisch. Es bedarf der Schauspieler mehr noch als der Regisseure, und meiner Erfahrung nach habe ich einen Nestroy-Abend immer am meisten genossen, wenn der Nestroy-Schauspieler gut war. Sämtliche Zutaten waren plötzlich unwichtig, und es war gleichgültig, in welcher Dekoration zum Beispiel Karl Paryla sein „A da hab i scho gnua“ gesungen hat. Auf der Bühne und aus dem komödiantischen Gefühl heraus sollten nur die Übergangszenen und die schwachen Szenen Nestroys bearbeitet werden, und man wird sich wundern, wie wenig da eigentlich noch zu bearbeiten ist. nach oben

Helmuth Matiasek: Er ist heute der Vielzitierte. Seine Aphorismen über die Armut, die Obrigkeit, den „Eh’stand“ bieten sogar Stoff für Partygespräche. Man kann bei Nestroy nachschlagen, wenn man Literaturkenntnis, Austrophilie und Humor in einem beweisen will. Er gehört zum guten Ton der Esoteriker, die im Süddeutschen eine verborgene komödiantische Kraft vermuten; Nestroy-Sprüche werden gesammelt wie Jahrgänge der „Fackel“ und Schallplatten von Qualtinger oder Georg Kreisler.
Aber der Spruchmacher Nestroy verdiente es auch auf anderen Ebenen lebendig zu bleiben, auf unseren Bühnen etwa, wo er vernachlässigt, regielich mißdeutet, darstellerisch meist verlacht wird. So vordergründig aufgetischt werden seine Stücke, die heute noch wie damals volle Häuser machen, unter viel unreflektiertem Gelächter abserviert. Nestroys Reflexionen, denen nichts Menschliches fremd ist, sein witziger Pessimismus, seine mehrfachbödige Eloquenz, dies alles verfällt der Theaterroutine, die sich längst ein Passe-partout für Nestroy zurechtgelegt hat. Wieder einmal erweist sich die Nachwelt als undankbar.
Wer wird nicht einen Klopstock loben? Nestroy wird gelobt, wo die Dramaturgien ihn ausplündern sollten. Er wird beachtet – unterschätzt, wie dies seit Georg Büchner mit deutschen Theaterdichtern geschieht. Man begnügt auch damit, von ihm viel zu wissen: daß er dankbare Rollen geschrieben hat, dass er ein Wiener Aristophanes sei, der unter die scharfzüngigen Philosophen Lichtenberg und Jean Paul einzureihen ist, dass er auch den Ahnherrn der satirisch-makabren Schriftsteller des 20. Jahrhunderts abgeben könne, für Horváth und Dürrenmatt, für Karl Kraus und den „Herrn Karl“.
Vorstadtkinos in Wien tragen noch Nestroys Namen, aber dieser Name ist durch keine Truppe in die Welt getragen worden wie Goldoni durch Mailands Piccolo Teatro und Molière durch die Comédie-Francaise oder das T.N.P. Und, abgesehen vom Export, es scheint ihm selbst an nationalen Pflegestätten zu mangeln; er ist beispielsweise keine Konstante im Repertoire der Salzburger Festspiele geworden. Groß ist die Klage, es gäbe zu wenige deutsche Komödien. Nestroys Komödienwerk, immerhin in einer deutschen Sprache geschrieben, ist schon dem Umfang nach ausreichend, seinen Dichter neben Hans Sachs als fruchtbarsten komischen Stückeschreiber, den die Germanistik kennt, bestehen zu lassen. Das zählte nicht viel, wenn der Staub auf seinen durch die k. u. k. Zensur gequälten Manuskripten zu dick geworden wäre. Aber es herrscht Einigkeit, daß Nestroys brillanter Spott erweckungsswürdig, geradezu modern ist. Wer zögert also warum?
Wien wäre am Zug. Am dünnen Faden spinnt sich dort eine Nestroy-Tradition aus den Tagen des Meisters bis zu uns. Sie besteht im wesentlichen aus der Tatsache, daß Nestroy-Possen monoton regelmäßig im Repertoire vorgesehen sind, als Pflichtübung gewissermaßen, und daß sich „Experimente“ im Aufführungsstil von selbst verbieten. Der Lokalstolz weiß zu genau, wie Nestroy ist und „ankommt“, man braucht aus ihm keine Frage zu machen. Das ist fraglich. Denn es gab fette Nestroy-Jahre, als noch eine Garde wie Inge Konradi, Karl Paryla, Hans Putz, Karl Skraup und Hugo Gottschlich am Volkstheater versammelt war, und magere, wenn die Fernsehkomiker und angeblich populären Alleinunterhalter ihr Rollenwahlrecht auch für Nestroy geltend machten.
Außerhalb Wiens macht sich unbegründete Skepsis breit. Man hält den Dichter in Lübeck für zu süddeutsch, in Karlsruhe für zu österreichisch und in Innsbruck für zu wienerisch, um bedenkenlos seine Aufführungen zu planen, wie dies mit anderen mentalitätsgebundenen Autoren, selbst John Synge und Eduardo de Filippo, geschieht. Man vergißt, daß das große Komikerkleeblatt zu Nestroys Zeit aus einem Wiener, einem Brixener und einem Hamburger bestand. Kierkegaard erinnert uns an Berlin als Stadt mit großer Nestroy-Tradition. Die Scheu vor der wienerischen Hürde ist eine der Todsünden, die an Johann Nestroy begangen werden. Seine Sprache bedient sich des Wienerischen als Stilmittel, sie darf nicht als deftiges Lokalkolorit mißverstanden werden. Aber eine Sünde zieht zwei nach sich. Die Flucht aus dem Strafraum Wien, so glaubt man in vielen deutschen Intendanzen, kann man nur durch eine österreichische Besetzung oder durch Bearbeitung schaffen. Ersteres ist gefährlich. An Dreispartentheatern mittlerer Größe sind oft die Operettenleute, Tenöre wie Buffi, im Besitz eines österreichischen Reisepasses. Zu allem Unglück glaubt man, einer „Posse mit Gesang“ zugleich mit geschulten Singstimmen auf die Beine geholfen zu haben. Das Ergebnis sind auf Operettenart verwüstete Inszenierungen, durch viele Witze und bunt aufgemöbelte Ausstattung auf einer niveaulos falschen Ebene abgehandelt und meist die Publikumserwartung auf große Musik und Sentiment enttäuschend.
Zur Todsünde Bearbeitung: Nestroys Stücke hatten bereits die Feuerprobe vieler Aufführungen hinter sich, wenn sie zum Druck vorlagen. Was wir in der Rommel-Ausgabe lesen, sind bereits im Sinne der Bühnenpraxis „bearbeitete“ Stücke, auf straffe Handlung hin gestrichen und pointenbewußt. „E liederlig Kleeblatt“ (nach „Lumpazivagabundus“) und „Geliebter Lump“ (ein niedliches Lustspiel nach dem galligen „Talisman“) gehören auf den Index. Ganz anders steht es etwa um die durch einen einfachen Strich gewonnene Schlußversion in „Lumpazivagabundus“ oder die neue Testamentszene im „Zerrissenen“, beides aus der Feder des für Nestroy kompetenten Hans Weigel. Neuere Bühnentechniken dürfen selbstverständlich das Szenengefüge verändern, wie der Drehbühnen-„Jux“ von Leopold Lindtberg oder eine „Talisman“-Version des Schreibenden für die Stadtbühnen Köln (ein Ablauf szenischer Stationen erst, vorwärts, dann rückwärts, der steilen Karriere, bzw. dem Niedergang des Titus entsprechend).
Bearbeitungen, die eine plausible Regieabsicht aus der Stückfabel heraus deutlich werden lassen, dürfte Nestroy ohne Schaden überstehen. Aber Inszenierungsmethoden, wie sie häufig aus Mißtrauen gegen die Tragfähigkeit des „konventionellen“ Handlungsgeschehens praktiziert werden, bieten einen ganzen Katalog an Unsitten dar: Verniedlichungen, breite gemütliche Komik, dem amerikanischen slapstick entlehnte Gags. Auch im Klischeebild vom Zauber des Biedermeiers ist der wahre Nestroy im Käfig. Er spottet der historisierenden Beschreibung. In seinen Stücken ist das vormärzliche Wien nur Ausgangspunkt für seinen aufgeklärten Witz, gibt nur den Gegenstand der Entlarvung ab. Seine Figuren scheinen förmlich aus der engen Kulisse in die Gegenwart springen zu wollen, sie distanzieren sich in pausenloser Suada von ihren dummköpfigen Zeitgenossen, die eigene Rolle inbegriffen, sie desillusionieren Biedermeierliches in herzloser wie herzhafter Kritik. Nach einer stillen Übereinkunft unserer Bühnen werden Autoren oft in dem Zeitstil dargestellt, von dem sie seinerzeit mit allen Kräften loszukommen suchten; Goldoni als commedia dell’arte, Lessing und Beaumarchais durch tänzelnde Rokokofiguren. Aber wie sich die Barbarei des Absolutismus hinter Watteau-Grazie tarnte, so wenig können die handkolorierten Kupferstiche aus „Bäuerles Theaterzeitung“ etwas von der wahren Lügenfassade der fossil gewordenen Donaumonarchie vermitteln. Nestroy war der große Verspotter seiner Zeit, in seiner Art ein Bilderstürmer, und deshalb kann man ihn durch gestellte Tableaus und choreographische Stilübungen à la Biedermeier nicht wiedergeben. Man kann es, wenn man gleichzeitig den pseudotugendlichen Kleinbürgersinn sichtbar macht, den Krinoline und Hausmusik so ängstlich verdeckten. Man könnte den aufhaltsamen Aufstieg des Titus Feuerfuchs an das Lehrstück Brechtscher Schule annähern oder im Abscheu gegen die rote Haarfarbe (beides aus „Talisman“) etwas wie absurdes Theater sehen.
Seiner Zeit um eine Nasenlänge voraus, kann Nestroy manche spätere Stilrichtung vorwegnehmen, auch das sozialkritische Volksstück, auch das politische Kabarett. Gerade in unserem Jahrhundert ist er zu Hause. Karl Kraus war es, der das Wertvolle in Nestroys Oeuvre fanatisch verteidigte und ihn damit einer modernen Interpretation öffnete. Kraus hat viele sogenannte Zusatzstrophen zu den Couplets verfaßt und damit einen Weg aufgezeigt, wie man Nestroy „modernisieren“ darf. Ein solch richtiges Verständnis, in dem die Kraus-Schüler Torberg und Weigel großen Anteil haben, sollte bewirken, daß Nestroy überall im deutschsprachigen Theater der ihm gebührende Raum in den Spielplänen eingeräumt wird. Er soll besser auf hochdeutsch, mit kleinen, erlernbaren Austriazismen, gespielt werden als gar nicht. Er sollte auch mit „Glück, Mißbrauch und Rückkehr“ und mit „Heimliches Geld, Heimliche Liebe“ und vielen anderen ungeborgenen Schätzen zu Wort kommen anstatt immer nur mit der Fünfzahl seiner „klassischen“ Stücke.
Nestroy empfiehlt sich seiner Nachwelt zur Erneuerung, ohne Heiligenschiein und Komödiantengetue. Er stellt jeder nichtnaiven Auslegung offen. Nach hundert Jahren sollte man ihn endlich plündern. Sein vorgestrig befracktes Wien ist nur ein Gleichnis wie das Bühnenengland Shakespeares. Und er verdient wie Shakespeare, daß heutige Regieformen an ihm gemessen werden. nach oben

Gerhard F. Hering: Sie adressieren sich mit ein paar kniffligen Fragen zum Thema der „Nestroy-Inszenierungen heute“ an Regisseure, die, Umgang mit diesem Dichter hätten. Ich habe keinen solchen, werd’s wahrscheinlich auch nie dorthin bringen, fühl’ mich also beherzt genug’, Ihnen zu antworten. Auch erlauben Sie mir, bitte, vorauszuschicken, welche Regisseure Nestroyscher Szenarien in unsern Jahren ich als produktiv empfand: Axel von Ambesser, Bruno Hübner, Werner Kreindl, Leopold Lindtberg. Von Fehling und Hilpert sah ich nur Raimund, und ich weiß nicht einmal, ob sie je Nestroy inszenierten; wenn ja, so könnte es nur wunderbar gewesen sein.
Von Bruno Hübner war, als man ihm noch Gelegenheit gab, in München zu inszenieren, Nestroy deswegen so faszinierend zu sehen, weil er (in einem der wenigen Fälle, wo dergleichen legitim ist und schließlich von Nestroy selbst sanktioniert wird) auch die Szene betrat, die er in Szene gesetzt hatte. Und er schlenkerte dann so fadendürr und todtraurig aus den Gassen, die er nach den Nestroyschen Mustern eingerichtet hatte, daß man lieber gleich eher geweint als gelacht hatte. Auch brachte er alsbald mit, was Karl Kraus an Nestroy bindet. Und nun bemerke ich eben, daß ich doch noch einen Nestroy-Regisseur vergaß. Es ist Rudolf Fernau, jetzt im Ensemble des Schiller-Theaters Berlin. Seine trefflichen Aufführungen für die Württembergischen Staatstheater in Stuttgart liegen ein weniges zurück. Er pflegte – nun komm’ ich auf eine Ihrer Fragen – überhaupt nichts zu „modernisieren“. Er traute, es ist schrecklich, so etwas zu äußern, den Texten selbst. Er legte auch gar nichts ein. So im Sinne von: „actuelle“ Couplets. Er schien, stillschweigend, vorauszusetzen, daß Krähwinkel halt unsterblich ist. Und so verhält sich’s ja wahrscheinlich. Sollte ich eine Summe ziehen all dessen, was die hiermit nun genannten Regisseure (andere kenn’ ich leider nicht) – bewirkten, indem sie bei den Sachen blieben, so wäre es das, was auch ich mir, falls ich Nestroy zu inszenieren vermöchte, als eine Gebrauchsanweisung vornähme: Dynamit als Marzipan zu transportieren und die ziemlichen Mengen von Vitriol, als wären sie Tokayer.
Auch wurde, in diesem Fall vielleicht bei Bruno Hübner am schärfsten, das Verhältnis dieses welthaltigen Dichters zum Geiste der Sprache vorgeführt: eine Art pas de deux als corps à corps. Hier entstünde auch ein eher sich noch steigerndes Malaise: ein Publikum von heut’, das die Sprache weithin nur noch aus den Spruchbändern der comic strips entgegennimmt und aus den Sprachstummeln, deren man sich bedient, als wären es „Kippen“ aus der Gosse, ist schwerlich für diese Subtilitäten zu gewinnen. Diese Sprache, dort, wo ihr satirischer Rang vom Geiste des Aristophanes und Juvenal ist, bedarf, um entgegengenommen, und „kapiert“ zu werden, einer gewissen (geistigen) Anstrengung. Und wer will dergleichen denn heute schon. Ein vergleichbares Beispiel fände sich bei dem Grafen von Platen. Auch dessen Literaturkomödien kennen jene substantivische Potenzierung, die Aristophanes zum erstenmal für die Bühne in Gang gebracht hat. Im Sinne, beispielsweise, von „ich bin eine Schwertgeklirrische“ (wie Nestroys Jungfrau von Orleans meint). Und wer weiter läse, stieße noch auf mancherlei. Nicht nur im Verhältnis zum Substantivum, sondern auch zum Verbum. Hier hätten wir, könnte Gerhart Hauptmann mit den Märkern gesagt haben, den „wahren Jakob“ (vielmehr Johann Nepomuk). Und von dort her ließe sich rasch ein kleiner Seitensprung wagen. Zu dem prominentesten Nestroy-Bearbeiter unserer Jahre, einem gewissen Thornton Wilder („Die Heiratsvermittlerin“). Hier, wo über eine französische Vorlage ein Wienerisches in das Englische gehracht werden sollte, erwies sich, dass es unserem Verehrungswürdigen aus den Staaten eben nicht gelang, den Geist der Sprache so zu jonglieren wie Rastelli seine zwölf Teller. Deutlich wurde, dass Nestroy dort platt bliebe, wo wir nur seine Situationen nähmen und seine „Typen“ (wenngleich diese alle keine Typen sind, sondern „Charaktere“). Gemeint sind nicht die Veränderungen, die Wilder sich erlaubt hat, sondern jenes funkelnde Florettieren mit der Sprache selbst. Ein Reichtum, als käme noch aus dem Futter eines alten Mantels mindestens mehr als nur ein neues Gewand.
Die Situationen Nestroys dürfte jeder Regisseur am ehesten treffen. Und mit ein paar Strichen, wie sie sich verstehen, schnurrt dann der Automat. Aber auch nur dieser. Was dahinter liegt, das wäre es. So auch das Kostüm, so auch die Szene. Warum denn nicht „biedermeierlich“? Und warum denn nicht als: keine Parodie?
In summa: und so kämen wir denn zurück zu den Herren von Ambesser, Fernau, Hübner, Kreindl und Lindtberg – spielen, was ist, auch die Musiken, möglichst wenig Zusätze, am besten gar keine; jene Welt abbilden, die Nestroy abgebildet hat, denn sie ist auch in der Epoche der Satelliten identisch geblieben mit der seinen, insofern der Mensch so heut wie damals lacht und weint, ein Schurke ist und ein Frechdachs, ein Romantiker und ein Utopist.
Auf der Bühne unserer Phantasie wäre Nestroy dort als Welt im Sinne von Kosmos und Mundus „komplett“, wo seine Regisseure, vom Rang dieser hier, beides treffen: seinen geschwärzten, seinen geschmerzten Humor, seine Galle, seine Süße. Wer Nestroy inszeniert, macht sich ein schönstes Abenteuer allen Theater-Spielens: er geht aus wie jener im Alten Testament, der seines Vaters Eselinnen suchen wollte und ein Königreich fand. Er hat keinen Humoristen vorzuführen und keinen Spaßmacher, keinen Fabrikanten von Lazzi und keinen Parterre-Akrobaten für ein plattes Amüsierbedürfnis, sondern ... Sondern was? Das schmerzliche Lächeln eines gefallenen Engels und die Wehmut, einer vergeblichen Suche nach dem verlorenen Paradies. nach oben
 

Wie soll man Nestroy heute spielen? (2001)

Hans Dichand: Wie man Nestroy spielen soll? Wie er geschrieben hat. Vieles ist heute noch aktuell: Zum Beispiel „Amol möcht i so leben, wia i leb".

Franzobel: Die Frage der Wiener Bahnhofsbuffetisten ist, kommen die in den Zug Steigenden jemals zurück, und verkauft man ihnen deshalb richtigen Nestroy, oder kann man ihnen auch schlaffe, mit altem Schmäh und einem welken Witzchen gefüllte, verjährte Nepomuks so verpacken, daß sie noch Jahre später die Bahnhofs- und Theaterverbrecher in schlechter nestroyanischer Erinnerung haben? In Wien neigt man zu letzterem. Der österreichische Bahnhofstheater-Verbrecher erlebt sein Dasein als eine Unzahl kleiner Abschiede, als eine Unsumme an Johann, eine Unsumme an Tod. Aber mit den laschen Nestroys rächt er sich. So weiß er wenigstens, daß die Davongefahrenen, die dort sind, wo auch er in seiner Sehnsucht gerne wäre, es auch nicht besser haben, die lieblos zubereiteten Nestoys werden den Geflohenen an Österreich erinnern, speziell an Wien. Nach Anarchie, Sprachwitz, Gurkerl oder Senf wird er sich sehnen, den Bahnhofstheater-Gauner wird er wild verfluchen, und im Fluchen wird er glücklich sein, denn der Kitsch-Nestroy ist Österreich, rosa eingefärbtes Knochenmehl mit einer Prise Lipizzanerhuf, das Extra ist die Sehnsucht, der Katholizismus und der Tod. Nestroy wird mißbraucht. Wie aber ging es wirklich?
Eine der ersten Bemerkungen, die ich als Kind über Nestroy hörte, war ein trockenes Verbot. Es besagte, man dürfe beim Konsum seiner Stücke kein Pedal verwenden, denn zu Lebzeiten des Autors sei das Fahrrad noch gar nicht erfunden gewesen, und somit sei sein Gebrauch nicht zu rechtfertigen. Ich war verblüfft, Nestroy und Fahrrad waren für mich so untrennbar miteinander verbunden wie Johann und Nepomuk. Natürlich hatte ich keine Antwort auf einen derart plausiblen Schmafu und versuchte lange, im Glauben, Nestroy jetzt richtig zu verstehen, auf das Pedal zu verzichten und alle sich ergebenden Sättigungsprobleme wohl oder übel durch geschicktes Lufttreten zu meistern. Spaß machte es aber nicht.
Erst viel später erfuhr ich, daß Nestroy eigentlich auch keinen Kühlschrank besessen und gefrorene Lacher von Hand aus aufgetaut hatte, was sich durchaus mit den heutigen Konservenlachern vergleichen läßt. Doch es kam noch besser, und wiederum dauerte es Jahre, bevor sich mein Kenntnisstand erweiterte. Denn ich hatte in meiner mit Landestheater verseuchten Jugend noch keinen Zugang zu dem, was sich in Form verdauungstechnischer Fachliteratur mit Fragen der Transpiration, der Darmwinde und des Lufttretens befaßte, und so war ich auf die oft etwas zufälligen, gelegentlich widersprüchlichen Gymnastiken diverser Regisseure angewiesen oder machte mir meinen Reim auf das, was ich von hyperventilierenden, Hansi rufenden Zuschauern sah.
Schon wenig später bekam ich eine ganze Reihe Nestroy-Stücke, vor allem Hanswurstiaden und Anarchismen aus beiden Teilen des danubischen Welttheaters, wobei ich mich über das Pedal- und Kühlschrankverbot eigenmächtig hinweggesetzt hatte, da es mehr hinderte als half. Ja, ich ging sogar noch weiter und führte Kicherschlitze, Spaßfalten und Lochgrinser ein. Hätte man mich seinerzeit aber gefragt, was denn eine richtig bereitete Partie Nestroy eigentlich sei, hätte ich mit der größten Selbstverständlichkeit behauptet, dass die Welttheaterhaftigkeit Nestroys eben in der österreichischen General-Phantasmagorie läge, deren Vorzüge beim Wechsel in die entlegensten Aggregatzustände der Gstetten-Pionier Nestroy als erster erkannt und vollzogen hätte. Die Legitimation des Infantilen.
Nestroy selbst war ja schon von seiner Biographie her ein Beispiel für vollzogene Assimilation: Sein Großvater, Frantisek Nestrui, dreimaliger Teilnehmer der Fridatten-Olympiade, lebte in Komerov bei Troppau, konnte aber seinen begabten Sohn Johannes zum Knödelstudium nach Wien schicken. Der studierte aber Pseudonyme, seinen Johannes und heiratete die gashaxerte, aber aus angesehener Hauseigentümerfamilie stammende Maria Magdalena. Damit nicht genug, ließ er auch noch den ehrwürdigen Familiennamen in das Phantasiewort Nestroy abändern, weil es ihn angeblich an ein patschertes Küchenmensch erinnerte. Soviel zur Nostalgie.
Nestroy selbst in seiner Angst hatte, so sah es die Zensur-Forschung, durchaus nicht die heute üblichen Suppenteller der Donaumonarchie verwendet, sondern eine spezielle, seinen individuellen Bedürfnissen angepaßte janusköpfige Blechbüchse, die ihm eine freie Modulation zwischen Schlürfen, Saugen und Zuschpeln im österreichischen Bewußtsein erlaubte. Da Nestroy seine halblustige Trinkweise aber stets eigenmündig mitbrachte und sich hierbei nur auf das eigene, noch nicht erfundene Fahrrad verließ, läßt sich heute kaum noch sagen, welche der grimassentechnischen Möglichkeiten er tatsächlich nutzte. Nestroy bleibt ein Rätsel.
Da sich Nestroy stets komplexer als gedacht und die johannitischen Kochbücher stets ungenauer als gewünscht erwiesen, hätte es Jahre des verdächtigen Umgangs in Ottakring, vielleicht ganzer Häfn-Sitzungen in der Karlau bedurft, allein die Versumpfungen in den nestroyschen Tisch- und Bettmanieren auszuführen, mich in die heiklen Konsistenzfragen oder in Fragen der Temperierung einzuarbeiten oder zu klären, wie viel Zuspeis der Kammerton seinerzeit tatsächlich hatte. Über all das und mehr gab es gewaltige Pollutionen von Literatur.
Je mehr ich aber aß, umso mehr Seitenstränge eröffneten sich und umso unverdaulicher wurden die Probleme, die kaum je einer Lösung zustrebten und in die erhoffte Eindeutigkeit mündeten, sondern deren Tücke eher eine stetige rhizomatische Verschlingung war. Jede Portion schuf zwei neue, jeder Wurstel einen Schlingel. Statt mich von Nestroy zu nähren, hungerte ich immer weiter, und fühlte mich unwohler und elender, wenn ich bedachte, daß irgendwer, vielleicht gar eine kakanische Kapazität, anderer Speisefolge war als ich, und gerade von dem strikt abriet, was mir gerade schmeckte.
Zwar wollte ich mich nicht ganz so pragmatisch verhalten wie jener blade Kapazunder, mit dem ich mich einst über das Versuppte bei Nestroy unterhielt und der den Streit der Gelehrten kurzerhand mit der entwaffnenden Frage entschied: „Wissen Se, wie vül Kronkheitn der Nestroy ghobt hod? – Und der Mon soil kane Suppn gkennt hobn? Oiso."
Nie konnte ich mir vorstellen, daß ein gewürzter, schöpferischer Mensch wie Nestroy den Wunsch hätte haben können, die Verzehrer seiner selbst auf eine unbetretbare pedallose Kochart festzulegen. Im Glauben an seinen Schwitz darf man unterstellen, daß er eine andere, verschnitzeltere Form der Betäubung seiner selbst gefunden hätte, wenn er sich stärker hätte bestauben wollen. Aber Nestroy, soviel ist sicher, hatte nichts gegen Körpersäfte, Bahnhofsbuffetisten oder Panier.
Dies bedeutet nicht notwendig, mit jedem Nestroy etwas völlig Ungemütliches zu machen, obwohl natürlich auch dies möglich ist. Es kann ebenso gut eine sich über Jahre erstreckende Detailarbeit bedeuten, die für den Außenstehenden kaum mehr wahrnehmbar ist. Allemal heißt es aber, das Nestroybild mit den eigenen Körpersäften in Einklang zu bringen. Nestroy, so meine Conclusio, kann man sich nicht erarbeiten, allenfalls kann man zu ihm ernannt werden. Davon lebt Nestroy noch heute.
Versucht man indes, Geschmack abzulösen von dem Augenblick, in dem er entsteht, ihn der Erneuerung zu entziehen, wird man bald die Erfahrung teilen, von der mir einmal ein weltgeschichtlich Schasaugerter aus seiner Kindheit erzählte. Er hatte sein Taschengeld gespart und endlich genug beisammen, um sich ein Moped zu kaufen. Und da er als Erstes das Gemeinste, das er kannte, überfahren wollte, fuhr er sein Kinderfahrrad tot. Weil Nestroy und Pedale, das ist nichts. nach oben

Josef Hader: Vielen Dank für die Anfrage. Im Namen von Josef Hader leite ich Ihnen seine Antwort weiter, die da lautet: „Keine Ahnung." Wir hoffen, Ihnen damit geholfen zu haben.

Elfriede Jelinek: Sich mit der Sprache spielen
Nestroy ist ein verspielter Autor, glaube ich, er spielt sich (ja: sich!) mit der Sprache, in die er sich einmal hineinbringt und dann wieder herausnimmt. Er zwängt sich hinein, schmeißt ein bissel mit den Worten und Sätzen herum, dann läßt er sie wieder fallen, und dann sagen sie ohne Umschweife: was los ist. Was sich irgendwo losgerissen hat. Es treten Zauberer auf, die sich verzaubert haben (nicht sich selbst, sondern die einen Zauberfehler gemacht haben oder gar keine richtigen Zauberer sind), egal, ihre Tricks funktionieren jedenfalls nicht. Und es treten Spieler auf, die sich verspielt haben, und es treten Spekulanten auf, die sich verspekuliert haben. Und die Luft ist nicht immer so wie sie sein soll, sagt der Zauberer verlegen zu den Vorhaltungen, die ihm gemacht werden, weil er das fesche Mädel nicht durch die Luft hat daher fliegen lassen können. Wie ungeschickt von mir, nicht einmal eine einzige Replik kann ich wiedergeben, ich müßte sie denn schon abschreiben. Aber wenn ich wiedergeben will, was gesagt wird, werde ich, nicht nur aus Unvermögen, sofort sehr umständlich. Man könnte sehr viel darüber sagen, warum das so ist, natürlich in erster Linie deshalb, weil die Sprache sich selbst spricht und mit sich selbst spricht, und wenn ihr ein andrer dreinpfuscht, dann zieht sie sich sofort wieder in ihr Häusel zurück: Machen Sies halt besser, Sie werden schon sehen, daß es ohne mich nicht geht. Es geht wirklich nicht. Man kann Nestroy, glaube ich, nur erklären, indem man sagt, daß er sagt, was er sagt. Und diese Sprache denkt ja gleichzeitig ihre Voraussetzungen mit, sie schreibt sie mit, aber sie problematisiert sie nicht, sie sagt sie. Sie entwickelt sich aus sich selbst, in einer eigenen Art Logik, die in keiner Metaphysik, Religion, nicht einmal in einem Materialismus gründet, sondern eben: ist was sie ist und immer weiter, spielerisch, entwickelt, was die ganze Zeit schon da ist und gar nicht entwickelt zu werden braucht. Und indem etwas sich im Fortschreiten eines Theaterstücks entwickelt, ändern sich seine Voraussetzungen und Folgen und bleiben gleichzeitig gleich. Man kann nicht sagen, daß Nestroy ein fortschrittlicher Dichter sei, und man kann nicht das Gegenteil davon sagen. Ich glaube, das ist es: Fortschritt, indem er sagt was ist, es damit aber auch festschreibt. Gemeint ist was gesagt wird und das Gesagte gleichzeitig. nach oben

Inge Konradi: Vorbemerkung: Ich habe schönste Erinnerungen an die Nestroyrollen, die Josef Meinrad gespielt hat und an Leopold Lindtberg als Regisseur.
a) Wie man ihn nicht spielen sollte:
Als leichte Muse, als Klamauk, als Leichtgewicht.
Nicht mit Zynismus, das wäre Abwehr, die man bloß anzieht wie eine Jacke oder einen Handschuh.
Nicht einseitig. Zeigen Sie nicht nur das Ziel! (Der Weg dahin ist das Entscheidende) Nestroyfiguren sind keine ,Wurschtel’.
b) Was erstrebenswert ist:
Zeigen Sie von den einzelnen Figuren die Wesenszüge und Hintergründe; alle sind loyal und gläubig. Der Witz entsteht aus Enttäuschung; entdecken Sie den Mutterwitz der Figuren und Darsteller.
Alle Figuren haben Wunden und werden lebendig im Heilungs- und Reifeprozess.
Der Bogen der Nestroyrollen darf nicht zu kurz und zu selbstverständlich sein, die Schicksalsschläge muß man verstehen können.
Zeigen Sie Traurigkeit und Weisheit: Nestroy ist ein Dichter und Philosoph. Jede Pointe ist wie eine Wiege – sie wird angestoßen, kommt zum Punkt – geht weiter oder kehrt um.
Nachbemerkung: Wenn Sie Nestroy spielen, dienen Sie nur dem Dichter – und nicht einem Regisseur. nach oben

Karl Ferdinand Kratzl: Beim Wort „Nestroy“ steigen mir die Grausbirnen auf. Ich hasse ihn, weil ich seine Erben hasse. Weil ich ihn liebe und dringend brauchte als giftig süßes Lebenselexier. Bitter und süß voll von Stechapfel und Kandiszucker.
Das Biedermeier hängt uns von Kindheitstagen in den Eingeweiden. Diese verfluchte Sehnsucht nach Lieblichkeit. Wenn wir es zerbrechen, töten wir die Naivität der Zuschauer und auch die simple Dramaturgie dieser Lustspiele. Es muß etwas davon bleiben. Aber wie? Lust! Lust! Nicht Spaß! Nicht Hirnwixerei.
Schauen wir uns die Geschichten der Stücke an. Machtstrukturen. Seltsame erotische Verstrickungen, bei denen die Frau aus einem platonischen Wixhefterl der guten alten Zeit entnommen ist. Und die Stücke sind zu lang. Ein voller Nestroy-Abend muß fad sein, heutzutage. Deshalb ratscht man die Monologe hinunter, oder als Volksliebling in den Balkon hinauf, so daß nur mehr Virtuosität überbleibt. Und ein gigantischer Schlußapplaus.
Die Virtuosität ist gut. Ich staune auch gern, aber es braucht die Kunstfertigkeit der Anarchie, die Verheiratung mit den dämonischen Kräften. Ein Nestroydarsteller sollte zumindest drei Selbstmorde verübt haben, bevor er sich auf die Bühne wagt. Und gerade deshalb kann er dann die alten Weiberln im Abonnementpublikum lieben. Wer geht denn zu Nestroy: Schüler, Verurteilte also, und lebenslange Pensionisten. Die Zitate sind zu „Sagern“ degeneriert. Wer bleibt hungrig?
Ich empfehle daher rücksichtslos zu streichen und Fremdzitate einzubauen. Im Dialog und nicht in den verhatschten Couplets. Die Couplets sind aus dem Museum und dort auch gut. Aktualisierungen besser in den Dialogen und Monologen. Nur nicht brav sein. Staatstheater vertragen Hanswurstiaden.
Sicherlich wollen wir unsere Heimat wiederfinden. Nestroy als Operette für Heimatlose. Aber es gibt die große Sehnsucht nach existenzieller Wahrheit, die man nicht im Schnörksel (=Verzierung) findet, sondern in der Absicht hinter dem Schnörksel.
Fazit: Der zuschauende Mensch braucht eine schreckenserregende Kurzweiligkeit, die was sich nicht durch Hinundhergeschuppse realisieren laßt. Die Fraglichkeit von eitlen Kammerschauspielern muß zur Fraglichkeit des inneren Schweinehundes werden. Ich bin auch nicht anders, als der da auf der Bühne, aber das erzeugt mehr Schrecken als Behaglichkeit.
Ich hasse Nestroy, weil man ihn mir schlecht serviert. Ich liebe Nestroy, weil ich ihn mir aus seinen Sprachtiraden herausdividieren kann. Mehr Rotz! Mehr Zerstörung des ewig-neuen Metternichs. Und vor allem eine Hochzeit mit dem Unbewußten.
Alle Mitteln der Verführung sind erlaubt. Denn unterirdisch san ma alle verwandt. nach oben

Helmuth Lohner: Sie stellen mir die wohl komplizierteste Frage der letzten Zeit. Man könnte diese Frage ausdehnen auf: „Wie soll man Goethe, Schiller und – vor allem – Shakespeare spielen?"
Ich hatte mit Nestroy immer nur ein Problem: Wie löst man diese äußerst schwierige sprachliche und gleichzeitig komödiantische Aufgabe? Mein Prinzip war immer, daß es sich bei all seinen Stücken um keinen Wiener Dialekt handelt, sondern daß man die Verpflichtung hat, seine Bilder, seine Wort-Schöpfungen, seine skurrilen Situationen etc. klar zu transportieren. Da ich mich mit diesem Phänomen ein ganzes Schauspielerleben hindurch beschäftigen mußte, war mir alles andere eine ziemliche Nebensache.
Ich kann, wie Sie sehen, unmöglich Ihre Frage präzise beantworten und glaube auch, daß es keine wirklich grundsätzliche Antwort geben kann. Ich hoffe, Sie entschuldigen meine kärgliche Antwort, doch sie ist wenigstens ehrlich und ohne philologische Wichtigtuerei. nach oben

Richard Lugner: Johann Nestroy ist einer jener österreichischen Dichter, der dem Volk „aufs Maul“ schaute und viele seiner Texte sind auch heute noch gültig. Da Nestroy natürlich ein scharfer Kritiker war, sollte man – wenn man die richtigen Texte hat – durchaus aktuelles, zeitkritisches Material in seine Stücke einbauen, aber die ursprünglichen Texte möglichst unverändert lassen.

Wolf Martin: Meine Antwort: gut.

Walter Nettig: Bezeichnenderweise bereitet Nestroys Werk heute noch so manchem Kopfzerbrechen und läßt die Literaturprofessoren wohl noch viel mehr zu Zerrissenen werden als die schlimmen Buben in der Schule: Die Frage, wie seine Werke zeit- und autorengerecht auf die Bühne gebracht werden sollten, ist eine strittige.
Gerade die Änderung der bissigen Couplets, deren Anpassung an die jeweiligen Umstände, der ständige Bezug auf aktuelle Skandale und Mißstände waren schon zu Nestroys Zeiten Programm und Nestroys Erfolg mitbegründend. Nicht die möglichst textgetreue Inszenierung ist die ultimative Forderung, die der Verfasser an Regisseur und Dramaturg stellt: Ihr Geist darf nicht verloren gehen. Der Wortwitz, die Sprachbeherrschung waren besonders zu Nestroys Zeit ganz und gar nicht unbedeutend, im Gegenteil. Denn der Autor der ironischen Zeilen wollte mehr, als nur einen Jux sich machen. Was notwendig war, wurde zur Kritik gestellt, was überflüssig war, noch viel mehr. So offen, wie es die früheren Verhältnisse zuließen. Vor Titus Feuerfuchs und Co hatte wohl so mancher – zu ebener Erde und im ersten Stock – Höllenangst. Daß es auch heute so sein sollte, steht groß und deutlich zwischen den Zeilen von Nestroys Dramentexten geschrieben, die Rufzeichen hinter dieser Forderung sind für aufmerksame Leser unübersehbar.
Der Geist Nestroys, der seiner „Possen mit Gesang" und seiner Couplets, der ganz gewiß kein böser war, lebt bis heute fort, nicht zuletzt in dem nach ihm benannten Ring: Die Preisträger Josef Hader, Gustav Peichl und Reinhard Tramontana etwa, um nur einige von ihnen zu nennen, bemühen sich redlich darum, es ihm gleichzutun. Was ihnen nicht selten ausgezeichnet gelingt. Und das ist gut so. Denn ohne kritische Köpfe, die ihre Meinung pointiert ausdrücken und so manchem unverhofft auf die Zehen steigen, gäbe es wohl bis heute keine Freiheit in Krähwinkel. Oder nimmer mehr lang. nach oben

Otto Schenk: Gut.

Werner Schneyder: Wider die Anbiedermeierei
Mein Nestroy-Bild ist das des armen Theaters. Alles, was die Ästhetik der direkten Herstellung der Szene übersteigert, besonders in Richtung des Putzigen, oder auch Ironisierenden, ist mir zuwider. Bild und Kostüm sind Hintergrund und Untergrund von Figuren. Die Handlung ist meist deren Vorwand, die genial verzerrten Menschen sprechen zu lassen. Den Text eines der größten und originellsten Sprachkünstlers der Weltliteratur. Jedes komödiantische Austoben der Mimen, das nicht von Sprache und Situation erzwungen ist, ist von Übel. Es lenkt ab vom Wortsinn, daher von Hohn, Entlarvung, Lebensphilosophie.
Weil es um die Sprache geht, ist das Vermeiden des Wiener Dialektes von entscheidender Wichtigkeit. Man muß die Kunstsprache Nestroys vom Blatt spielen. Da sie sich vom Wienerischen ableitet, bedarf es in den meisten Fällen – jedenfalls in Wien – der Schauspieler mit süddeutscher Zunge. Aber die gängige Praxis, die eigenwillige Sprache des Nestroy weiter einzuwienerln, mit einer verlogenen lokalen Authentizität zu kokettieren, gehört gebrandmarkt und verfolgt. Was – wie man weiß – nicht der Fall ist. Eher das Gegenteil.
Wenn Nestroy-Inszenierungen die totale Übereinstimmung mit dem Publikum suchen, wenn ,Publikumslieblinge’ alle ihre Manierismen und Unarten in jeweils einer Rolle bündeln, um das Abonnement geschlossen zu entzücken, dann fällt für mich der Vorhang. Nestroy ist Satiriker, der Komödienfolien benützt. Es muß gelacht werden, aber wie bei jeder großen, treffenden Satire setzt sich das Lachen auch aus dem der sich Wehrenden, der Ertappten, der Verlegenen zusammen. Es ist nie nur das kollektive Lachen der Auch-dieser-Meinung-Seienden.
Dem gesellschaftskritischen Angriff dient vor allem das Couplet. Es wegzulassen – wie kürzlich geschehen – bedeutet Kastration, ist Ausdruck der Totalverkennung des Dichters. (Möglicherweise in guter Absicht.)
Für mich dürfte jeweils nur die erste Strophe im Original gesungen werden, als Einstieg in den bestimmenden Schlüsselsatz. Ab dann muß das Couplet aktuell sein. Wobei ich mich der vergessenen Forderung des Hans Weigel anschließe, zwar jede Tagesaktualität zu verwenden, aber nie Worte zu brauchen, die es zu Nestroys Zeiten nicht gegeben haben kann. Soll heißen, man kann eine Strophe über Computer singen, über Weltraumstationen usf., man muß aber Sprachformeln finden, die den aktuellen Gegenstand klar definieren und doch der Nestroyschen Sprachbildmethode nahekommen. Das ist schwer. Daher sind auch die meisten „Zusatzstrophen" mies. Man merkt das auch daran, daß sie zu oft allgemeinen Beifall finden, keineswegs der einen oder anderen Gruppierung im Publikum zu weit gehen, wehtun, zum Widerspruch reizen. Das allgemeine „Genausoisses"-Gefühl deklassiert jede Art von politischer Satire.
Ich neige zur Unterstellung, die meisten Nestroy-lnszenierungen sind so harmlos, weil man (unbewußt) die als groß angesehenen Neinsager der Gegenwart aufwerten möchte. Aber nicht einmal dann halten die den Vergleich aus. Nestroy, nicht zur Anbiedermeierei mißbraucht, ist der Größte.
Wie soll man ihn heute spielen? Laufend. nach oben

Otto Tausig: Was soll ich, ein Gestriger, zu „Nestroy heute“ sagen. Gibt es doch keine ewig gültigen Meinungen. Und schon gar nicht beim Theater. Immer haben die Gestrigen gefunden, daß das, was die Heutigen machen, keine Kunst sei.
Ich mit meinen 79 Jahren glaube halt noch immer an Kortners Diktum: „Das Rendezvous ist zu spielen zwischen der Entstehungszeit des Stückes, der Zeit in der es spielt und unserer Zeit, deren Licht sein Gewebe durchleuchtet und das noch Lebensfähige vom Abgestorbenen absondert.“
Ich meine, daß der „Talisman“ heutig inszeniert ist, wenn der Zuschauer nicht umhin kann, an die Vorurteile gegen die ausgegrenzten Minderheiten von heute zu denken.
Ob es genügt, den Titus in Blue Jeans auf Inline-Skates auftreten und die Couplets von einer Rock-Band neu vertonen zu lassen, scheint mir fraglich. nach oben

Peter Turrini: Über Johann Nepomuk Nestroy
Ich glaube, Nestroy war ein Mensch, der an nichts glaubte. In seiner Jugend hat er es mit der großen Oper und mit der großen Liebe versucht, an beidem ist er gescheitert. Er wurde lächerlich, die Leute lachten über ihn, und irgendwann hat er diese Rolle angenommen. Ich glaube nicht, daß wir irgend etwas freiwillig werden, wir nehmen früher oder später jene Rolle an, für die wir angenommen werden.
Er war kein Revolutionär, er war kein Opportunist, er war kein Humorist, er war ein Mensch im freien Fall, der sich an nichts festhalten konnte und dabei den schärfsten Blick gegen alle und alles entwickelte, auch gegen sich selbst. Die meisten Menschen ertragen diesen Zustand des Fallens nicht, sie versuchen, sich an etwas festzuhalten: an der Religion, an einer Ehe, an einem Vermögen, an Ehrungen. Woran immer sich Nestroy festhielt, es entglitt ihm, er fiel weiter, und es entfuhren ihm dabei die bösesten Witze, die grandiosesten Texte. Nicht einmal als Stückeschreiber konnte er sich ernst nehmen, seine Literatur sollte ihm nur Geld bringen und die Leute zum Lachen.
Sein Biedermeierpublikum lachte und war doch angewidert von einem solchen Menschen. Wenn Nestroy eine blühende Blume sieht, sagten sie in Wien, so denkt er an Verwelkung und Gestank. Als er am Ende aufschlug und hin war, vergaßen sie ihn.
Fünfzig Jahre später holte ihn Karl Kraus, der ihm so ähnlich und so nahe war, wieder aus der Versenkung. Und seitdem bedient sich jeder am auferstandenen Dichter. Nach dem Kriege speiste er das Wiederaufleben des Biedermeierkitsches auf Wiener Bühnen, wurde der Repräsentant des Österreichischen schlechthin und nährte und nährt ganze Generationen von Germanisten. Fallweise reklamieren ihn die Revolutionären für sich.
Wie man ihn heute spielen sollte? Ich weiß es nicht. Ich habe unlängst eine Inszenierung von Karl Welunschek gesehen, die hat mir gefallen. Welunschek hat die schlampige, aberwitzige und manchmal auch blöde Dramaturgie der Nestroystücke offensichtlich gemacht. Doch gleichzeitig jagen die Figuren mit ihren sprachmächtigen bösen Sätzen die bestehende Welt in die Luft. Nichts hat vor diesen Wortwaffen Bestand, alles zerfällt und fällt. Daß am Ende doch noch alles gut ausgeht, ist schlechte Dramaturgie oder geniale Ironie. nach oben

Georg Zanger: Betr.: Bearbeit. v. Theaterstücken
Zu Ihrer Anfrage darf ich wie folgt Stellung nehmen: Auch wenn Werke von Nestroy nicht mehr in den Schutzbereich des Urheberrechts fallen, erscheint es mir doch wichtig festzustellen, daß bei jeder Veränderung eines Werkes Urheberpersönlichkeitsrechte beeinträchtigt werden.
Das Selbstverständnis, in dem heute Regietheater verwirklicht wird, das nicht nur Kürzungen vornimmt, sondern sich auch nicht scheut, Texte zu ergänzen oder neue Texte hinzuzufügen und das gesamte Theatergeschehen in eine andere Zeit überträgt, ist für mich der Beweis eines Defizits an Eigenkreativität zur Schaffung eigener Stücke. Die Tatsache, daß Werke der Klassiker weiter aufgeführt werden, zeigt, daß es sich um besonders hervorstechende Autoren handelt, die wegen ihrer Kunst geschätzt werden. Es ist vermessen, die Meinung zu vertreten, ein Regisseur könne ein besserer Shakespeare, Nestroy oder Goethe sein und wisse daher besser, wie er das Werk wiedergeben kann als der Autor selbst. Die Täuschung des Publikums geschieht dabei durch die Verwendung der Originaltitel und einen uneingeschränkten Bezug auf den Autor, so als wäre das bearbeitete Stück so vom Autor geschaffen. Meines Erachtens nach müssten Zuschauer ihr Geld zurückbekommen, wenn ihnen statt Nestroy eine Bearbeitung vorgesetzt wird. Selbstverständlich steht es jedermann frei, eigene Werke zu schaffen oder Werke von Klassikern als Bearbeitung herauszubringen. In diesem Fall gebietet es aber der Respekt vor dem genialen Autor, bereits im Titel auf die Bearbeitung hinzuweisen. nach oben
 

 

 

 

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